Montag, 31. Mai 2010

Weltuntergang

Am Morgen im Bad frage ich W., ob der Weltuntergang heute eintreffe.
Nein, sagt er, der Weltuntergang stand gestern auf der Tagesordnung.
Also hat es wieder einmal nicht geklappt.
Oder: der Weltuntergang ist bereits so omnipräsent, dass wir vor lauter Wald die Bäume nicht mehr sehen.

Sonntag, 30. Mai 2010

Minzepesto

Beim Unkrautsammeln fällt mir so viel Pfefferminze in die Hand, dass ich weiter experimentiere. Pfefferminze vermehrt sich in unserem Garten rasanter als Giersch oder Maiglöckchen. Eine Bioorange habe ich noch. Also schabe ich ihre Schale ab, reibe Parmesan, zerhacke Pistazien, eine rote (Red Pepper) und eine gelbe (Yellow Adjoema) von den Kernen befreite, scharfe Pfefferschote und vermische alles mit einem wahren Zauberberg säuberlich von den roten Stängeln abgezupften, zum Teil betörend jungen Pfefferminzblättern in meiner Küche. Gebe Olivenöl dazu und lasse es vom Standmixer zerstampfen. Ergibt gerade mal zwei Gläschen hochkonzentrierten Grüns. Gierig putze ich den Glasaufsatz mit einem halben Brötchen, dem Rest vom gestrigen Frühstück, aus.
Es regnet den ganzen Tag ohne dass wirklich Wasser vom Himmel fällt. Und ohne, wie angekündigt, Blitz und Donner.

Samstag, 29. Mai 2010

Rhabarberernte

Rhabarber soll man nicht nach Johannis ernten, lese ich. Bis Johannis ist es noch weit, also experimentiere ich mit den bereits dicken roten Stängeln und Bioorangen (der Schale wegen, die in schmalen Streifen mit in die Marmelade soll).
Aus Übermut gab ich gestern noch ein dickes Stück Ingwer klein gehackt dazu und ließ das Gemisch mit einem Pfund Gelierzucker 2:1 (der Professor meinte, die Angabe auf der Packung sei ein Vorläufer der Fußball-WM) über Nacht Saft ziehen.
Heute Morgen setze ich den Topf auf den Herd und koche das Dickflüssige sechs Minuten sprudelnd. Sechs meiner Zwergenwiesegläser, die ich das ganze Jahr sammle, werden voll.
Was über ist, eine gute Frühstücksportion, bekommt der Professor auf seine Samstagskliffkante.
Wir beschließen, keines der sechs Gläser zu verschenken, so gut schmeckt ihr Inhalt (wer was abhaben will, muss schon für B&B zu uns kommen), und radeln an den Strand.

Freitag, 28. Mai 2010

Dreiecksgeschichten

Meine Schuhfrau schickte mir vor einem Jahr meinen Duden nach. Als ich die Schweiz nach vier Monaten wieder verließ, hatte er keinen Platz in meinem Koffer.
Sie legte zwei Original Menznauer Meierisli-Pflanzen, die Wurzeln sorgsam mit feuchter Watte und einem wasserundurchlässigen Umschlag umwickelt, in den Schuhkarton.
Sie überlebten den harten Winter oder den Kulturschock nicht. Jedenfalls zeigten sie sich in diesem Jahr nicht mehr an der Stelle, an der ich sie eingepflanzt hatte.
Dafür spießen nun Maiglöckchen, wahrscheinlich Meldorfer Ursprungs, dort, wo ich den Giersch bereits relativ erfolgreich mit Haut und Haar ausgegraben habe. Im Internet lese ich, dass Maiglöckchen den Giersch verbannen, denn sie bilden ähnlich unendliche unterirdische Wurzeln, nur viel kräftigere. Also auch Maiglöckchen wird, wer sie einmal zu sich eingeladen hat, nicht mehr los.
Außerdem lese ich und überprüfe es sofort an Ort und Stelle, dass Giersch einen dreieckigen Stängel hat. Tatsächlich! Wozu braucht eine Pflanze drei Ecken? Auch produziert das wuchernde Unheilkraut (ich habe bereits Suppe daraus gekocht!) "doppelt dreizählige oder zweifiedrige" Blätter mit an den Rändern eiförmig-länglichen, gesägten Abschnitten.

