Donnerstag, 31. Dezember 2009

Tatzenabdruck in Marzipan

Wieder zu Hause. Ich dachte, das Jahr sei bereits um. Weihnachten sei um. Keine Geschenke mehr, keine Post. Nur noch letzte Einkäufe kurz vor Ladenschluss. Frische Milch und frisches Brot. Mehr brauchen wir tatsächlich nicht.
Dann klingelte der Briefträger und drückte mir ein Paket vom Ohrenbär in die Hand. Der Ohrenbär kommt allabendlich mit seinen "Radiogeschichten für kleine Leute" aus dem Äther in meine Küche. In Berlin kam er jeweils um 19.20 Uhr. Der RBB schickt seine kleinen Leute rechtzeitig zu Bett. Der NDR ist gnädiger und sendet erst um 19.50 Uhr. Er organisiert auch jedes Jahr den "größten Adventskalender Norddeutschlands", das OHRENBÄR-ADVENTSKALENDER-RÄTSEL. Die kleinen Leute im Norden sammeln 23 Tage lang im Dezember Buchstaben. In diesem Jahr lautete die Rätselfrage: womit verziert der Ohrenbär alle Geschenke für seine Freunde? Die richtige Antwort: mit TATZENABDRUCK IN MARZIPAN.
Ich schickte sie an Weihnachten per mail an die Ohrenbär-Redaktion. Mit dem Zusatz, dass ich mir trotz meines Alters und Geschlechts nicht vorstellen könne, wie der Ohrenbär dies bewerkstellige. Der Ohrenbär hat mir diese alttantenhafte Bemerkung nicht übel genommen. Der Ohrenbär ist fair. Der Ohrenbär hat mich ausgewählt als Gewinnerin meiner Altersklasse. Der Briefträger brachte mir heute den Preis: "Laura und der Silberwolf" von Antonia Michaelis. Ein Buch, wie auf dem Buchdeckel zu lesen ist, das man bis zur letzten Zeile nicht mehr aus der Hand legen möchte.

Mittwoch, 30. Dezember 2009

A Travel Log 3

Schnee in Berlin. Wie in Meldorf auf dem Rathausplatz gibt es auch in Berlin am Potsdamer Platz eine Rodelbahn. Mit Kunstschnee, obwohl Naturschnee gerade unaufhörlich vom Himmel fällt. Wie in Liestal, wo es einen Emma Herwegh-Platz gibt, gibt es auch in Berlin eine Emma Herwegh-Straße. In Liestal befindet sich der Platz vor der neuen Kantonsbibliothek, direkt hinter dem Bahnhof. In Berlin führt die Straße direkt auf den Hauptbahnhof. Wir sind sie heute zweimal mit unserem Gepäck abgeschritten. Beide Male durch tiefen frischen Schnee.
Emma Herwegh war wie ihr Mann eine Reisende und Schreibende. Wie ihr Mann ist Emma Herwegh in Liestal begraben - in Sichtweite meines Vaters.

Hier die Grabplatten-Inschriften sowie andere Informationen zu den beiden Liestaler Ehrenbürgern:
http://www.georgherwegh-edition.de/9.html

Hier eine kurze Info aus Berlin zu Emma Herwegh
http://www.berlin.de/ba-mitte/bezirk/gedenken/emma_herwegh.html

Dienstag, 29. Dezember 2009

A Travel Log 2

Wir benehmen uns wie zu Hause. Umkreisen das Engelbecken, bedauern die Baustelle anstelle des Cafés. Umkreisen unsere ehemalige Wohnung. Licht brennt und Vorhänge hängen. Wir linsen tatsächlich am Klingelschild. Da steht derselbe Name, der auch in der Verkaufsurkunde steht. Wir sind beruhigt, setzen uns in den Kuchenkaiser und halten Hof. Die Männer kommen im Doppelpack: zwei Wolfgangs, zwei Kläuse, zwei Michaels - und der Dritte steht nach wie vor als Erzengel nachts erleuchtet auf dem Glockenturm der Ruine der Michaelkirche am Engelbecken. Die Frauen sind einmalig, unverwechselbar und biblisch: eine Maria, eine Hildegard, eine Sonja, eine Rosita, eine Judith. Auf dem Heimweg - spätnachts wie immer in Berlin, es ist eisigkalt wie immer in Berlin, wir bewegen uns auf einem eingefrorenen Trampelpfad wie immer in Berlin - gehen wir noch zum zweiten Kaiser. In den Laden, in dem wir immer einkauften. Der jetzt, im Gegensatz zu früher, bis Mitternacht geöffnet ist. Wir kaufen lauter Unsinn. Nur um uns heute noch einen allerletzten Moment der Illusion hinzugeben, wir wären nie weggewesen.

A Travel Log

Wir benehmen uns wie Touristen. Lassen uns widerstandslos von der Rezeptionistin einen Stadtplan geben, auf dem sie den Dom, die Linden und Checkpoint Charlie mit einem blauen Kugelschreiber einkreist. Wir gehen zu Fuß. Das war früher, als wir noch in Berlin lebten, verpönt. "Man geht nicht zu Fuß und ist nie müde". Meine beiden ersten Berliner Lektionen. Wir frühstücken zum ersten Mal im Leben am Gendarmenmarkt. Der Weihnachtsmarkt ist noch in vollem Gange. Gegenüber vom Stammhaus Lutter & Wegner entdecken wir einen schmächtigen E.T.A. Hoffmann im Gebüsch. W. weiß, warum er hier steht, sieht aber den Winzling auch zum ersten Mal. 1815 rief Hoffmann mit dem Schauspieler Ludwig Devrient im Weinkeller von L&W das Wort "Sekt" ins Leben. Mein Berliner Ehemann weiß noch mehr: Dass sich seither die Berliner in den Haaren liegen, ob der Name von Hoffmanns Saufkumpel Französisch, Deutsch oder Berlinerisch auszusprechen sei. Wir wollen zur Zimmerstraße 90/91. Dazu müssen wir tatsächlich über den Checkpoint. Um in Sun-Jun Kims elektroakustischen Kompositionen und Klanginstallationen den Weg nach Hasla zu finden. Welcome to Hasla heißt das Projekt, an dem der DAAD-Stipendiat in Berlin arbeitet. An der Zimmerstraße präsentiert er noch bis übermorgen vier Klanginstallationen unter dem Titel A Travel Log: From Fwarrheu to Hejning. Damit sucht der koreanische Komponist "Wege nach Hasla", wie es im Begleittext heißt. Hasla sei "eine fiktive Gegend, deren Existenz sich uns einzig durch die Klänge und Artefakte erschließt, die aus diesem imaginären Land mitgebracht wurden, und durch die mitgeteilten Erlebnisse eines Reisenden, der Hasla angeblich durchquert hat." Wir öffnen unsere Seelen diesem verstörenden Ort. Die Ohren zu öffnen, ist fast hoffnungslos. Dieser Ort ist leise, wie kaum etwas anderes in unserer Welt. In meinem Kopf ist "Hasla" der polnische Plural zu "hasło" (=Stichwort, Schlagwort) und gehört als handschriftliche Tinteneinträge in die Holzkarteikästen der Krakauer Jagiellonenbibliothek. Dann besuchen wir den leeren Schlossplatz und verinnerlichen uns Kims Klanginstallationen unter freien Himmel, im freien Feld, mit nie dagewesener freier Sicht auf die Spree: "In tune, out of tune". Kim nennt sie "Ortsbewusstseinserkundung". Er bat 60 Berliner verschiedenen Alters, ihm ein Lied vorzusummen, das sie an die eigene Kindheit erinnert. Entstanden ist daraus eine 17 Minuten lange 8-Kanal-Ton-Komposition, strukturiert mit Glockenklängen zu musikalischen Sätzen - eine wahre Symphonie "versteckten Frohsinns" (O-Ton Folkmar Hein, ehem. Leiter des Elektronischen Instituts der TU Berlin). Sehr empfehlenswert, noch bis zum 31.1.2010, von 8 bis 22 Uhr jeweils zur vollen und halben Stunde, aus 8 Lautsprechern auf der Banklinie zwischen Berliner Dom und Hochschule für Musik Hanns Eisler.

Montag, 28. Dezember 2009

The Limits of Control

Wir sind in Berlin. Es gibt einen Film, der hier auf uns gewartet hat. Sagt W. und führt mich, als es längst stockfinster ist und das bucklige Pflaster gefährlich zu überfrieren beginnt, an die Kastanienallee in den Lichtblick.


Donnerstag, 17. Dezember 2009

Schneeschaufeln

Es hat geschneit in der Nacht und W. schaufelt in der Früh die Zugänge zu unseren Haustüren sowie einen Gehweg rund um unsere Häuser frei. Am Mittag ist alles wieder zugeschneit.
Eigentlich gibt es keinen Grund, den Schnee wegzuputzen. Er ist schneeweiß und unschuldig.

Mittwoch, 16. Dezember 2009

Selbstreinigungsmechanismen

Es ist Winter geworden an der Nordsee. Kalt und Klar. Heute mit eisigem Westwind. Also auflandig. Trocken. Gutes Wetter für ausgedehnte Spaziergänge, solange es hell ist. Soll die Selbstreinigungskraft des Hirns stärken.

Ich nehme, wie gesagt, die Wörter dort, wo sie mir zufallen. Oder auffallen. Gestern las ich den Satz "Herr Priklopil war sehr auf Hygiene bedacht." Mich verblüffte dieser Satz. Ich kenne diesen Mann nicht. Wahrscheinlich kennt ihn niemand. Aber dass jemand, der ein zehnjähriges Mädchen entführt und über acht Jahre lang im Keller seines eigenen Hauses gefangen hält, an Waschzwang und Putzwut leidet, seinem Opfer angeblich nicht erlaubte zu weinen, weil Tränen Salzränder hinterlassen (wo, bitte? möchte ich an dieser Stelle fragen - musste Herr Priklopil auch die Wangen seines Opfers unablässig reinigen?), es aber gleichzeitig in einem, wie es heißt "feuchten, kalten ekelhaften" Verlies einsperrte, klingt seltsam widersprüchlich.

Heute lese ich den Satz "Die fehlende Hygiene wird die Schweiz bitter büssen." Da bleibt jedem aufrechten Helvetier die Spucke weg. Ausgerechnet die Saubermänner sollen sich so etwas sagen lassen müssen! Die UBS würde "aus Staatsräson" geschont, schreibt der Kommentator des Tagesanzeigers (und ich gebe ihm in Klammern vollkommen Recht).

Aber hauptsächlich frage ich mich nun, aus rein lexikalischen Gründen, was ein Herr Ospel mit einem Herrn Priklopil gemeinsam haben könnte, denn beide Namen tigern plötzlich durch die Weltpresse in Gesellschaft dieses Wörtchens "Hygiene".

Es ist nicht wichtig, was gesagt oder geschrieben wird. Wichtig ist einzig und allein, in welchem Kontext etwas gesagt oder geschrieben wird.

http://www.tagesanzeiger.ch/meinungen/dossier/kolumnen--kommentare/UBS-wird-aus-Staatsraeson-geschont/story/14125133,

Montag, 14. Dezember 2009

Hühnerhautwörter

Die Gänsehaut gibt es auch als Hühnerhaut. Nicht nur in den Dialekten der Deutschen Schweiz, auch in Frankreich (chair de poule) oder Spanien (carne de gallina oder piel de gallina). In abgelegenen Bergregionen wie im Bündnerland, im Vorarlberg, vom Allgäu bis zum Chiemgau zieht man für das Phänomen die Bezeichnung Hennenhaut vor. Und die Wiener machen aus der Gänsehaut freundlicherweise die Ganselhaut. Die weltgewandten Berliner hingegen umschreiben mit Erpelpelle oder Putenpickel Gefühlssensationen, die nur im Fußballstadion auftreten. In der Fachsprache heißt es Piloarrektion oder Piloerrektion und meint das sich Aufrichten von Körperhaaren. Es kann sogar, sagen die Mediziner, bei manchen epileptischen Anfällen als Begleitsymptom auftreten. Oder bei vegetativen Anfällen als Hauptsymptom vorkommen.

Samstag, 12. Dezember 2009

Gänsehautwörter

Ich sammle die Wörter dort ein, wo sie mir zufallen. Lesen tu ich nur noch unwillig. Hören kann ich nur noch unregelmäßig. Das hat mit meinen inneren Stimmen zu tun. Schreiben ist so etwas wie Durchdrehen. Fleischwolf. Etwas spaltet sich ab oder auf oder beides. Entzweit sich und mich.

Gerade eben aber spitzte ich meine beiden Ohren bis hoch unters Dach. So elektrisiert war ich plötzlich. Der Musikphysiologe und Neurologe Eckart Altenmüller sprach im Radio von Gänsehauttheorien und Gänsehautforschern, vom Gänsehautgefühl, von Gänsehauterlebnissen, von Gänsehautstellen, von der Gänsehautwahrscheinlichkeit, von Gänsehautmusik. Von starken Gänsehäutlern und schwachen Gänsehäutlern. Von der Gänsehautmessbarkeit. Davon, was gänsehautverdächtig sein kann und es dann doch nicht ist. Davon, wie die Gänsehaut mit unserem Gedächtnis zusammenhängt. Davon, wie die Gänsehaut verbessert werden kann. Davon, wie die musikalische (es gibt auch andere) Gänsehaut von unserer Hörbiographie oder Instrumentenerfahrung abhängt. Davon, dass Gänsehaut privat ist und beglückt, wir sie aber dennoch weder steuern noch kontrollieren können. Davon, dass Leute in sozialen Berufen wie etwa Ärzte und Krankenschwestern viel stärkere Gänsehäutler sind, als Leute in technischen Berufen, Ingenieure oder Physiker. Davon, dass die Gänsehautwahrscheinlichkeit in einer Gruppe rapide ansteigen kann, zB in unserem konditionierten Kulturkreis in einer vollen kalten Kirche während des Weihnachtoratoriums. Dass dabei gigantische Gänsehäute entstehen können, regelrechte Gänsehautstürme.

Höchst gänsehautanregend. Zum Nachhören hier: http://www.ndrkultur.de/media/audio22762.html

Donnerstag, 10. Dezember 2009

Dessin

Aus Anlass des heutigen Tages kaufen wir einen zweiten Pinguinklodeckel. In unseren beiden Haushälften gibt es insgesamt 4 Toiletten. Eine, die von uns am meisten benützte in unserem Bad, besitzt schon seit unserem Einzug eine Pinguinbrille und einen Pinguindeckel. Das ganze Bad ist von Pinguinen besetzt. Damit keiner von seiner Eisscholle abrutscht oder von einem heißen Wasserstrahl verbrüht wird, ist hier Vorsicht geboten. Besonders beim Haaretrocknen. Aber auch beim Zähneputzen oder Händewaschen. Das zweite Klo im Haus, unten in der Sauna, bekommt Deckel und Brille im Pinguindessin morgen, sobald die Haushandwerkerin ausgeschlafen hat und das aseptisch Reinweiße abmontiert ist. Denn heute feiern wir unseren Hochzeitstag. Da er auf einen Donnerstag fällt, tun wir das in Hamburg, kaufen auf dem Rückweg in der Lidl-Filiale im Untergeschoss des Bahnhofs Altona unser Geschenk und bringen es gegen Mitternacht nach Hause.
Auf der Verpackung steht, was schon der Prospekt versprochen hatte: "WC-Sitz mit dekorativem Dessin". Zuerst glaubte ich an einen Übersetzungsfehler. Oder an ein Übersetzungsversehen. Ein vergessen gegangenes und deshalb unübersetztes (etwa aus dem Niederländischen?) Wort. Unsere Verpackungen sind mittlerweile mit den verschiedensten Sprachen übersät. Wir scheuen weder fremde Wörter noch fremde Menschen noch fremde Sitz- oder Betsitten, aber oft verstehen wir den Text nicht einmal in der Sprache, die wir meinen selber einigermaßen flüssig zu sprechen.
Der Duden belehrt mich schließlich eines besseren. Das französische Wort Dessin wird gleichberechtigt mit dem englischen Wort Design im Deutschen verwendet. Und mein Berliner Ehemann weiß sogar, wie es richtig ausgesprochen wird. Was für eine Überraschung nach 16 Jahren Ehe!

Montag, 7. Dezember 2009

Kartoffelglück

Von außen sieht der Meldorfer Kartoffelautomat so aus. Erfunden und konstruiert hat ihn der Kartoffel-Landwirt Herbert Weerts aus der Gemeinde Dingen in Dithmarschen.
Das Foto entstand im August.


Mittlerweile ist der Kartoffelpreis gefallen, ein Fünfkilo-Sack kostet 3, ein Zehnkilo-Sack 5 Euro. Wer Glück hat, findet außerdem in seinem Sack ein Weihnachtsgeschenk - in jeden zwanzigsten Sack steckt Weerts in der Adventszeit zehn Euro. Wolfgang hatte kürzlich Glück. Er ist eben ein Sonntagskind.

Heute hatte er kein Glück. Aber ich hatte unglaubliches Glück. Er ist und bleibt ein Sonntagskind. Wir wollten an den Strand fahren, aber hinter Mannheim fuhr er über einen spitzen Stein und hörte ein unangenehmes Geräusch. Der Weg von Meldorf ans Meer führt auch im Winter über Mannheim. Aus dem Hinterreifen entwich pfeifend alle Luft. Seufzend schoben wir die Räder auf der Hafenchaussee zurück. Die Schafe blickten uns kopfschüttelnd nach. Pumpe oder Werkzeug hatte die Mechanikerin nicht bei sich. Der Professor hatte keinen Fotoapparat bei sich. Wir wollten bloß einen Ausflug ans Wasser machen. An der Ecke Jungfernstieg stand der Lieferwagen von Weerts. Der Kartoffelautomat war offen. Der Kartoffelbauer füllte seinen Kartoffelautomaten mit Fünf- und Zehnkilo-Kartoffelsäcken auf und erklärte uns den Mechanismus.

Alain de Botton beschrieb einmal seine Faszination von Brücken- oder Viaduktunterseiten. Es ist ein leichtes, etwas zu beschreiben, das man jederzeit wieder angucken kann.
Ich werde, sobald W.'s Fahrrad repariert ist, meine Faszination des Meldorfer Kartoffelautomateninnern beschreiben.

Donnerstag, 3. Dezember 2009

Winterregen

Das Staatssekretariat für Wirtschaft SECO (http://www.seco.admin.ch/) gibt für das Jahr 2008 Ausfuhren von Kriegsmaterial in folgende Länder bekannt (nur Ausfuhren von über einer Million Franken aufgeführt)

Land sowie Wert CHF

Pakistan 109'844'910
Dänemark 83'688'920
Deutschland 80'907'794
Belgien 79'363'228
Großbritannien 47'408'735
Niederlande 39'583'423
Rumänien 38'769'558
Saudi-Arabien 32'108'081
Finnland 30'560'764
U.S.A. 28'791'931
Spanien 17'431'391
Frankreich 17'231'818
Schweden 14'751'775
Malaysia 13'002'218
Kanada 9'878'149
Italien 7'968'692
Norwegen 7'202'864
Türkei 6'611'635
Irland 5'855'395
Australien 5'526'460
Polen 4'678'488
Österreich 4'381'702
Korea (Süd) 4'093'882
Griechenland 4'058'098
Brasilien 4'011'498
Slowenien 3'698'329
Singapur 3'060'206
Indien 2'686'226
Estland 2'571'242
Bahrein 1'746'250
Israel 1'711'118
Arabische Emirate 1'304'809
Jordanien 1'236'218

Diverse 6'242'626

Total Ausfuhr von Kriegsmaterial 2008: in 72 Länder, im Wert von 721'968'433 Schweizer Franken.

Im Dezember 2008 wurde die Verordnung über den Kriegsmaterialexport revidiert, seither sind Waffenlieferungen in Staaten, die in einen bewaffneten Konflikt verwickelt sind oder Menschenrechte schwerwiegend verletzen, verboten.
Die Ausfuhrstatistik der Eidgenössischen Zollverwaltung bestätigt die Aussage von 70 Schweizer Rechtsprofessoren, die Schweiz widersetze sich ihrem eigenen Gesetz: "Ein beträchtlicher Teil des im ersten Halbjahr 2009 exportierten Kriegsmaterials wurde in Staaten geliefert, welche in die internen bewaffneten Konflikte in Afghanistan und im Irak verwickelt sind". Größter Waffenabnehmer der Schweiz im ersten Halbjahr 2009 war Deutschland, drittgrößter Saudi-Arabien, viertgrößter die USA.

Mittwoch, 2. Dezember 2009

Winterwind

Ich fahre an den Strand und denke über die Stille nach. Raureif bedeckt die Sanddornstäucher, die dürren Schilfgräser, den behaarten Strandwermut. Nur Wildgänse schreien ekstatisch. Und eine Schar Raben hackt gierig auf einen toten Hasen mitten auf der Straße ein. Er kann sich nicht mehr wehren, geschweige denn weglaufen.
Ich fahre an den Strand und denke über den Wind nach. Auf dem Rückweg bläst er mir eisig ins Gesicht.
Ich fahre an den Strand und sehe das Ende der Welt. Jenny Holzers Buchstaben brennen rund um den Erdball. Leuchtend gelb und unerbittlich gelb. Ich zitiere und übersetze aus dem Gedächtnis: töten ist unvermeidlich, aber es gibt keinen Grund, stolz darauf zu sein.

Dienstag, 1. Dezember 2009

Milch für Kinder

Die ganze Welt kommentiert das von den Schweizern abgesegnete Minarettverbot. Die Rechten jubeln und loben die Helvetier als Vorreiter - was sie tatsächlich sind, in Sachen Rassismus, was aber wiederum kein Grund zum Jubeln ist. Alle andern reiben sich ungläubig die Augen.

Leider geht in diesem Medienrummel vollkommen unter, was die stimmberechtigte Bevölkerung der Schweiz am letzten Wochenende noch entschieden hat: dass weiterhin Kriegsmaterial exportiert wird. Eine Mehrheit gibt nach wie vor lieber Kindersoldaten (wie zB in der indischen Krisenregion Chhattisgarh) Gewehre in die Hand, als Milch in den Mund. "Einheimische Profitinteressen", heißt es in einer Pressemitteilung, "werden höher gewichtet als ausländische Menschenleben." Dem Bundesrat wird "Faktenresistenz" vorgeworfen. Die Wirtschaftministerin teilt mit: „Weil der Heimmarkt für eine wirtschaftliche Produktion zu klein ist, ist die Schweizer Rüstungsindustrie auf den Zugang zu ausländischen Märkten und damit auf Exporte angewiesen."

Laut offiziellen Statistiken des Bundes exportierte die Schweiz von 1975-2008 für insgesamt 12,7 Milliarden Franken Kriegsmaterial, dazu ein paar neuere Zahlen:
  • 2006 segnete der Bundesrat Kriegsmaterialexporte für 397,6 Millionen Franken ab.
  • 2007 segnete der Bundesrat Kriegsmaterialexporte für 464,5 Millionen Franken ab.
  • 2008 segnete der Bundesrat Kriegsmaterialexporte für 722 Millionen Franken ab.

Das bedeutet:

  • Im letzten Jahr nahm der Export von Kriegsmaterial um 55,4 % gegenüber dem Vorjahr zu.
  • Innerhalb von zwei Jahren nahmen der Export von Kriegsmaterial um 106,7 Prozent zu.
Die Wirtschaftministerin - ich wiederhole es, denn manche Dinge können nicht oft genug wiederholt werden - teilt mit: „Weil der Heimmarkt für eine wirtschaftliche Produktion zu klein ist, ist die Schweizer Rüstungsindustrie auf den Zugang zu ausländischen Märkten und damit auf Exporte angewiesen."
Im Vorfeld der Abstimmung verwies die Wirtschaftministerin wiederholt darauf hin, dass gemäß Art. 22 des Kriegsmaterialgesetzes die Herstellung, die Vermittlung, die Ausfuhr und die Durchfuhr von Kriegsmaterial für Empfänger im Ausland bewilligt werden, "wenn dies dem Völkerrecht, den internationalen Verpflichtungen und den Grundsätzen der schweizerischen Außenpolitik nicht widerspricht."

Mit Schweizer Kriegsmaterial wird immer wieder in Kriegen getötet. Unter anderem mit Granaten und Munition, die von der bundeseigenen Rüstungsbetrieben RUAG Nato Staaten, die im Irak und in Afghanistan im Kampf sind, geliefert werden, oder mit Pilatus Flugzeugen. Im Tschad wurde mit einer Pilatus Maschine Clusterbomben auf Flüchtlingslager im sudanischen Darfur abgeworfen; im Irak wurden Giftgasbomben aus Pilatus Maschinen abgeworfen, in Burma bombardiert das diktatorische Regime die eigene Bevölkerung mit Pilatus Maschinen.

Die Bewilligung für die Ausfuhr von Kriegsmaterial, wurde am 27. August 2008 vom Bundesrat dahingehend präzisiert, dass die „Ausfuhr von Kriegsmaterial ausgeschlossen ist", „wenn im Bestimmungsland ein hohes Risiko für einen Einsatz der ausführenden Waffen gegen die Zivilbevölkerung besteht".

Am 25. März 2009 bewilligte der Bundesrat folgende Exporte:
  • 400 Maschinenpistolen des Typs MP9 PDW (Kaliber 9 Millimeter) im Wert von 824'000 Franken sowie 400 Sturmgewehren SG 553 (Kaliber 5,56 Millimeter) im Wert von 910'000 Franken an die Polizeikräfte des indischen Teilstaats Jharkhand
  • 10 Maschinenpistolen des Typs MP9 PDW an die Polizei im Bundesstaat Chhattisgarh, hergestellt von der Thuner Rüstungsfirma Brügger & Thomet AG, im Wert von 20'000 Franken.
Im indischen Bundesstaat Chhattisgarh, weiß die Presse zu berichten, kämpfe die hinduistisch-nationalistische Regierung seit Jahren gegen maoistische Rebellen. Gemäß einem 58-seitigen Bericht der internationalen Menschenrechtsorganisation "Human Rights Watch" vom 4. September 2008 werden dort sowohl von der staatlichen Polizei als auch von den Rebellen Kinder unter 18 Jahren für bewaffnete Operationen ausgebildet. Aus Kindern werden "Special Police Officers". Bei der Polizei, die mit dem "Segen des Bundesrats Schweizer Waffen erhält", kämen die Kinder als "Special Police Officers" zum Einsatz. Sie kämpfen somit an der Front.
Das Staatssekretariat für Wirtschaft bestätigt die Exporterlaubnis von Kriegsmaterial in das Krisengebiet: "Der Bundesrat hat Waffenlieferungen in den indischen Teilstaat Chhattisgarh bewilligt." Das Thema Kindersoldaten müsse bei der Prüfung von Waffenexportgesuchen zwar "berücksichtigt" werden, entscheidendes Kriterium für Bewilligungen sei aber, "ob im Bestimmungsland die Menschenreche systematisch und schwerwiegend verletzt werden." Dies ist in Chhattisgarh trotz Berichten über Kinder als Soldaten nicht der Fall: "Nach unserer Beurteilung liegen keine Gründe vor, die eine Ausfuhr verbieten würden."