Mittwoch, 26. Mai 2010

Gierschrezepte

In einem Unkrauthandbuch lese ich, die einzige erfolgreiche Methode, Giersch (Aegopodium podagraria), aufgrund seines Aussehens auch Geißfuß genannt, im eigenen Garten loszuwerden sei: Umziehen.
Für mich kommt Umziehen in diesem Leben nicht mehr in Frage. Höchstens noch im Sinne von "schmutzige Kleider wechseln".
Also experimentiere ich.
Zuerst mit Wörtern. Giersch trägt auch Trivialnamen wie Dreiblatt, Ziegenkraut, Ziegenfuß, Hinfuß, Zipperleinskraut, Podagrakraut, Schettele, Baumtropf oder Wiesenholler, Erdholler. Weil er in der Volksmedizin Verwendung fand. Seit jeher. Zur Linderung von Schmerzen. Bei Rheumatismus oder Gicht (lat. podagra).
Dann mit Krankheiten. Giersch soll den Stoffwechsel anregen, krampflösend, abführend, antirheumatisch, beruhigend, entgiftend, harnsäurelösend, entzündungshemmend und blutreinigend wirken. Die getrockneten oder frischen Blätter können als Tee aufgebrüht werden. Das frische, zerquetschte Kraut wirkt als Umschlag gegen Rheuma und Gicht. Auch gegen meine Rhizarthrose. Praktisch soll das zwischen den Fingern zerriebene Kraut auch unterwegs sein. Bei Wanderungen. Gegen Insektenstiche. Oder bequem zu Hause. In der Badewanne. Im Sitzbad gegen Hämorrhoiden.
Dann in der Küche. Giersch soll ein wohlschmeckendes Wildgemüse sein. Enthält viel Kalium, Vitamin C, Karotin und Eisen. Frische Triebe wirken im Frühjahr als Salat entschlackend. Aber auch Pesto, Kräutersuppe oder Kräuterquark kann mit Giersch zubereitet werden. Wir kochen heute Spargeln und Pellkartoffeln. Dazu eine Buttersauce mit gehackten jungen Gierschblättern. Schmeckt hervorragend!

sto lat

sto lat, pomyślności oraz szerokiej drogi twórczej
dla Marii K.!

Dienstag, 25. Mai 2010

Tomatenpflanzen

Ich bestellte fünf Tomatenpflanzen bei den Bauern, die unsere Biokiste jede Woche aufs Neue füllen.
Und heute standen sie vor der Tür, kräftig, aufrecht, fordernd mit den ersten Blüten, wunderbar duftend, säuberlich beschriftet:
Black Cherry (eine Stabtomate, angeblich die erste und einzige schwarze Cocktailtomate), Flavance (Mehltautolerant, sehr wüchsig, deutlich höherer Zucker- und Säuregehalt als herkömmliche Sorten, hoher Lycopingehalt), Kirschtomate, Berner Rose (alte Schweizer Sorte, Fleischtomate, dicke dunkelrosa Früchte mit hellen Punkten) und Kleine Gelbe aus Estland (reichtragend, milde, gelbe Früchte).
Ich gehe also in den Garten. Trotze dem scharfem Wind. Und pflanze meine internationale bunte Mischung in der Abendsonne in die immer noch wärmste Ecke.

Sonntag, 23. Mai 2010

Sandsalzkäfer

Der Prächtige Salzkäfer (Bledius spectabilis) ist ein smartes Tierchen (schwarz mit roten Flügeldecken) und gehört zur großen Familie der Kurzflügelkäfer. Er lebt im Überflutungsbereich der Außensände, nahe der Hochwasserlinie im kahlen Klei, dort wo sich die ersten Pionierpflanzen ansiedeln. Der Salzkäfer ist ein Algenfresser, er schabt sein Futter von den obersten Sandkörnern ab, die dem Sonnenlicht ausgesetzt sind. Mit anderen Worten: er weidet mikroskopische Algenmatten von der Sandoberfläche ab. Wind und Wellen sind aber auch für Salzkäfer Grund genug, sich zu verkriechen. Er gräbt mit Hilfe seiner kräftigen Kieferzangen und der bedornten Vorderbeine eine unterirdische Wohnröhre und richtet sich fürstlich ein mit Speisekammer (dort lagert für schlechte Zeiten ein Algenvorrat), Toilette (Vertiefung am Ende des Gangs, in der säuberlich die Kotschnüre aufgestapelt werden) sowie bis zu 30 Brutkammern (gehen seitlich von der Röhre ab, in jeder wird ein Ei nicht einfach abgelegt, sondern an einem kleinen Stielchen an die Wand geklebt, so dass es frei in der Luft hängt und im dunklen feuchten Sand nicht verdirbt). Die Wohnröhre knickt am oberen Ende ab - so ist die Luftversorgung auch während der Überflutungen sichergestellt: wie im U-Rohr beim Waschbecken bleibt hier immer eine Luftblase hängen. Der enge Ausgang kann bei Überflutungen schnell verschlossen werden.
Im Herbst lassen sich die Salzkäfer von den Stürmen an die Küste spülen. Dort graben sie sich ein und überwintern dicht an dicht. Bis zu 20.000 Exemplare finden pro Quadratmeter im Sandboden Platz! Ab April fliegen die Käfer wieder hinaus auf die weiten Sände.