Wie ließ die zuständige Bundesrätin verlauten? „Weil der Heimmarkt für eine wirtschaftliche Produktion zu klein ist, ist die Schweizer Rüstungsindustrie auf den Zugang zu ausländischen Märkten und damit auf Exporte angewiesen."

Die "ausländischen Märkte", auf welche die Schweizer Rüstungsindustrie "angewiesen" ist, sind Plätze, auf denen geschossen, getötet und gemordet wird.

Sonntag, 29. November 2009

Die Scham 3

Laut offiziellen Angaben (http://abstimmungen.swissinfo.ch/index-ger.html) betrug die Stimmbeteiligung bei den drei eidgenössischen Vorlagen vom 29.11.2009


  • bei der Volksinitiative "Gegen den Bau von Minaretten" 53,7 %
  • bei der Volksinitiative "Gegen ein Verbot von Kriegsmaterial-Exporten" 53,4%
  • beim Bundesbeschluss zur Schaffung einer Spezialfinanzierung für Aufgaben im Luftverkehr 52%.
Die Presse nennt die Stimmbeteiligung "außerordentlich" hoch. Normalerweise liegt sie deutlich unter der 50%-, wenn nicht gar unter der 40%-Marke.
An diesem Wochenende sieht die direkte Demokratie in der Schweiz folgendermassen aus:

  • 46,3 % der Stimmberechtigten schweigen (haben keine Meinung oder keine Lust, sie zu veräußern) zum Minarettverbot
  • 46,6 % der Stimmberechtigten schweigen (haben keine Meinung oder keine Lust, sie zu veräußern) zum Kriegsmaterialexportverbot
  • 48 % der Stimmberechtigten schweigen (haben keine Meinung oder keine Lust, sie zu veräußern) zu der von niemandem groß beachteten Umschichtung von Geldern für den Luftverkehr.

Die Scham 2

Ich schäme mich, einmal mehr, für ein Land, das längst nicht mehr meine Heimat ist, dessen Pass ich aber nach wie vor besitze sowie das Recht, an eidgenössischen Abstimmungen teilzunehmen.
Ich schäme mich für eine Schweiz, die so aussieht:
http://bazonline.ch/schweiz/standard/Keine-Chance-fuer-das-Verbot-der-Kriegsmaterialexporte/story/17691959

Die Scham 1

Ich schäme mich, einmal mehr, für ein Land, das längst nicht mehr meine Heimat ist, dessen Pass ich aber nach wie vor besitze sowie das Recht, an eidgenössischen Abstimmungen teilzunehmen.
Ich schäme mich für eine Schweiz, die so aussieht: http://bazonline.ch/schweiz/standard/MinarettVerbot-Ein-Ja-zeichnet-sich-ab/story/31785289

Samstag, 28. November 2009

Am Wattenmeer 2

Ich denke über den Wind nach. Und die Buchstaben aus Holz. Jenny Holzers fließendes Licht. Das etwas transportiert. Aber was? LED = Light Emitting Diode.
Ilma Rakusa schreibt auf der vorletzten Seite von "Mehr Meer" (Schweizer Buchpreis 2009): "... im Grunde muss er einsilbig sein, der Wind, wie der Schnee, nicht wie die Wolke, die Formen annimmt ...". Aber das glaube ich nicht. Bei uns, an meinem Meer, am Wattenmeer muss der Wind wie das Meer mindestens zweisilbig sein, wenn nicht mehrsilbig. Hier ist der Wind zweistimmig, mehrstimmig. Hier ist der Wind zweidimensional, mehrdimensional. Auch der Schnee nimmt schließlich Formen an. Und wie! Es ist der Wind, der den Schnee oder das Meer aufbäumt. Vor ihr letztes Kapitel, das den Titel "Wind" trägt, setzt Ilma Rakusa ein Zitat von Yoko Tawada: "Das Gesicht des Windes ist das, was er in Bewegung setzt."
Das sind Widersprüche. Jenny Holzers Buchstaben laufen ohne Wind. Aber mit Strom. Deshalb sind sie regelmäßig wie ein Herzschlag. Aber blutleer.

Freitag, 27. November 2009

Sturm und Regen

Endlich. Die Amseln vollführen ein Geschrei, als ich ihnen das alte Brot kleingeschnitten hinwerfe. Sie bedienen sich als erste. Dann kommen die Meisen und Spatzen. Vorsichtig. Es wird bald dunkel. Ich habe vielleicht zu lange geschlafen. Das Haus konnte ich eh nicht verlassen.

Donnerstag, 26. November 2009

Am Wattenmeer

Zu Hause, kaum zu glauben. Wir fahren nach Hamburg. W. fliegt nach Nürnberg. Ich komme um Mitternacht wieder. Sein altes rotes Fahrrad hatte er gestern am Bahnhof stehen gelassen. Heute ist es vorne und hinten platt. Ich schiebe es nach Hause. Es ist dunkel. Um 23 Uhr wird die Straßenbeleuchtung ausgeschaltet. Das Ventil am Hinterrad ist ganz herausgedreht. Geklaut. Das Ventil am Vorderrad ist aufgedreht. Oder der Reifen zerstochen. Ich weiß es nicht. Ich bin zu müde, es zu überprüfen.

Mittwoch, 25. November 2009

Jenny Holzer

Ich fahre nach Hause über Riehen. Ich schaue mir in der Fondation Beyeler Jenny Holzers LED-Installationen an. Nicht alles gefällt mir. Wo hört der Text auf, ein Text zu sein und wo fängt ein visueller Effekt an, ein visueller Effekt zu sein? Freigegebene US-Regierungsdokumente zum Irak-Krieg, Autopsieberichte, Korrespondenz zu Verhörmethoden, allesamt an sensiblen Stellen geschwärzt - wo kommt das unter in einer Endlos-LED-Schleife? Die XXXXX - das verstehe ich bald - bedeuten Zensur. Aber kein Mensch sieht sich diese Texte an, um sie zu lesen. Kein Auge hält es aus, stundenlang diese laufenden, leuchtenden, pumpenden, springenden elektronischen Buchstaben zu verfolgen. Kein Hirn bringt es fertig, diese stunden-, tage-, wochenlang, ja endlos lang laufenden Buchstaben fortwährend zu Wörtern und Sätzen und Inhalt zu verknüpfen. So what? Wer zehn Minuten stehenbleibt und oft genug die Buchstaben "GWBUSH" oder "TOP SECRET" gesehen hat, weiß alles.
Anderes ist nett. Die frühen Truisms (von "true" = wahr, etwa zweihundertfünfzig Statements, die Allgemeinplätze versammeln, Maximen, Klischees), die Benches (Bänke aus Bethel White Granit), die Inflammatory Essays (Sammlung von Texten mit jeweils 100 Wörtern), sogar die Plaques (Bronzetafeln), die so unscheinbar sind, dass sie in den LED-Farb-Gewittern fast verschwinden.

Ich fliege nach Hause von Basel. Ich nehme meine Schlaflosigkeit wieder mit. Jenny Holzers Buchstaben tanzen in meinem Kopf. Ohne Sinn und Verstand. Keine Handschrift. Keine Druckschrift. Nur Impuls. Puls. Pulsieren. Signal. Warnlampenleuchtend rot oder gelb.

Dienstag, 24. November 2009

Das Schuhmachergedenken

Ich bin immer noch bei den wahren Fölmlis. Als Rosa Fölmli 1961 im Alter von 81 Jahren starb, ging der Witwer, der Schuhmacher Anton Fölmli, zum Menznauer Pfarrer, bestellte und bezahlte die sogenannte Jahrzeitmesse, die Seelenmesse für seine verstorbene Frau Rosa, für die nächsten 50 Jahre. Als Anton Fölmli 1969 im Alter von 83 Jahren starb, ging sein Sohn, der Schuhmacher Anton Fölmli zum Menznauer Pfarrer und erledigte das Nötige, damit sein Vater in die Jahrzeitmesse seiner Mutter mitaufgenommen wird.

Heute findet in Menznau das Jahrzeit für Rosa und Anton Fölmli statt. Der Cäcilienchor singt während der feierlichen Messe. Man sagt, hinter dem jährlich wiederholten Totengedenken stehe die Vorstellung, dass unsere Gebete für die Seelen der Verstorbenen deren Leidenszeit im Fegefeuer verkürzen würden und sie also schneller in den Himmel gelangen könnten.

In meiner Vorstellung, nicht nur in meiner literarischen Verarbeitung, sind Rosa und Anton längst im Himmel angekommen. Ich danke ihnen für das, was sie mir auf Erden hinterlassen haben.

Montag, 23. November 2009

Der Schuhmacherdraht

Auch Gottfried Keller verehrte und verewigte die Schuhmacher - wer es nicht glaubt, lese untenstehendes Zitat aus dem Sinngedicht. Keller nennt darin den Schuhmacher "Schuh- und Hochzeitsmacher". Für die Protagonistin Lucie stellt dieser Macher "Wald- und Feldschuhe" her. Wie er Pechdraht anfertigt, und welche besonderen Konsequenzen das Anfertigen dieses besonderen Schuhmacherdrahtes haben kann, beschreibt Keller folgendermassen:

»Der junge Meister, der noch allein arbeitete, war eben im Anfertigen eines neuen Vorrates von Pechdraht begriffen. An einem Haken über dem jenseitigen Fenster hatte er die langen Fäden von Hanfgarn aufgehängt, welche durch die ganze Stube reichten, und schritt nun, die eine Hand mit einem Stücke Pech, die andere mit einem Stücke Leder bewehrt, rück- und wieder vorwärts Garn und Stube entlang, strich das Garn und drehte oder zwirnte es auf dem einen Knie in kühner Stellung kräftig zum haltbaren Drahte und sang dazu ein Lied. Es war nichts Minderes, als Goethes bekanntes Jugendliedchen »Mit einem gemalten Bande«, welches zu jener Zeit noch in ältern, auf Löschpapier gedruckten Liederbüchlein für Handwerksburschen statt der jetzt üblichen Arbeitermarseillaisen und dergleichen zu finden war und das er auf der Wanderschaft gelernt hatte. Er sang es nach einer sehr gefühlvollen altväterischen Melodie mit volksmäßigen Verzierungen, die sich aber natürlich rhythmisch seinem Vor- und Rückwärtsschreiten anschmiegen mußten und von den Bewegungen der Arbeit vielfach gehemmt oder übereilt wurden. Dazu sang er in einem verdorbenen Dialekte, was die Leistung noch drolliger machte. Allein die unverwüstliche Seele des Liedes und die frische Stimme, die Stille des Nachmittages und das verliebte Gemüt des einsam arbeitenden Meisters bewirkten das Gegenteil eines lächerlichen Eindruckes.
Wenn er mit leichten Schritten begann:

Kleine Blumen, kleine Blätter – ja Blätter
Streien wir mit leichter Hand,
Gude junge Frihlings-Gädder – ja Gädder
Tändeln auf ein luftig Band,

bei dem luftigen Bande aber durch einen Knoten im Garn aufgehalten wurde und dasselbe daher um eine ganze Note verlängern und zuletzt doch wiederholen mußte, so war die unbekümmerte und unbewußte Treuherzigkeit, womit es geschah, mehr rührend als komisch. Die Strophe:

Zephir, nimm's auf deine Flügel,
Schling's um meiner Liebsten Kleid;
Und so tritt sie vor den Spiegel
All in ihrer Munterkeit,

gelang ohne Anstoß, ebenso die folgende:

Sieht mit Rosen sich umgeben,
Selbst wie eine Rose jung,
Einen Blick, geliebtes Leben!
Und ich bin belohnt genung.

Nur schien ihm das »genung« nicht in der Ordnung zu sein, und er sang daher verbessernd:

Einen Blick, geliebtes Leben!
Und ich bin belohnt genuch.

Reinhart und Lucie blickten sich unwillkürlich an. Der Sänger im kleinen Hause schien für sie mitzusingen, trotz jenes abscheulichen Idioms. Welch ein Frieden und welch herzliche Zuversicht oder Lebenshoffnung pulsierten in diesen Sangeswellen! Am jenseitigen Fenster stand ein mit Grün behangener Vogelkäfig. Nun kam aber die letzte Strophe. Fihle, sang er,

Fihle, was dies Herz empfindet – ja pfindet,
Reiche frei mir deine Hand,
Und das Band, das uns verbindet – ja bindet,
Sei kein schwaches Rosenband!

Weil der Draht noch nicht ganz fertig war, sang er diese Strophe mehrmals durch, immer heller und schöner, mit dem Rücken gegen die Lauscher draußen gewendet; im Bewußtsein der nahen Glückserfüllung wiederholte er das

Reiche frei mir deine Hand

besonders kraftvoll und ließ dann im höchsten Gefühle die geschleiften Noten steigen:

Und das Band, das uns verbindet,
Sei kein schwaches Rosenband!

Da ein paar Kanarienvögel mit ihrem schmetternden Gesange immer lauter dreinlärmten, war eine Art von Tumult in der Stube, von welchem hingerissen Lucie und Reinhart sich küßten. ...«

aus: Gottfried Kellers Werke, 6. Band, Das Sinngedicht, S. 311 ff

Sonntag, 22. November 2009

Die wahren Fölmlis

10:30 Stadtmühle Willisau: „Die Fölmlis. Eine Schuhmacherfamilie“ - Lesung und Erzählcafé

Die wahren Fölmlis versammelten sich heute vormittag in Willisau in der Stadtmühle. Dazu noch etwa 150 Gäste. Die Stadtmühle besitzt 108 Stühle. Wer nicht frühzeitig kam, musste leider stehen. Trotzdem lauschten alle artig den Ausführungen von Vater Anton, Sohn Antoine und Tochter Frieda. Sowie meiner literarischen Umsetzung.
Die wahren Fölmlis veranstalteten, nachdem sich der Saal nach dem letzten Applaus wieder geleert hatte, ein Fotoshooting. Die wahren Fölmlis rückten Stühle und Menschen zurecht. Sie stellten Kinderfotos, Familienfotos nach. Der Jüngste, der jetzt der Größte ist und damals als Kleinster zwischen seinen Schwestern auf einem Stapel Telefonbüchern stand, geht in die Knie. Der Älteste, der erfolgreichste Schuhverkäufer der Schweiz, geht in den vorzeitigen Ruhestand. Die Eltern sitzen auf zwei normalen Stühlen. Im Fotostudio gab es damals ein Sofa mit gedrechselten Beinen und geschwungenen Armlehnen. Heute in der Stadtmühle stehen, wie gesagt, 108 stapelbare Konferenzstühle zur Verfügung. Die Schwestern sind nicht mehr gleich angezogen. Auch das lässt sich nicht mehr nachstellen. Irgendwann holt die Schuhmacherin ihre Schriftstellerin dazu. Nun sind drei Töchter auf dem Bild. Und vier Söhne. So wird Geschichte gemacht. Und Literatur.

Samstag, 21. November 2009

drunter und drüber

Manchmal geht es bei meiner Schuhfrau drunter und drüber. Auf Weihnachten bereitet sie ihre Kundinnen und Kunden mit einer "advent-ausstellung" der besonderen Art vor. Da kullern Perlen aus dem Kandaharstiefel. Über Vabeene Dunja, Arche Anabus oder Hartjes Geneva liegt ein Spitzenslip oder Spitzen-BH. Ton in Ton. Schals und Stulpen. Zeitungspapierrosetten und Swarovskikristalle. Raffinierte Dessous. Kostbare Leder. Exklusive Accessoires. Unverwechselbarer Stil. Das Darunter mit der entscheidenden Wirkung auf das Darüber. Oder Umgekehrt.
Nach Sonnenuntergang werden in der Werkstatt bei Kerzenlicht Liebesgedichte gelesen. Gestern und heute. Bis 22 Uhr!

Freitag, 20. November 2009

Der Liestaler Crispin

Ohne allzuviel geschlafen zu haben, bin ich schon wieder unterwegs. Die orkanartigen Winde haben sich gelegt, das Flugzeug landete trotzdem mit Verspätung, die Temperaturen sind nach wie vor überdurchschnittlich hoch. Am Mittag stehe ich mit Koffer und im Wintermantel in Liestal an der Mühlegasse und betrachte verwundert den roten Sandsteincrispin an der Hausfassade. Er hält hier seinen Stiefel bestimmt schon länger in beiden Händen, als ich lebe.

Ich habe ihn nie gesehen. Nie erkannt. Nie beachtet. In all den Jahren nie, in denen ich in Liestal lebte, laufen lernte, lesen lernte, schreiben lernte, gucken lernte, denken lernte, fragen lernte. Nie in all den Jahren, in denen ich hier herumlief, mit Schuhen an den Füßen, Flausen im Kopf und Tränen im Haar, fragte ich, wer ist denn das und warum sieht er so römisch aus mit seinem Gewand und den langen Locken. Nie in all den Jahren sah ich ihn oder fragte mich, wozu der einen dritten Stiefel in seinen Händen hält, wo er doch an jedem Fuß bereits einen trägt.

Donnerstag, 19. November 2009

Kontributionen

Folgender Aufruf erreicht mich, gerade als ich den Strom ausschalten will. Ich leite ihn als Text weiter, bevor ich das Haus verlasse.
Der Originalaufruf ist hier abzurufen: http://www.design2context.ch/data/file/Apell_Layout%201.pdf

"Wer gestaltet heute die schweizer rassistische Propaganda ?

Aufruf zur politischen visuellen Kommunikation!
Die rassistische Rhetorik der öffentlichen Sprach- und Bildpropaganda in der Schweiz untergräbt alle politische und gesellschaftliche Solidarität.

Ausgehend von einer öffentlichen Debatte am 19. 11. 2009 beim Institut Design2context der Zürcher Hochschule der Künste ergreifen wir als Designer, Architekten, Künstler, Graphiker mit Freunden und Partnern die Initiative:
- laßt uns miteinander alle Aufklärung über die faschistischen, rassistischen und diskriminierenden Vorläufer, Quellen, Vorgeschichten dieser politischen Propaganda aufdecken!
- laßt uns selbst unsere politischen Mittel der visuellen Kommunikation dagegensetzen und damit den Raum der öffentlichen Angelegenheiten zurückgewinnen!

Wir erwarten dringend Eure recherchierenden und Eure entwerfenden Kontributionen:
an das Institut Design2context, ZHdK, Hafnerstrasse 39, (Ch) 8005 Zürich,
mail: info.design2context@zhdk.ch, Tel.: +41 43 446 6202.

Legitimiert das Recht auf freie Meinungsäusserung
Diskriminierung und Hass-Aktionen ?
Woher kommt die faschistische Ästhetik ?

Design2context (ZHdK)"

Mittwoch, 18. November 2009

Nordseesturm

Tagsüber tobte der Nordseesturm. Sturmflutwarnungen kamen seit dem frühen Morgen aus dem Radio und vor meinem Fenster riss der Wind meinen Brombeerzaun auseinander, hob den Deckel von der Regentonne, schleuderte die Papiertonne um die Hausecken, knickte das Rosenspalier um, rüttelte am Baumhaus - einzig es widerstand.

Nachts kann ich nicht schlafen. Ich starre mit offenen Augen an die Decke, höre das Wasser ruhig vom Dach herunterlaufen, als hätte es Beine. Als wäre es ein Tausendfüßler. Oder als wimmele es, das stille Wasser, von tausend Tausendfüßlern. Als wäre gar nichts gewesen. Ich bin in einer Mühle, einmal mehr, drehe an einem Mühlrad oder an einem Mahlstein der Geschichte oder meines Traumes, einmal mehr, obwohl ich hellwach in meinem Bett am Wattenmeer liege.

Samstag, 14. November 2009

Föhnsturm

In den Schweizer Alpentälern tobte in der Nacht ein Föhnsturm, teilt der Wetterdienst mit. Zugleich stiegen die Temperaturen auf fast sommerliche Werte. Die höchsten Werte wurden in Glarus mit 19,3 Grad, in Altdorf mit 18,9 Grad gemessen. Bei Flüelen am Urnersee kletterte das Thermometer auf 17,8 Grad Celsius, im Wallis auf 17,7 Grad, im sankt-gallischen Rheintal auf 17,1 Grad und in Genf auf 14,9 Grad. So hohe Temperaturen seien keine Seltenheit, beruhigen die Wetterfrösche. Sie würden im November im Schnitt alle zwei Jahre erreicht.

Der warme Kopfwehwind kühlte vor dem Mittelland wieder ab und begab sich zur verdienten Ruhe. Dort sanken die Temperaturen in der Nacht bis auf den Gefrierpunkt und alle Menschen schliefen gut und traumlos.

In Appenzell und Glarus erreichten die Windgeschwindigkeiten hingegen 93 Kilometer in der Stunde, im Urner Reusstal bis zu 87 Kilometer. Auch im Berner Oberland und im Wallis stürmte es: Dort gab es Windspitzen von bis zu 80 Kilometern in der Stunde. Im Jura machte sich der Südwestwind bemerkbar, über den Chasseral sauste er mit 102,6 Kilometern pro Stunde.

Der November bleibe weiterhin mild, auch wenn der Föhn bis zum Nachmittag abklinge, sagen die Meteorologen: «Ein Wintereinbruch ist nicht in Sicht».

Dienstag, 10. November 2009

Der Urknallsimulator

Ein feuchtes Stück Brot, von einem "unachtsamen Vogel", wie es in einer Pressemeldung heißt, fallengelassen, sorgt für einen Kurzschluss. Nicht bei mir zu Hause. Sondern ausgerechnet im Europäischen Kernforschungszentrum (Cern) in Genf. Ausgerechnet in einer "außenliegenden elektrischen Anlage". Ausgerechnet während eines Tests mit dem LHC-Beschleuniger. Angeblich war es, es lebe die Francophonie, ein Stück Pariser Baguette.

Dieser Kurzschluss beeinträchtigte das Kühlsystem. Die Tiefsttemperatur von minus 273 Grad Celsius stieg auf minus 268 Grad Celsius an. Die Anlage schaltete sich aus. Der Test musste abgebrochen werden.

Stromschienen in einer Außenanlage könnten nicht hinreichend gegen Verunreinigungen geschützt werden, stellt ein Spezialist fest. Vogelkot oder andere Feuchtabfälle würden Ähnliches bewirken. Zu jeder Zeit. Und der Spezialist fragt sich selbst, wie es um die Sicherheit des LHC bestellt ist, wenn erst einmal nach dem Hochfahren der Urknall-Maschine die beschleunigten Teilchen aufeinanderprallen.

Was sagt der Laie dazu? Kratzt sich am Kopf und hofft, dass es keine Läuse sind.

Montag, 9. November 2009

Ein tränenloser Tag

Früher, als wir noch in Berlin lebten und noch einen Fernseher besaßen, weinten wir oft, wenn zum Jahrestag die Bilder von allen Seiten auf uns einstürzten. Die Bilder der Maueröffnung. Heute ist mein im Westen Berlins geborener Mann in Peking und ich in Meldorf. Zwischen früher und heute liegen unter anderem unsere ernüchternden Jahre an der Ostsee in Stralsund. Ich gucke in die Zukunft und räume meinen Schreibtisch am Wattenmeer leer. Es lässt mich kalt, was Frau Merkel oder Herr Wałęsa gerade tun. Oder sagen. Angeblich hat der Polnische Papst die Berliner Mauer umgestoßen. Zu 50%, wie der ehemalige Elektriker ausrechnet. Von den verbleibenden 50% habe 30% er selbst sowie die von ihm gegründete Solidarność zu verantworten, und ganze 20% der ganze Rest der Welt.

Ich war beim Zahnarzt, er bot mir an, Quitten aus dem Garten mitzunehmen. Ich kam gutgelaunt nach Hause. Sortierte Papiere, Schuhe und Sohlen. Legte Seiten um Seiten um. Und ab. Warf vieles weg. Speicherte mein letztes Buch auf einer CD-Rom sowie auf meiner externen Festplatte, ehe ich das Verzeichnis löschte.

Ich öffne das Fenster. Dem rauen Nordseewind und einem bilderlosen Winter.

Sonntag, 8. November 2009

Der erste Winterstrandtag

Ich brauche unendlich lange, um zu begreifen, wo ich bin. W. ist heute von Shanghai nach Peking geflogen und trägt wieder brav Schal, Handschuhe und Wintermantel. Ich habe immer noch das Gefühl, von Tschlin die Serpentinen hinunter ins Tal zu fahren. In ein unendlich weit entferntes Tal, unendlich kurvenreich. Den lieben langen Tag. Und nachts sucht mich mein neuester Alptraum heim. Gestern Abend vertiefte ich mich in ein Stück hervorragender Literatur meiner polnischen Freundin Maria. Sie rechnet mit ihrem Heimatland ab, ich mit meinem. Ich auf meine Art, sie auf ihre Art - ich kugelte mich vor Lachen. Und trotzdem träumte ich von meiner neuen Alp.

Am Mittag schwinge ich mich mutig auf mein gutes (neues) Fahrrad. Ich besitze für jede Lebenslage ein eigenes Fahrrad. Im Winter gehört der Strand den Schafen. Alle Zäune sind offen und die Schafe können sich auf jedem Strandabschnitt frei bewegen. Ich setze mich auf eine Bank auf dem Deich, die jemand vor mir gesäubert haben muss. Ich weiß, dass die Schafe im Winter gerne auf die Bänke steigen, auf den Bänken sitzen, auf die Bänke scheißen. Ich kaue ein Käsebrot und schaue auf das Watt. Das Wasser kommt nur zögerlich zurück. Von wo auch immer. Es ist fast windstill. Wo auch immer. Ich fahre durch die abgeernteten Kohlfelder nach Hause. Auch hier weiden nun Schafe. Den Schafen gehört die ganze Welt.

Meine Schuhsohlen sind voller Schafskot. Gutes Profil, gut gefüllt. Die Reifen an meinem Fahrrad sind voller Schafskot. Gutes Profil, gut gefüllt. Die Kette, die Pedale, der Rahmen, alles schafskotverspritzt. Ich lasse die Schuhe neben dem Fahrrad stehen. Im Fahrradschuppen riecht es wie in einem Schafstall.