Samstag, 22. Mai 2010

Unser Erster Tag des Fahrrads

Wir radeln die Küste von Norden ab. Von Lunden wollten wir auf dem schnellsten Weg an die Eidermündung, und von dort mit dem Wind im Rücken gemütlich nach Süden, über Büsum und durch die Meldorfer Bucht nach Hause fahren.

Aber der Zehnuhrzug hielt nicht in Lunden. Sondern erst in Friedrichstadt. So verlängerte sich unser erster Tag auf dem Fahrrad um gute fünfzehn Kilometer, die Überquerung der Eider auf der seit heute wieder offenen Eiderbrücke, mehrere Schafweiden und blühende Rapsfelder sowie einen unendlichen Himmel zwischen Sankt Annen und dem Lundener Moor. Die erste Pause machten wir beim Geschlechterfriedhof in Lunden (13 Grüfte, Erdhügel mit verwaschenen Steinplatten der mächtigsten Familien Dithmarschens, Sühnestein für den 1537 ermordeten Dithmarscher Regenten Peter Swyn - mutet alles etwas heidnisch an, in der St.-Laurentius-Kirche ein kurzer Abriss der blutrünstigen Lokalgeschichte).
Zweite Pause am Seglerhafen bei Schülperneuensiel. Käsebrötchen. Quakende Knäkenten. Löffelenten. Reiherenten. Und eine halbe Banane. Dann bei heftigem Gegenwind durch den Wesselburener Koog und die Sommerköge an die Küste. Ebbe. Aufgeregtes Kreischen in der Luft. Uferschnepfen, Feldlerchen, Wasserrallen, Tüpelrallen, Teichrohrsänger, Schilfrohrsänger, Rohrammer, Kiebitze, Austernfischer, Wiesenpieper, Rotschenkel ... alles hält Festmahl im Watt. Dritte Pause ohne Verpflegung, mit kontemplativem Lauschen.
Vierte Pause am Badestrand vor Büsum. Ich gehe Wattsammeln (siehe 15:20), der Professor fotografiert.
Fünfte Pause in Deichhausen. Endlich Kaffee und kein Erdbeerkuchen (ausverkauft), dafür warmer Apfelstrudel mit Eis.
Sechste Pause im Garten, letzte Sonnenreste und Sekt. 77 Kilometer sagt der Fahrradkomputer. Meine Höchstgeschwindigkeit 35,2.

handcare

Der Wattschlamm soll gut für meine Hand sein, sagt der Orthopäde. Deshalb schmiere ich sie liebevoll ein, so oft es geht.

Wattsammeln

Das Wattenmeer nördlich von Büsum bei Niedrigwasser.

Freitag, 21. Mai 2010

Rasenlüften

Rasen kann nicht nur gepflegt, geschnitten, gedüngt, entmoost, vertikutiert werden. Rasen kann auch gelüftet werden. Mein Vertikutierer ist mit einer zweiten Walze geliefert worden, einer Lüftungswalze. Es wird empfohlen, den Rasen vor dem Lüften auf 2 cm zu mähen. Also mähe ich den Rasen auf der Südseite. Hier sind die moosfreien kahlen Stellen schon etwas zugewachsen. Danach wechsle ich die Walze aus, löse die Zylinderschrauben am Lagersitz, hebe die Vertikutierwalze heraus und schiebe den Sechskantansatz der Lüftungswalze in die Antriebsöffnung, schraube die Zylinderschrauben am Lagersitz wieder fest. Ich lüfte mit dem Vertikutierer den Rasen und erhöhe so die Wasser-, Luft- und Nährstoffaufnahme im Wurzelbereich. Der Lärm ist derselbe wie beim Vertikutieren. Kompostierbarer Abfall entsteht keiner. Das bisschen Moos, das noch an die Oberfläche befördert wird, überlasse ich dem Wind.