Freitag, 6. November 2009

e-voting

Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben meine Stimme elektronisch abgegeben. Die elektronische Urne des Kantons Basel-Stadt öffnete heute um 12 Uhr MEZ. Meine Stimme ging um 19.44 Uhr ein. Zusammen mit den im Kanton Genf gemeldeten Auslandschweizerinnen und Auslandschweizern gehöre ich zu den ersten privilegierten Bürgern meines Landes. Wir stehen außerhalb - und dürfen schnell denken, unseren eigenen Verstand einschalten, uns blitzartig entscheiden und agieren, lange bevor die Parteistrategen ihr demokratisches Geld für ihr demokratisches Beeinflussen des demokratischen Volkswillens ausgegeben haben.

Donnerstag, 5. November 2009

Schwebebahnen

Während ich am Wattenmeer den ganzen Tag versuche, zu mir zu finden, fährt W. in Shanghai 7 Minuten mit der Magnetschwebebahn vom Flughafen in die Innenstadt.
Während ich am Wattenmeer versuche, die helvetische Langsamkeit aus dem Kopf und aus dem Bauch zu vertreiben, freut W. sich über das "Ruckeln" in Asien. "430 km/h", schreibt er. "Schnell, aber die Sitze usw. schon chinesisch angeranzt."
Während ich am Wattenmeer in den Novemberregen starre, zieht W. im Regenwaldhotel Sommersachen an. "Um die 20 Grad", schreibt er, "aber heftiger Smog, vom Fernsehturm und den Hochhäusern in Pudong kaum etwas zu sehen."

Dienstag, 3. November 2009

Sonne

Um 11.29 überquere ich in der NOB den Nordostseekanal. Und endlich gibt es wieder einen Himmel. Die Sonne durchbricht die Küstennebelfelder mit aller Gewalt. Der Rest der Welt versinkt.

Ich treffe an meinem Schreibtisch am Wattenmeer ein mit einer Verspätung von 40 Minuten. So lange stand das Flugzeug in Basel am Boden. Wegen traffic über Frankfurt. Ich verstand die Zusammenhänge nicht und las Paulo Lins in Polnisch. Neben mir brüllte ein Kind aus Leibeskräften. Es verstand die Zusammenhänge auch nicht und konnte weder lesen noch schreiben. Deshalb schrie es.

Ich streife durch den Garten. Das Laub liegt kniehoch vor dem Haus. Es ist keiner da.
Ich packe meinen Koffer aus.
Dann packe ich W.'s Koffer ein.

Montag, 2. November 2009

Regen

Wir fahren den ganzen Tag im Auto durch Regen. Die Schweiz ist ausgetrocknet. Jetzt wird sie eingeregnet. Am Abend wird der Regen in Schnee übergehen, sagen die Wetterpropheten. Dann wird die Schweiz eingeschneit. Mir ist schwindlig. Ich habe Kopfschmerzen. Mir wird schlecht. Irrungen und Wirrungen von Tschlin auf 1550 Metern bis hinunter an den Rhein in Basel. Am Samstag auf der Hinfahrt haben wir das Glarnerland rechts liegen gelassen. Heute auf der Rückfahrt lassen wir es links liegen. Es ist nichts zu sehen. Nur Regenwände. Und doch ist alles in mir, in meinem Körper. Ich weiß nicht mehr, wo er sich gerade befindet.

Sonntag, 1. November 2009

Tschlin

11 Uhr, Sala Polivalenta.
Ich lese umgeben von Schuhen und Frauen das Kapitel, das unsere Reise beschreibt.

Zum Angucken hier (benötigt wird die neueste Version des RealPlayer SP, der link funktioniert etwa 2 Wochen lang, danach verschwindet das Video im Archiv des Rätoromanischen Fernsehens):
http://www.rtr.ch/rtr/index.html?siteSect=19995&url=http://real.xobix.ch/ramgen/rtr/tg/2009/tg_11022009-450k.rm?start=00:08:07.872&end=00:11:16.154&ne_id=11438982&progid=46&type=tv&speed=450

Samstag, 31. Oktober 2009

Weltreise 2

Ich komme mit 13 Stunden Verspätung in Menznau an.
Am Mittag fahren wir los. Wir: die Schuhfrau, ihr Chauffeur, zwei Ritas, ich und das gesamte Wintersortiment an Damenschuhen sowie vier Kisten Bücher.
Wir fahren quer durch die Schweiz in den südöstlichsten Zipfel des Landes, nach Tschlin.
Wir fahren in ein Kapitel meines Schuhmacherbuches (für alle, die nicht dabei sein können: S. 287 ff.).

Freitag, 30. Oktober 2009

Warschauer Intermezzi

Die Weltreise war zu schön ausgedacht.

Niemand besingt Warschau so wie ich. Deshalb lässt Warschau mich so einfach nicht ziehen.

Schon am Montag wartete ich 100 Minuten auf dem kalten Bahnsteig am Warschauer Hauptbahnhof auf den Zug nach Krakau. Ich hatte mir zwei Stunden Zeit gelassen, um meinem Meister die Hand zu drücken und ihm ein Namenstagsgeschenk zu überreichen. Danach kaufte ich eine Fahrkarte für die schnellste Verbindung. Zuerst kam die Durchsage "... verspätet sich um 20 Minuten ...". Und "opóźnienie może ulec zmianie" - ein in seiner Poesiefülle und Logikleere unübersetzbarer Satz. Ich kenne ihn seit vielen vielen Jahren, er ist mir so vertraut, wie eine zweite Haut. Dann kamen in regelmäßigen Abständen scheppernde, schleppende Bekenntnisse "... um 30...", "... um 50 ...", "... um 70...", "... um 90 ...". Anfangs waren die Polen, die nach Krakau fahren wollten, alles unverwüstliche Optimisten, noch bester Laune. Sie lachten und scherzten lauthals über alle ein- und ausfahrenden Schnellzüge, Intercitys und Regionalbahnen hinweg. Unüberhörbar. Aber irgendwann blieben auch ihnen die glucksenden Laute im Hals stecken. Stille machte sich breit. Etwas Schweres. Drückendes. Lethargie. Etwas Steifes, Erstarrendes, das nicht nur mit der Kälte oder der Tatsache, dass sich alles unterirdisch abspielte, zu tun hatte.
Heute sitze ich 125 Minuten am Chopin-Flughafen. Mit einem polnischen Mittagessen im Bauch, gespendet von Austrian Airlines. Und einem Warschauer Abendrothimmel vor Augen, gespendet wahrscheinlich von Nazars ACH DU LIEBERHERR GOTT NOCH MAL. Und immer wieder in diesen Himmel steigende Flugzeuge. Nirgends auf der Welt ist der Himmel am Vorabend von Zaduszki [Allerheiligen, Allerseelen] so schön wie hier. Der Nachmittagsflug nach Wien wurde "gestrichen". Because of technical problems. Das sagen sie immer, tröstet mich W. vom Wattenmeer, als ich ihn in meiner Verzweiflung aus seiner Vorlesung klingele. Ich komme heute nicht mehr zu meiner Schuhmacherin. Das ist das Traurigste an diesem Intermezzo, an dieser Weltreise inter ruptus oder eher inter regio. Die Zeit und die Kraft reicht gerade, dass ich, so LIEBERHERR GOTT NOCH MAL erlaubt, kurz vor Mitternacht in Allschwil bei meiner Schwester ins Bett falle.

Weltreise

Ich erwache an der Weichsel.

Wie immer, wenn ich in Warschau schlafe, erwache ich an der Weichsel. In meiner Heimat. Durch meine Heimat fließt die Weichsel. Durch meine Träume fließt die Weichsel. Durch meine Trauer fließt die Weichsel. Durch mein Leben fließt die Weichsel. Durch meinen Tod fließt die Weichsel.

Ich packe meine Siebensachen.

Ich wollte kein Buch kaufen, da ich meine eigenen Bücher durch die Welt trage. Gestern lag in einem Buchladen in Warschau plötzlich "Miasto Boga" von Paulo Lins vor mir. Noch nie habe ich ein Buch von Paulo Lins gesehen. In keiner Sprache der Welt. In keiner Buchhandlung der Welt. Paulo Lins war mein Vorgänger im ULNÖ. "Miasto Boga". Originaltitel "Cidade de Deus". Zu deutsch vielleicht Die Stadt Gottes. Oder Gottesstadt. Oder Gottstadt. Komposita gibt es nur im Deutschen.

Ich packe in Warschau Paulo Lins polonisierte Stadt Gottes in mein Handgepäck.

Ich habe heute viel Zeit zum Nachdenken. Ich verlasse Warschau, meine Heimat, fliege über Wien nach Basel, fahre über Olten, Langenthal nach Menznau. Dort ist in der Zwischenzeit die Schuhmacherdynastie um eine Prinzessin reicher. Emily, die auf Seite 325 meines Schuhmacherbuches gezeugt wurde, ist gesund etwas zu früh in Singapur auf die Welt gekommen.

Donnerstag, 29. Oktober 2009

Warschau 2

Ich verlasse die Konferenz vorzeitig (was dort weiter passiert, kann hier verfolgt werden: http://kultura.wp.pl/kid,,title,Konferencja-KOMPLEKS-KONWICKI-zdecydowanie-odmlodniala,wid,11639457,wiadomosc.html).
Ich muss bei Tageslicht mein Warschau abschreiten, stehe um 5 Uhr auf, steige um 5.30 ins Taxi, um 6.00 in den Express Lajkonik nach Warschau.
Das Kino Skarpa ist nur noch ein Schutthaufen. Würde ich heute an der Kopernika-Strasse wohnen wie vor 25, 26, 24 Jahren, dann würde ich von meinem Zimmer aus die Spitze des Kulturpalastes sehen. Mein Meister sieht von seinem Fenster aus den Kulturpalast seit über einem halben Jahrhundert in seinem ganzen, so unvorstellbar monströsen Ausmaß. Ich wusste immer, dass unsere Warschauer Zimmer, seines und meines, auf einer schnurgeraden Luftlinie liegen.

Das Kino Skarpa versperrte mir in meinen jungen Warschauer Jahren die Sicht auf die Welt, wie der Glärnisch in meiner Kindheit mir die Sicht auf die Welt versperrte.
Es ist gut, dass wir älter werden. Denn Kinos und Berge brauchen Zeit, um aus der Welt zu gehen.

Das polnische Nationalepos PAN TADEUSZ von Adam Mickiewicz besingt Litauen als Heimat ("Litwo! Ojczyzno moja! ty jesteś jak zdrowie. Ile cię trzeba cenić, ten tylko się dowie, Kto cię stracił. Dziś piękność twą w całej ozdobie Widzę i opisuję, bo tęsknię po tobie ...).
Mein privates Nationalepos wird eines Tages beginnen mit den Worten "Warszawo! Ojczyzno moja! ty jesteś jak zdrowie. Ile cię trzeba cenić, ten tylko się dowie, Kto cię stracił. Dziś piękność twą w całej ozdobie Widzę i opisuję, bo tęsknię po tobie ...).

Mittwoch, 28. Oktober 2009

Ins Wasser fallen

ACH DU LIEBERHERR GOTT NOCH MAL
in der fremde mit den fenstern heim
an die decke mit fingern zeichnen
ins wasser fallen
und aus dem rahmen
sich auf die stirn einkratzen
geh fort
weiss gott
bei gott


Nazar Honczar
http://stadtschreiber.mur.at/

Der überraschende Tod 4

Nazar ist tot. Schon seit Ende Mai. Ich habe es erst gestern hier in Krakau erfahren. Vor vier Jahren lernte ich Nazar hier in Krakau kennen. In der Küche der Villa Decius machten wir uns jeden Morgen Gedanken über das Laub, das der Gärtner mit seinem tosenden Laubbläser erbarmungslos zusammentrieb. Ob man die einzelnen Blätter nicht wie Wäsche zum Trocknen wieder in die kahlen Äste der Bäume zurückhängen könnte. Später nannte Nazar dies "Herbstverbesserung" bzw. "uświetnienie jesieni". W. tröstet mich vom Wattenmeer. Nazar sei gestorben , schreibt er, "wie ein chinesischer Dichter, der trunken den Mond umarmen will, der sich auf der Wasseroberfläche spiegelt". Ende Mai war eine gefährliche Zeit. W. hat sie mit gebrochenem Kiefer überlebt, Nazar ist beim Versuch, den Mond zu umarmen, mehr als nass geworden. Gott war für Nazar ein "unbestimmtes Fürwort". Ich hoffe, dass diesem Dichter diese grammatikalische Kategorie nicht übel genommen wird und die himmlischen Heerscharen ihn weiter dichten lassen. In allen Sprachen der Ewigkeit.

Dienstag, 27. Oktober 2009

Krakau

Die Konferenz "Kompleks Konwicki" (und warum nicht "Konwickiego"? fragt die Schweizerin) findet vom 27. bis 29. Oktober in Krakau statt.
In der "Gazeta Wyborcza" lese ich "W kręgu Tadeusz Konwickiego" (und hier fehlt das Genitiv-a hinter dem Vornamen des Meisters, sagt die Schweizerin, dies ist nicht nur eine spitzfindige Interpretationsfrage, sondern Grammatik pur).

Das Plakat gestaltete Marta Janik (eine junge Grafikerin und Polonistin, die ihre Magisterarbeit über den Kitsch in Konwickis Werk geschrieben hatte) - es wurde an mehreren repräsentativen Orten in der Altstadt rund um die Jagiellonen-Universität aufgehängt. Kein einziges ist übrig geblieben. Jedes einzelne wurde geklaut. So begehrt ist mein Meister in Polen bis heute.

Das Programm der Konferenz ist hier abzurufen:
http://filmoznawcy.pl/?p=977

Montag, 26. Oktober 2009

Warschau

Mein erster Schritt in Warschau führt auf die Sternenallee - oder auf die Allee der Sterne. Aleja Gwiazd. Im Regen. Und in der Dämmerung. Mein Fuß trifft als erstes den Stern mit folgender Inschrift: "Nic nie jest dla mnie zbyt szokujące - Roman Polański."
Wie wahr! Oh Warschau, meine Heimat!

Sonntag, 25. Oktober 2009

St. Crispin

"Die Fölmlis" sind zum Gedenktag des Schuhmacherpatrons im Liestaler Dichtermuseum gelandet.

Samstag, 24. Oktober 2009

Menznau 2

"Die Fölmlis" feiern weiterhin Premiere, von 10.00 bis 16.00 wird zu jeder vollen Stunde gelesen.

Sonntag, 18. Oktober 2009

Der letzte Strandtag

Wir haben beide alle Hände voll zu tun und lassen doch am Mittag alles einfach stehen und liegen. Einer plötzlichen Eingebung folgend, radeln wir kurzerhand ans Meer. Sonniger wird es in diesem Jahr nicht mehr. Heller auch nicht. Und wärmer sowieso nicht.
Dann hocken wir in eine Decke gehüllt nebeneinander auf dem Deich. Und glotzen aufs Wasser. Es ist da - obwohl wir damit nicht gerechnet hatten. Wir sind so unvermittelt aufgebrochen, dass nicht einmal mehr Zeit für einen Blick in den Tidenkalender war. Es sind auch viele Leute da. Mit Hunden und Kindern. Mit Handschuhen, Mützen, Schal. Mit Fahrrädern und Rollstühlen. Mit Luftschiffen, Drachen und anderen Fluggeräten.

Freitag, 16. Oktober 2009

Die letzten Eulen

Wir haben zwei eiskalte Tage und zwei noch kältere Nächte hinter uns. Heute tobt der Sturm ums Haus, heizt die Luft wieder auf 10° auf und fegt die Bäume leer. Als ich am Nachmittag trotzdem aufs Fahrrad steige, um einzukaufen, beobachten mich zwei Eulen. Die eine hält sich tapfer im mittleren Ahorn fest, der schon fast alle Blätter verloren hat. Die andere sitzt im großen Ahorn, der über Nacht sehr blass und gelb geworden ist. Jetzt sitzt ihr da, rufe ich verwundert in das Tosen des Windes. Und sie nicken. Ja, jetzt sitzen wir da. Den ganzen Sommer über haben uns die Krähen mit ihrem ewigen Gezänk tagsüber keine Ruhe gelassen. Die eine würgt zwei Gewölle hervor. Das sind die Überreste von mindestens zwei Mäusen. Ich bin zufrieden, sie sind gesund.

Mittwoch, 14. Oktober 2009

Der erste Frost

Die Äpfel sind noch nicht gepflückt, die Tomaten hängen dicht wie überdimensionierte Trauben in der immer noch wärmsten Ecke des Gartens. Dort, wo die Vorbesitzer den Kompost aufschichteten und die sonst so karge Geesterde offensichtlich gut genährt ist. Auch die wärmste Ecke im Garten wird kalt, wenn die Nachttemperatur unter den Gefrierpunkt fällt.
W. sagt, das sei nur Raureif, und steigt auf sein Fahrrad. Ich schließe das Gartentor hinter ihm und fahre mit dem Finger über die glitzernde stachlige Masse auf dem Holz. Reine Luft ist das nicht, reines Eis auch nicht. Weder Sonne, Schnee noch Regen. Weiß und widerspenstig zugleich. Ein Signal. Der Winter kommt.

Sonntag, 11. Oktober 2009

Kastaniensuppe

Wir mussten uns lange gedulden. Die Edelkastanie hat schon haufenweise Früchte abgeworfen, aber dürre, trockene, unausgereifte. Ich fegte sie alle erbarmungslos in die Biotonne.
Aber nun ist es so weit. Ein halbes Jahr schon liegt Friedas Kastaniensuppenrezept (eigentlich ist es ein Marronisuppenrezept) in der Küche, ordentlich zusammengefaltet in der Soup Bible.
Ich ritze die prallen Marroni kreuzweise ein und koche sie ziemlich lange. Allerdings ohne die im Rezept angegebene Speckschwarte. Das Wasser wird braun, ich schütte es weg. Lasse die aufgeplatzten Marroni etwas abkühlen und schäle sie. Eine Fummelarbeit. Erfordert das Fingerspitzengefühl, das Musterschülerinnen abgeht. Dann püriere ich die Marroni mit etwas Hühnerbrühe. Gieße noch einen halben Liter Brühe auf, gebe einen Gutsch Olivenöl dazu (Speckschwartenersatz), würze vorsichtig mit Paprika, Pfeffer und Kreuzkümmel. Zum Schluss binde ich mit Sojamilch ab (statt Sahne, wie im Rezept). Schmeckt himmlisch!
Mein Kastaniensammler ist so begeistert, dass er nichts anderes mehr essen will.

Samstag, 10. Oktober 2009

Der überraschende Tod 3

Zur Feier des Tages bekomme ich ein Paket aus der Schweiz. Obwohl Samstag ist. Und bereits 16 Uhr. Statt mich des Inhalts zu erfreuen, falle ich über die Verpackung her, renne durchs Haus, suche verzweifelt eine Lupe. Ich kann den winzigen Text auf den zehn blutrotbunten, blumenblütigen, grünblättrigen 180-Briefmarken nicht entziffern. Außer: "... Im Glücke selbst, im Siege sich bescheidet ...".
W. bietet schließlich an, einen Blick ins Internet zu werfen. Mit Erfolg. Er findet die Lupe: "Die Lupe. Das Briefmarkenmagazin" Ausgabe 3/2009, Herausgeberin Die Schweizer Post. Ich habe die "Bescheidenheit" bekommen. Es gibt auch die "Menschlichkeit" (130), die "Selbstgenügsamkeit (100) sowie die "Unabhängigkeit" (85). Die vier Briefmarken bilden den deutschen Abschluss der Sonderbriefmarkenserie "Die Schweiz aus der Sicht ausländischer Künstler". Das Berliner Künstlerduo Kuno Ebert und Katja Dengel setzen auf eine Phantasieblüte und auf ein Stück niemandem bekannte Weltliteratur. Eine Widmung!
Schillers Drama "Wilhelm Tell" wurde am 17. März 1804 in Weimar uraufgeführt. Am 22. April 1804 schickte Schiller ein geschriebenes Exemplar seinem Freund, dem damaligen Kurfürsten von Mainz, Erzbischof Karl Theodor von Dalberg mit folgender Widmung:

Wenn rohe Kräfte feindlich sich entzweien
Und blinde Wut die Kriegesflamme schürt,
Wenn sich im Kampfe tobender Parteien
Die Stimme der Gerechtigkeit verliert,
Wenn alle Laster schamlos sich befreien,
Wenn freche Willkür an das Heil'ge rührt,
Den Anker löst, an dem die Staaten hängen:
Das ist kein Stoff zu freudigen Gesängen.

Doch wenn ein Volk, das fromm die Herden weidet,
Sich selbst genug, nicht fremden Guts begehrt,
Den Zwang abwirft, den es unwürdig leidet,
Doch selbst im Zorn die Menschlichkeit noch ehrt,
Im Glücke selbst, im Siege sich bescheidet:
Das ist unsterblich und des Liedes wert.
Und solch ein Bild darf ich dir freudig zeigen,
Du kennst's, denn alles Große ist dir eigen.

Wo er Recht hat, hat er Recht, der Herr Schiller. Heute will ich niemandem widersprechen, denn wir feiern 190 Monate Ehe. Schillers Gedicht befindet sich nicht nur handschriftlich in Dalbergs Exemplar des "Tell", sondern auch unter dem Titel "Wilhelm Tell" in meinem Bücherregal am Wattenmeer: Schillers Werke, Erster Band, Gedichte, S. 330, Gedicht Nr. 209 (von insgesamt 211 - der Autor starb bekanntlich kurz nach seinem "Tell" im Alter von nur 46 Jahren).

Freitag, 9. Oktober 2009

Der überraschende Tod 2

Jacques Chessex ist heute Abend im Alter von 75 Jahren überraschend in der Stadtbibliothek von Yverdon-les-Bains gestorben. Die Romandie hat ihre wichtigste literarische Stimme verloren.
Chessex hätte über sein Werk sprechen sollen. Über die Dramatisierung seines 1967 erschienenen Romans «La confession du pasteur Burg» (Das Bekenntnis des Pastors Burg). Das Stück hatte gestern Premiere. Da stellt jemand aus dem Publikum eine Frage - nicht nach Chessex' Literatur, sondern nach der Affäre Polanski, greift den Autor heftig an wegen seiner Parteinahme für den Filmregisseur (s.u.). Chessex beginnt zu antworten - es ist keine Viertelstunde nach Beginn der Veranstaltung, der Autor zeigte keine Anzeichen von Schwäche, wirkte vital, sogar humorvoll - bricht zusammen und ist tot.

Keine Schweizer Zeitung hat den Wortlaut zitiert. Ich entnehme ihn L'Express.fr, siehe http://www.lexpress.fr/culture/livre/jacques-chessex-mort-sur-scene_793850.html

"Au moment où la parole était donnée à l'auditoire, un homme s'est levé, se présentant comme médecin généraliste et chef de famille, et, hors de lui, a condamné le soutien à Polanski que Chessex avait exprimé dans La Tribune de Genève : "Ce que vous avez déclaré fait de vous un complice de crimes! Je ne veux même pas entendre votre réponse!" puis se rue effectivement vers la sortie. L'écrivain répond alors, bien que son accusateur soit parti. Il fait d'abord un trait d'humour, "ce généraliste généralise", puis, apparemment ému, rappelle que son avis sur cette affaire implique justement qu'on fasse une distinction entre "le fait et l'affaire". Il s'est alors écroulé, et n'a pas pu être réanimé."

So etwas kann nun allen von uns passieren.
Die Schweiz ist für viele von uns eine Falle des Unsäglichen geworden.

Nachtrag:
http://www.faz.net/s/Rub117C535CDF414415BB243B181B8B60AE/Doc~EB8DA2CE6F5D9494EAB5AFFA363E48C9F~ATpl~Ecommon~Scontent.html

Donnerstag, 8. Oktober 2009

Der überraschende Tod

Der diesjährige Nobelpreis für Literatur geht an Herta Müller. Eine sehr gute Entscheidung. Eine sehr gute Auszeichnung. Für sehr gute Literatur. Nicht für einen Namen, schon gar nicht für einen Allerweltsnamen wie Müller.
Die Autorin wirkt sprachlos bei der ersten Pressekonferenz. Sie tue nur ihre Arbeit, sagt sie. Der Preis sei für ihre Bücher, nicht für ihre Person. Nichts werde sich für sie ändern durch den Preis, denn: "Meine innere Sache ist das Schreiben."

Vor drei Jahren starb überraschend in einem Frankfurter Hotelzimmer Oskar Pastior. Sein einsamer Tod wird mich nie mehr loslassen, er hat sich unausrottbar festgesetzt in meinem Leben. Manchmal ist das so. Dinge, die überhaupt nicht zusammengehören, nichts, aber auch gar nichts miteinander zu tun haben, werden zusammengeschweißt. Ziehen sich an wie die ungleichen Pole zweiter Magnete. Da reichen ein paar klare Gedanken. Oder ein kalendarisches Gedächtnis. Gefühlsleere Zufälle. Es war mein Geburtstag, im Radio las Oskar Pastior in der Vorschau auf die Buchmesse und den Büchnerpreis, und in Berlin wurde eine Mörderin verhaftet. Als ich am nächsten Morgen vom Tod Pastiors erfuhr, dachte ich nur an Herta Müller. Ich wusste, dass Herta Müller und Oskar Pastior an einem gemeinsamen Buch arbeiteten. Herta Müller hatte diese Arbeit einmal in einem Couloirgespräch in einen Nebensatz gepackt: "... denn wir schreiben eine Autobiographie zusammen". Mir hatte es damals die innere Sprache verschlagen. Auf so eine Idee müssen zwei Dichter erstmal kommen. Zwei Stimmen, die unterschiedlicher nicht sein können. Pastior und Müller. Respekt! Dann starb Pastior.

Dafür wurde nun Herta Müller der Nobelpreis für Literatur zugesprochen. Für ihre Arbeit. Für ihre Trauerarbeit. Für ihre Leidensarbeit. Für ihr letztes Buch "Atemschaukel". Dafür, dass es ihr gelungen ist, die Leerstelle nach Pastiors Tod kreativ und literarisch aufzufüllen. Dafür, dass sie bereit war, seine Stimme zu hören und seine Hände zu sehen. Dafür, dass sie die "Sprache für das Unsagbare" findet, immer schon gefunden hat und wahrscheinlich in Zukunft weiterhin finden wird. Das Unsagbare versiegt nie.