Donnerstag, 20. Mai 2010

Europäischer Tag der Meere

Heute wird zum dritten Mal der Europäische Tag der Meere gefeiert - nicht zu verwechseln mit dem Tag des Meeres, der 1992 auf dem Erdgipfel der Vereinten Nationen in Rio ins Leben gerufen und auf den 8. Juni festgesetzt wurde.
Den Europäischen Tag der Meere hat - wie könnte es anders sein - die EU in die Welt gebracht. Er soll „Teil der Strategie für eine integrierte Meerespolitik“ sein.
Denn: Die Meere sind ökonomisch und ökologisch von zentraler Bedeutung. Zwei Drittel der Europäischen Grenzen verlaufen entlang von Küsten. 22 von den 27 Mitgliedstaaten der EU sind Insel- oder Küstenstaaten. Mehr als 400.000 Menschen arbeiten in der Fischerei und fischverarbeitenden Industrie Europas. Die Fläche der zur EU gehörenden Hoheitsgewässer ist größer, als das gesamte kontinentale Hoheitsgebiet der Staatengemeinschaft.

Der NABU - der Naturschutzbund Deutschlands - macht auf das unveränderte Artensterben in den Meeren aufmerksam und nennt den heutigen Tag einen Trauer-„Tag der Meere“. Weder mit Blick in das Mississippidelta noch auf Louisianas Feuchtgebiete. Sondern mit Blick nur in heimische Gewässer. Hier werde der gesamte Fischereisektor bald zusammenbrechen, warnt der NABU-Präsident, wenn nicht ein radikales Umdenken erfolge und ein wirklicher Ausgleich von Schutz- und Nutzerinteressen geschaffen werde. ZB in Form von Fangbeschränkungen für stark bedrohte Bestände wie Kabeljau, Thunfisch, Schwertfisch und Anpassung der Fangkapazitäten.

Die Europäischen Meere, sagt der NABU, seien Orte intensiver industrieller Nutzung geworden. Aber eben nicht nur die Europäischen. 99% der belebten Biosphäre finden sich in den Meeren, sie beherbergen Hunderttausende faszinierende Arten. Aber nur ein Bruchteil davon sei unter Schutz gestellt. 88% der kommerziell genutzten Fischarten in den europäischen Gewässern seien überfischt. Bestimmt nicht nur in den Europäischen. Auch im offiziellen UN-Jahr der biologischen Vielfalt, klagt der NABU, sei es nicht gelungen, stark bedrohte Arten wie den Roten Thun, den Heringshai oder Dornhai effektiv zu schützen.


Mittwoch, 19. Mai 2010

Miesmuschelhoffnung

Die zu Zuchtzwecken an die Wattenmeerküste geholte Pazifische Auster mag milde Winter und warmes Wasser. So kann sie sich besser vermehren. Seit mehr als zehn Jahren verdrängt sie kontinuierlich die heimische Miesmuschel. Biologen schätzen, dass bis zu 50 % der aus der Zucht verwilderten Pazifischen Austern den letzten Winter nicht überstanden haben.
Miesmuscheln bevorzugen kälteres Wasser. Erste Jungmuschelfunde stimmen die Beobachter positiv. Besonders viele junge Miesmuscheln entdeckten sie auf dem Kniepsand vor Amrum. Nun hoffen sie, dass die Miesmuscheln die freien Plätze der erfrorenen Pazifischen Auster besetzen und so wieder an Meeresboden gewinnen.
Auch Schwertmuscheln und Strandkrabben starben, sowie ein Drittel der Herzmuscheln. Für die Zugvögel blieb nur verdorbene Ware übrig, das Festmahl hatten die heimischen Vögel.

Montag, 17. Mai 2010

Kartoffelsetzen

Der Wind ist kalt, aber ich fasse Mut. Vergrabe die Kartoffeln im Gemüsebeet, die in der ganzen Garage schon seit Wochen ihre Wurzelbäume schlagen. Verpflanze die Pimentopflänzchen, die ich auf dem einen Sonnenfensterbrett groß gezogen habe. Weise dem Basilikum vom anderen Sonnenfensterbrett die wärmste Stelle im Garten zu - ehe der Hauskoch es samt und sonder für die Küche beschlagnahmt.

Sonntag, 16. Mai 2010

Apfelblüte

Die Eisheiligen sind um, die kalte Sophie auch - und unser Apfelbaum blüht mit dem eisigen Westwind um die Wette.

Samstag, 15. Mai 2010

Triticum Turanicum

Mein Koch kredenzt zum besseren Ankommen nach der langen Reise Nudeln mit Gemüse. Die Nudeln sind hergestellt aus Kamut® Khorasan-Weizen (Triticum Turanicum) und sollen verträglich sein auch für Personen, die auf Hartweizen sensibel reagieren. Ich reagiere nicht sensibel auf Weizen. Diesen Weizen mit dem angehängten R sollen schon die Ägypter angebaut haben. Das R im Kreis stammt aber sicher nicht von ihnen. Kamut enthält 20-40% mehr Eiweiß, Aminosäuren, Vitamine, Mineralstoffe und ungesättigte Fettsäuren als herkömmlicher Weizen. Der Inhalt an Selenium soll bis zu vier mal höher sein und bis zu 50% des Tagesbedarfs decken. Ich kann das alles nicht überprüfen. Der Geschmack von Nudeln aus Kamut® Khorasan-Weizen soll an den "knusprigen Duft frischgebackener Brötchen" erinnern. Ich kann mich an keinen Duft erinnern, der knusprig wäre. Aber das Essen meines Kochs schmeckt heute ausgezeichnet wie schon lange nicht mehr.

Freitag, 14. Mai 2010

Donnerstag, 13. Mai 2010

Donnerstag, der Dreizehnte

Warschau 4: Ich kaufe einen Regenschirm, komme zum halben Preis an die Warschauer Buchmesse und laufe durch eine Ausstellung ueber ein halbes Jahrhundert Geschlechterdefinition. Statt mich zu freuen, dass man mir ungefragt ein "bilet ulgowy" verkauft, komme ich nicht mehr aus dem Gruebeln heraus, ob ich wie eine Rentnerin oder wie eine Schuelerin aussehe. Frisch frisiert und maschinengeschnitten.

Mittwoch, 12. Mai 2010

Hundert Improvisationen

Warschau 3: Eine junge Dame kuerzt mein Haar ohne ein einziges Mal eine Schere in die Hand zu nehmen. Mir schwant Schlimmes. Ununterbrochen brummt der schnurlose Akkuhaarschneider in meinen Ohren. Aber ich werde entlassen und der Kopf sitzt noch obenauf.
Am Abend im Klub Powiększenie Klancyk! - Impro oder Improv. Das erste polnische Improvisationstheater, erklaert man mir. Aber ich kann oder will das nicht recht glauben. Dass auf der Warschauer Nowy Swiat (= Neue Welt) mit einem halben Jahrhundert Verspaetung die Kunst der Improvisation eingetroffen sein soll. Der Name der Gruppe setzt sich aus engl. "clan" (poln. klan) und einem onomatopoetisch kraftvollen Ausruf wie "cyk!" zusammen.

Dienstag, 11. Mai 2010

Hundert Seiten Einsamkeit

Warschau 2: Mistrz Konwicki sagte gestern Abend vor ueber hundert Leuten, Literatur sei auch, und das werde oft vergessen, ein Mittel gegen Einsamkeit. Mit einem Buch in der Hand sei der Leser nicht allein.

Vielleicht, denke ich heute, reicht auch nur ein Text vor Augen. Ein Satz an einer Werbetafel. Zum Beispiel. Literarische Qualitaet, gereimte Prosa, rhytmische Elegien - ueberfluessiges Beiwerk. Formales Konstrukt. Die reine Anwesenheit von Sprache genuegt. Der charakteristische Schriftzug eines weltweit bekannten Getraenkes. Vertreibt die Einsamkeit in die hintersten Ecken des Dschungels.