Vor zwei Tagen gab Herta Müller der Zeit ein Interview. Siehe hier: http://www.zeit.de/kultur/literatur/2009-10/herta-mueller-interview?page=all

Montag, 5. Oktober 2009

Das Velo des Jahrhunderts

Und hier einmal eine positive Seite meines Vaterlandes: "was e gschiidi übersetzig und müskeli usmache" schreibt mir meine Schulfreundin, die seit Jahrzehnten im Exil in Wien lebt - oder: womit die Schweizer Armeeangehörigen vor den Schergen des NS-Regimes in ihr Réduit geflohen wären, hätten die es gewagt, über den Rhein zu kommen:
http://www.youtube.com/watch?v=0QEjuCLcwyM&feature=player_embedded

Sonntag, 4. Oktober 2009

Der Kuchen des Jahrhunderts

Nein, sagte mir die Frau beim Mühlenbäcker am Freitag, nein, am Samstag hätten sie geschlossen und am Sonntag auch. Der Bäcker, fuhr sie fort, obwohl ich ihr bereits signalisiert hatte, dass ich ihre Antwort zur Kenntnis genommen habe und aus freien Stücken meinen Einkauf um ein halbes Kilo Sonnenblumenbrot geschnitten aufstocke, würde nicht backen. Sie hätten "Zwangsurlaub". Oh, sagte ich bloß und verkniff mir die Bemerkung, dass das doch schön sei.
Erst am Samstag begriff ich, was es für mich bedeutete, wenn der Mühlenbäcker nicht backen wollte und die Mühlenbäckereiangestellte Zwangsurlaub machte. Ich musste selber backen! Zu spät merkte ich, dass wir knapp an Eiern sind und keine geriebenen Mandeln im Haus haben. Haselnüsse tun's auch, dachte ich und schlug sämtliche Eier in die Schüssel.
Erst als die 5 Eier aufgeschlagen waren, sah ich, was ich angerichtet hatte. 10 Eigelb! Eine ganze Schachtel Zwillingseier! Zweifelnd gab ich die restlichen Zutaten dazu und schob die Mischung in den Ofen. Nach einer Stunde schien mir, der Kuchen sehe kläglich aus.
Erst heute Nachmittag schnitten wir den Kuchen an.
Er schmeckt hervorragend. Wie noch nie in meinem Leben.

Samstag, 3. Oktober 2009

Das Buch des Jahrhunderts

Mein Buch des Jahrhunderts ist erschienen. Die ersten Exemplare wurden gestern in der Schweiz den ersten Lesern übergeben.

Mein Jahrhundertbuch kann ab sofort direkt beim Verlag bestellt werden, Lieferung frei Haus in der Schweiz und in Deutschland, zum Preis von Fr 31,80 oder Euro 19,80: kontakt@wartmann-natuerlich.ch

Oder es kann bei einer der folgenden Lesungen mit Widmung erstanden werden:

  • 23. Oktober 2009, 19.00 Uhr gangart, Willisauerstr. 7, CH-6122 Menznau
    Buchvernissage.
  • 24. Oktober 2009, 10.00 - 16.00 Uhr gangart
    Literatur live: Judith Arlt liest zu jeder vollen Stunde Passagen aus „Die Fölmlis".
  • 25. Oktober 2009, 16.00 Uhr Dichtermuseum Liestal, Rathausstr. 30, CH-4410 Liestal
    Lesung anl. des Gedenktages des Patrons der Schuhmacher: St. Crispin
  • 1. November 2009, 11.00 Uhr Sala polivalenta, CH-7559 Tschlin/Unterengadin
  • 22. November 2009, 10.30 Uhr Stadtmühle Willisau, Müligass 7, CH-6130 Willisau

Freitag, 2. Oktober 2009

David und Goliath

Die innenpolitische Brisanz der causa Roman Polanski hat international bisher niemand zur Kenntnis genommen. Wen interessieren schon die Machtkämpfe um Bundesratssitze in der Schweiz. Die Lob aus Amerika steht. Die Schweiz ist (wieder) ein verlässlicher Partner. Das wissen wir schon lange. Die Schweiz war auch im zweiten Weltkrieg ein verlässlicher Partner der deutschen Nationalsozialisten. Hatten nicht damals auch "pflichtversessene" Beamte die Einführung des Judenstempels gefordert? Ohne die Verlässlichkeit des Finanzplatzes Schweiz - ich kann es nicht oft genug wiederholen - wäre der Krieg Monate wenn nicht Jahre früher zu Ende gewesen. Hitler wäre pleite gewesen, da niemand sonst auf der Welt - auch das kann nicht oft genug gesagt werden - noch bereit war, sein Raubgold in eine frei konvertierbare Währung umzutauschen. Wer es vergessen hat, kann es hier gut dokumentiert bis ins allerletzte Detail nachlesen: http://wissen.spiegel.de/wissen/dokument/dokument.html?id=8680325&top=SPIEGEL
Die Schweiz: einst Hitlers Hehler, heute Amerikas Handlanger. Christoph Blocher, der gestürzte Vorgänger der amtierenden Justizministerin, hat sich zu Wort gemeldet. Er hätte Polanski gewarnt und "der Mais wäre uns erspart geblieben": http://bazonline.ch/schweiz/dossier/der-fall-polanski/Blocher-haette-Polanski-gewarnt-Und-der-Mais-waere-uns-erspart-geblieben/story/22326504 . Die Weltwoche titelt "Musterschülerin Eveline": http://www.weltwoche.ch/ausgaben/2009-40/artikel-2009-40-bodenmann-musterschuelerin-eveline.html . Die Arena ist also eröffnet. Ich melde mich dazu wieder in zwei Jahren (Stichwort: "Gesamterneuerungswahlen des Bundesrates" im Jahr 2011), falls die Sache sich nicht vorher erledigt.

Mittwoch, 30. September 2009

Kardamom und Koriander

Die letzte Handvoll Brombeeren koche ich mit Kardamom und Koriander ein. Auf den Ingwer verzichte ich diesmal, gebe aber ein bisschen Zimt dazu. Streue den Gelierzucker darüber, vermische alles sorgfältig und lasse es den ganzen Vormittag stehen. Am Nachmittag reibe ich, damit ich auf eine mathematisch eindeutige Größe komme, zwei eben vom Apfelbaum gefallene saure Äpfel auf der Bircherraffel hinein. Meine diesjährige Marmeladeküche dominierten scharfe Gewürze. Am Schluss müssen wir alles selber aufessen. Und was schenke ich Schwiegermutter zu Weihnachten?

Sonntag, 27. September 2009

"Der einzig mögliche Weg"

Roman Polanski wurde ans Zürcher Filmfestival eingeladen. Die Festivaljury wollte ihn heute Abend mit dem "Goldenen Auge" für sein Lebenswerk auszeichnen. Bei seiner Ankunft am Flughafen Zürich wurde Polanski gestern Abend festgenommen. Grund: ein nicht abgeschlossenes Missbrauchsverfahren in den USA aus dem Jahr 1978. Bundesrätin Widmer-Schlumpf, Justizministerin, erklärt: "Die Verhaftung war rechtsstaatlich der einzig mögliche Weg." Und weiter: Polanski sei gestern seit dem internationalen Haftbefehl vom Jahr 2005 zum ersten Mal "angekündigt" in die Schweiz eingereist.

Interessant, dass Polanski bisher in der Schweiz nie verhaftet wurde. Auch unter dem Vorgänger von Widmer-Schlumpf im Justizministerium, Bundesrat Blocher nicht. Dies, obwohl der "weltberühmte Filmemacher" mit französischer und polnischer Staatsbürgerschaft regelmäßig seine Ferien in der Schweiz verbringt. Zum letzten Mal im August diesen Jahres. Im eigenen Ferienhaus. In Gstaad.

Adolf Muschg schrieb vor wenigen Tagen in seinem "Bettagsmandat": "Ein Land, das so wenig Freunde hat, braucht keine Feinde mehr." In der Tat braucht dieses Land keine Feinde mehr. Es hat bereits alle.

Donnerstag, 24. September 2009

Zwillingseier

Mein Koch ist verreist und ich verpflege mich zähneknirschend selbst. Bevor ich in den Zug nach Hamburg steige, brate ich mir Kartoffeln aus eigener Ernte und schlage zwei Eier darüber. Strohwitwenküche, denke ich trübsinnig. Draußen fällt leichter Regen. Und drinnen fallen aus einem Ei zwei Eigelb in die Pfanne. Ich bin überrascht und überlege einen Moment, ob ich noch ein zweites Ei brauche oder ob bereits zwei Eier über meinen Kartoffeln liegen. Ich habe einen langen Nachmittag außer Haus vor mir, also schlage ich auch das zweite Ei auf. Wieder fallen zwei Eigelb in die Pfanne. Einen kurzen Augenblick zweifle ich an meinem Verstand. Dann an meiner Sehkraft. An meinem mathematischen Gedächtnis. Und schließlich an meinem Sprachgefühl. Ich hole den Duden in die Küche, verfalle ins Grübeln und verpasse fast meinen Zug ob dieses unalltäglichen Plurals. Habe ich zwei oder vier Eier auf meinem grünen Teller? Verspeise ich zu meinem einsamen Mittagessen nun vier Eigelb, vier Eigelbe oder gar vier Eigelbs?

Mittwoch, 23. September 2009

Schafweide

Kaum stelle ich mir Schafe auf unserem Grundstück vor (siehe gestern), stehen sie auch schon zuhauf vor unserem Haus. Unten auf der Bürgerweide, wo im Mai der Raps mit der Sonne um die Wette glühte, wühlen nun Schafe wollüstig durch das kniehohe Grün, das nach der Ernte bei dem milden Wetter nachgewachsen ist. Dutzende, Hunderte, ich kann sie nicht zählen, unendlich viele runde, sanfte, weiche, pralle Schafrücken ragen aus dem unendlich weiten Feld. Es macht ganz den Anschein, als seien sie im Paradies angekommen.

Dienstag, 22. September 2009

Meine bescheidene Ernte

Ich hole etwa 5 Kilogramm Kartoffeln aus dem Kartoffelbeet. Nehme zwei Hokkaidokürbisse ins Trockene und schon wieder eine Zucchini. Noch gibt es mindestens drei erfolgversprechende Prachtblüten. Und zwei zaghafte Minis. Auch die beiden grünen Kürbisse lasse ich weiterwachsen, in der vielleicht müßigen Hoffnung, dass trotz Lebkuchen und Dominosteinen in den Meldorfer Läden der November noch nicht angebrochen sei. Der erste Herbststurm ist für morgen angekündigt. Ich mähe Rasen und betrachte sorgenvoll den Apfelbaum. Auch seine Früchte brauchen noch Sonne. Nur die Tomaten reifen, Weihnachten hin oder her, hemmungslos weiter.
Ich grabe die Erde um, dort wo nichts mehr drin ist außer Regenwürmern und Pfefferminzwurzeln. Ich finde ein Geldstück. Es liegt ungewohnt leicht in der Hand. Ich kratze die Erde ab. Es ist Eine Mark der Bundesrepublik Deutschland. Geprägt 1957. Damals standen unsere Häuser noch gar nicht, denke ich und blicke in den Himmel. Auch die der Nachbarn nicht. Damals war hier, denke ich und blicke zu Boden, Acker. Oder Weide. Pferdeweide. Kuhweide. Schafweide. Wir beide, W. und ich, wurden in jenem Jahr, im Abstand von einunddreißig Wochen und drei Tagen, geboren. Also lege ich die rostige Münze auf die Küchenfensterbank.

Montag, 21. September 2009

Dithmarscher Kohltage

Die Dithmarscher Kohltage seien ein voller Erfolg gewesen, lese ich in der Zeitung. Vom Kohlanschnitt im größten zusammenhängenden Kohlanbaugebiet Europas über die längste Kohltafel der Welt, den Kohlmarkt, die Krautwerkstatt, eine Kunstausstellung, den Kohl-Walk, die Kohlmeile und das Kohlvergnügen bis hin zur 3. Krauthobelweltmeisterschaft - alles eine runde Sache. Die Dithmarscher verteidigten ihren Weltmeistertitel im Krauthobeln erfolgreich gegen fünf andere Teams und errangen mit 17.450 Gramm gehobeltem Spitz-, Rot- und Weißkohl die Goldene Forke. Vize-Weltmeister wurde die Landjugend Marne, den dritten Platz sicherten sich die Westküstenfischer Urthel.

Sonntag, 20. September 2009

Eidgenössischer Dank-, Buss- und Bettag

Zur üblichen Sonntagvormittagsgottesdienstzeit gebe ich hier statt einer Predigt zwei Lektüreempfehlungen ab:

Dienstag, 15. September 2009

Windstärke 6

Wie wohltuend ist der Nordseewind. Das Haus riecht feucht, wenn tagelang keiner da war. Heute fangen die Dithmarscher Kohltage an.
Wer unsere Reise im blog verfolgt hat, kann jetzt noch einmal zurückblättern bis zum 3. September. Und wird - ich verspreche es - sein blaues Wunder erleben.
Ich sperre derweil alle Fenster auf, hänge Wäsche in die Sonne (ja, das Wetter ist besser als am Mittelmeer), gehe einkaufen, räume liegengebliebene Ladungen aus dem Weg, gucke nach den Tomaten und sehe überhaupt überall zum Rechten.

Montag, 14. September 2009

Meldorf

In der Nacht zerrte der vento di Venezia an den Bäumen und Sonnenschirmen auf der Isola di Certosa. Wir verlassen Venedig im Regen durch die Luft und mit einem neuen Koffer. Meine einzige Sorge galt den Fahrradtaschen mit ihren genialen Verschlüssen und meinem Imbusschlüsselset. Das alles ist nicht gemacht für eine Flughafenabfertigung. Wir starten geradewegs in ein Gewitter hinein. Unser Flugzeug - in diesem Fall ein Farraday'scher Käfig - wird von einem Blitz getroffen. Wir landen pünktlich und unversehrt in Hamburg. Am Bahnhof Altona treffen wir die ersten Fernradwanderer dieser Reise. Zwei Schweizerinnen, die von Prag nach Hamburg geradelt sind und auf den Nachtzug nach Zürich warten. Uns bringt die NOB über den Nordostseekanal nach Hause. Am Bahnhof Meldorf treffen wir die zweiten Fernradwanderer dieser Reise. Sie warten auf den Gegenzug nach Hamburg.

Sonntag, 13. September 2009

Fare Mondi 5

... und hier die Fortsetzung der Auslage. Das letzte Bild. Viele einzelne durchsichtige, beleuchtete Schuhe mit einer einzigen Hand. Und einem einzigen Hut. Während wir keuchend durch die Lagunenstadt stapfen, ist die Schuhfrau mutterseelenallein unterwegs auf den Spuren ihres Großvaters. Und denkt an mich. In Form einer SMS. Ich denke an sie. Unweigerlich an sie. Bei allen Schuhen. Und wie erst bei solch spitzen, unhandlichen Glasschuhen. Noch einmal ruft das Motto: rotto!

Fare Mondi 4

Wir sind den ganzen Tag durch Venedig gelatscht auf der Suche nach Kunst. Wir können schon nicht mehr gucken, geschweige denn stehen oder laufen. Da kommen in einer Gasse Schuhe zum Zuge. Schuhe für meine Schuhfrau. Ganz und gar unbrauchbare Schuhe. Schuhe aus Glas. Schuhe aus Cocacolaflaschen ...

Fare Mondi 3

Wir durften den ganzen langen Weg auch mitmachen, auch wenn wir bisher nicht zu Wort kamen!
Wir sitzen vor der Kirche in San Stae und sind enttäuscht und entsetzt. Fabrice Gygi hat in diese schöne alte Kirche schnöde Metallkellerregale hineingestellt. Monströse, langweilige, mit Vorhängeschlössern abgeschlossene, leere Regale. Der Künstler will uns damit sagen, so steht es in der Pressemappe, die wir uns am Eingang gleich unter den Arm geklemmt haben, "dass ein Kirchenraum dafür bestimmt ist, geistige wie auch materielle Werte zu bergen, in normalen wie in krisengeschüttelten Zeiten." Die Kirche als Bank. Was wohl die Bayern dazu sagen. Oder der Ozeangleiche Lehrer. Oder der Erwachte. Der Erleuchtete. Der Prophet. Der eine. Und der andere. Oder die Forstverwaltung, unser - der Bären und Pinguine - geistliches Oberhaupt. Der Tempel als Bank. Nicht als Holzbank im Wald, am Straßenrand oder auf einer Eisscholle. Zum Hinsetzen. Für uns gottesfürchtige Wanderer. Sondern als Geldinstitut. Wenn zum Beispiel die Tresore der UBS ausgedient haben.

Samstag, 12. September 2009

Chengdu, I love you

Wir stehen an der Esso-Tankstelle am Lido und warten auf das Schiff, das uns nach Certosa bringt. Wir sind sprachlos. Einen so schlechten Film haben wir beide in unserem ganzen Leben noch nie gesehen. Rotto. Chengdu nach dem Erdbeben vom letzten Jahr. Chengdu im Jahr 2029. Und Chengdu im Jahr 1976. Ein Science Fiction Film, der von insgesamt 80 Minuten (mein Reiseleiter tröstete mich im voraus, es sei ein "kurzer" Film) mindestens 30 Minuten lang Kulturrevolution vom Schönsten präsentiert. Der sein spätes Ende - wie lange können 80 Minuten sein! - endlich mit Maos Tod findet. Pünktlich um 16 Uhr. Man stelle sich einmal vor, ein Osteuropäer, egal welcher couleur, würde heute einen SF-Film drehen, der mit Stalins Tod endet. Wir sind sprachlos. Fassungslos. Stehen an einer Tankstelle in Venedig und warten auf die Vigilanza (die Wachsamkeit), das Certosa-Hausboot. Ich dachte immer, die Polen seien Weltmeister in Romantik und Kitsch, wenn es um die Bewahrung, Tradierung des Nationalstolzes geht. Aber Chinesen können alles besser (making perfect world). Sogar ein Punkrocker.
Das einzige, was der Film uns Europäern sagt: wie man richtig Tee aufgießt. Und wie man richtig matto ist.

Mostra Internazionale d'Arte Cinematografica

W. hat Karten für die Filmbiennale besorgt. Er hatte die Wahl zwischen Pippiloti Rists "Pepperminta" und Cui Jians "Chengdu, wo ai mi". Es ist klar, wofür er sich entscheidet. Ich schließe mich seiner Wahl klaglos an, habe ich doch kürzlich in einem Interview gelesen, dass Pippilotti Rist tatsächlich der Meinung ist, die Schweizer Steckdosen seien die schönsten der Welt. Sollte sie es ironisch gemeint haben, ist es den Interviewern nicht gelungen, die Ironie im geschriebenen Text unterzubringen.
Also gucken wir uns nach der Verleihung des goldenen und silbernen Löwen, nachdem alle wichtigen Leute den roten Teppich abgeschritten haben, in der Sala Grande am Lido jetzt einen Film an, der außerhalb des Wettbewerbs gezeigt wird. Den ersten Science Fiction Film aus der VR China. Mal sehen.
Der Regisseur Cui Jian war früher Punkrockstar. Und hier steht er in seiner für ihn typischen Körperhaltung neben meinem persönlichen Reiseleiter und lächelt mich freundlich an.

Fare Mondi 2

Arsenale. Im Chinesischen Pavillon steht das Wort endlich an einer stillgelegten Maschine angeschrieben. In Versalien. ROTTO. Das Wort gehört nicht zur Präsentation der chinesischen Künstler What is to Come.
Arsenale. Gegen Ende oder ganz am Anfang, wir haben hinten angefangen, weil wir von unserer Insel der Seligen schneller (schwimmend!) zur Stazione San Pietro gelangen, kommt uns wieder Michelangelo Pistoletto mit dem pseudonimo perfetto und seinen Spiegeln entgegen. Wir sehen nur das Resultat. Zerbrochene Spiegel. Twenty-Two less Two. 22 Spiegel. Davon schlug er selbst am 8. Juni 2009 zwanzig kaputt. Rotto. Wie das geht, kann hier verfolgt werden:
http://www.youtube.com/watch?v=Y2JwlFNUlg8
Arsenale, Outside. Opposite the main entrance. Campo della Tana, Castello. Hong Kong. Making (perfect) World. Von Pak Sheung Chuen. Natürlich. Ein Chinese (born 1977 in Fujian, immigrated to Hong Kong 1984) kann das besser.

Freitag, 11. September 2009

Fare Mondi

Die erschaffenen oder geschaffenen, gezeigten, vorgeführten Welten im Giardini erweisen sich fast allesamt als ... rotto. Unser Motto aus Bassano del Grappa. Rotto.
Zerbrochene Beziehungen ("you will never see me again"). Zerbrochene Häuser. Zerbrochene Bleistifte. Zerbrochene Karrieren (der tote Schriftsteller im swimming pool vor dem Pavillon der Nordischen Länder). Zerbrochene Spiegel (siehe morgen). Zerbrochene Illusionen (der französische Pavillon). Zerbrochene Geschichten. Zerbrochene Geschichte. Zerbrochenes Leben.
Zerschnittene Weltkarten. Aufgehobenes Gewissen. Feigheit. Bequemlichkeit. Gedankenlosigkeit. Bis hin zur Anweisung eines Belgiers, wie Obdachlose sich von Kräutern an Straßenecken in den Metropolen dieser Erde - nicht ernähren, sondern heilen, zB ihre Zahnschmerzen lindern könnten. Rotto. Matto. Risotto.

La Biennale di Venezia

Es ist kaum zu glauben, dass es in Venedig einen so ruhigen Ort wie das Hotel Certosa gibt. Deshalb haben wir die Strapazen durch die Dolomiten auf uns genommen, um hier anzukommen und auszuschlafen. Um heute wieder in die 41 einzusteigen, übers Wasser zu fahren und an der Station Giardini auszusteigen. Um die 53. Esposizione Internationale d'Arte zu sehen. Sie steht unter dem Motto Making Worlds. Fare Mondi. Mal sehen.
Als erstes ist uns gestern bei der Ankunft auf der Insel schon die città ideale entgegengekommen. Eine durchlässige chinesische Mauer aus Glassteinen, the open wall von Shan Shan Sheng. Die Lippen von Claire Becker, the air we breathe. Und anderes. Den schwarzen Elefanten, der nie zum Zirkus kommt. Für mich sieht er so aus - auch wenn die Künstler etwas ganz anderes gemeint haben mögen, siehe hier http://berengocollection.wordpress.com/berengo-collection-la-citta-ideale-collateral-event-53rd-venice-biennale/. Und Animeated Scene von John Gerrard - eine realtime-Installation, mit der der Zuschauer auf keinen grünen Zweig kommt.

Donnerstag, 10. September 2009

Contenti

Wir sind heute 189 Monate verheiratet.

In der größten Nachmittagshitze packen wir die Fahrradtaschen auf unsere Menschenrücken, laufen vom Hotel Roma zum Bahnhof in Mestre, kaufen zwei Fahrscheine zu je einem Euro und fahren mit dem Zug über die Lagune, über den Ponte della Libertà nach Venezia Santa Lucia. An der Station Ferrovia warten wir geblendet vom Septemberlicht auf die Linie 42. An der Isola della Certosa hält das Schiff nur für uns.

Malcontenta

Der letzte Höhepunkt - der Endpunkt der Fahrradreise: das verschlossene Tor vor der Casa Foscari in Malcontenta. Die Fahrräder sind ganz, die Fahrradfahrer sind gesund, das Gepäck ist vollständig. Wir haben noch ein paar Kilometer durch das Hafengebiet vor uns. Es ist viel weniger schlimm, als wir dachten. Um 14 Uhr geben wir in Mestre im Hotel Roma an der via Beccharia die Leihräder und Leihhelme ab. Stellen die Taschen in eine Ecke. Und setzen uns an die Bar. Trinken Wasser.


Nostra via 4: San Crispino

Bevor wir Stra verlassen, besichtigen wir die Villa Pisani. Im Garten Kunst. Steine von Richard Long. Aber die Natur holt sich ihr Revier unerbittlich zurück. Long hin oder her. Kunst hin oder her. Seine Erklärung Stone signs that help to consider the order of the Earth hin oder her. In der Villa im Ballsaal unter Tiepolos Deckengemälde der Mittelmeerspiegeltisch von Michelangelo Pistoletto (wenn das nicht ein pseudonimo perfetto ist!). Perfekte Illusion. Spiegelung. Umkehrung. Was oben ist, ist unten. Wir mussten auf die Tofana hochsteigen, um hier unten anzukommen.
Dann brechen wir auf. San Crispino auf der gegenüberliegenden Straßenseite gibt uns das Geleit. Unser letzter Tag auf den Fahrrädern. Und nochmals mehrere Höhepunkte der Reise. Die Brentavillen am Brentakanal mit ihrem Trauerweidenzauber.

Mittwoch, 9. September 2009

Nostra via 3: Stra

Wir nähern uns einem weiteren Höhepunkt der Reise: den Palladio-Villen. Wir begegnen überall Hochzeitspaaren und Hochzeitsschleifen, oggi sposi ... am Neunten Neunten Nullneun. Wir fahren entlang des Bacchiglione, der alten Wasserstrasse von Vincenza nach Padua. Wir besichtigen die Villa Rotonda. Und die Villa Valmarana ai Nani. Mit Fresken von Tiepolo Vater (Giambattista) und Tiepolo Sohn (Giandomenico). Schon Goethe hat sich eindeutig wertend dazu geäußert. Mein Reiseleiter ergötzt sich an der Chinoiserie.

Es ist heiß und windig. Der anstrengendste Tag auf dem Fahrrad. Ich verfluche den Helm, der mir nur die Luft abschneidet. Den Augen keinen Schatten gönnt. Als es regnete, wurde mein Haar tropfnass darunter. Padua ist rumpelig, eng. Mein perfekter Kartenleser fährt am liebsten durch Einbahnstrassen. Natürlich in verkehrter Richtung. Toast am Dom. Und ein Schluck Wasser. Wolken ziehen auf. Wir suchen im Berufsverkehr den Ausweg aus dieser Stadt. Den Brentakanal. Canale Brentella. Dann auf Kies bis Stra. Mit der Abendsonne im Rücken. Auch das Gewitter hat keine Lust mehr. Mit dem Wind mitten im Gesicht. Stra - auch eine Stadt mit nur einem Hotel. Alighieri. Daneben die beste Pizzeria unserer Reise: L'imperfetta. Mein Reiseleiter isst Decamerone (von allem etwas), ich I promessi sposi (Gorgonzola, Mozzarella, Walnüsse).