Montag, 10. Mai 2010

Die lange Ankunft

Warschau 1: Der Berlin-Warschau-Express brauchte 5 1/2 Stunden, plus 5 Minuten Verspaetung. Ich brauchte danach zweiundzwanzigeinhalb Stunden. Bis mir beispielsweise der Sinn eines einfachen Satzes wie "dzisiaj mam spotkanie ..." im Hirn oder in der Seele aufging. Wie eine Bluete nach einer frostigen Nacht. Zeit gibt es hier an allen Strassenecken in Huelle und Fuelle. Nur keine Umlaute. Ich kam rechtzeitig an. Eingang Czerniakowska. Lauter freie Stuehle. Trotz Platzregen und Busausfall. Wenige Minuten spaeter gab es nur noch Stehplaetze.

http://wyborcza.pl/10,105623,7728779,__Ksiazki_wybrane___Tadeusza_Konwickiego___reklama.html

Samstag, 8. Mai 2010

Die schwarze Frieda

Berlin 2: Frida Kahlo Retrospektive im Martin-Gropius-Bau. Wir stehen eine Stunde an, bis wir die schoene Mexikanerin zu Gesicht bekommen. Sie verstand es, sich zu inszenieren. Ihr Leiden war gewiss echt. Aber der Motor, so und nicht anders zu malen, bleibt verborgen. Der Instinkt, auf den Nora Iuga so viel Wert legt, wird ueberlagert von Konvention. Und von den Bilderklaerungen der Ausstellungsmacher.

Freitag, 7. Mai 2010

Der gruene Blick

Berlin 1: Nora Iuga stellt in der DAAD-Galerie ihren Roman vor, der im Original schon vor zehn Jahren erschienen ist. "Die Sechzigjaehrige und der junge Mann". Ein Text auch ueber das Schweigen. Wie beschreibt man das Schweigen? Und ueber das Sehen. Wie beschreibt man das Gesehenwerden? Ueber eine Figur, die zusehends zum gruenen Blick verkuemmert oder vergroessert. Und so sein Gegenueber, die Alte Frau, herausfordert, das Letzte von sich zu geben. Zu reden.

Mittwoch, 5. Mai 2010

Die blonde Frieda

Hildegard hat mir ein Foto ihrer Frieda geschickt. Blond und mit vier Händen, wie Engelsflügel. Sie jonglieren schwarze Haarbüschel, der Blick ist konzentriert nach oben gerichtet.

copyright: Hildegard Skowasch, "avec Frieda, la blonde"

siehe auch: http://www.hildegardskowasch.de/

Dienstag, 4. Mai 2010

Die Strömungsarme

An strömungsarmen Stellen der Wattenmeerküste, lese ich in einem der Artikel, die ich in letzter Zeit gierig verschlinge, lagern sich die im Wasser schwebenden Teilchen ab. So gewinnt die Uferlandschaft an Boden. Dies sei ein "sich ewig wiederholender Vorgang der Anlandung durch die Flut." Auch "Aufschlickung" wird diese Bodenbildung durch natürliche Sedimentablagerung genannt.
An strömungsarmen Stellen kann das Land, der Boden um mehrere Zentimeter jährlich in die Höhe, Breite und/oder Länge wachsen.
Dies muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: Flut macht Land. In Westerland auf Sylt jammern die Behörden seit langem, die Flut reiße ihnen jedes Jahr mehr von ihrem schönen Sandstrand weg. Denn: Je weniger schöner Strand, desto weniger zahlende Gäste.
Ich kenne mich nicht aus mit mathematischen Gleichungen und verwechsle grammatische Kategorien. Ich sehe Strömungsarme, nicht zwei, sondern viele, gierige, die sich das tonnenschwere Material greifen, das zweimal täglich umsonst, pünktlich und draußen vom Meer angeliefert wird.

Samstag, 1. Mai 2010

Sprung über die Bahn

Das 9. Meldorfer Seifenkistenrennen findet heute auf dem "Sprung über die Bahn" statt.
Der Sprung über die Bahn ist ein Sprung über die Bahn für Autos. Für Gefährte also, die mangels Sprunggelenke gar nicht springen, sondern höchstens lenken, einlenken, in die richtige Spur kommen können.
"Sprung über die Bahn" ist ein Straßenname. Der Name einer Brücke, die in elegantem Bogen über die Bahngeleise der Strecke Hamburg - Westerland führt, und auf der an normalen Tagen weder Fahrräder fahren noch Fußgänger laufen dürfen.
Heute ist die Brücke für den Durchgangsverkehr gesperrt und frei für Geschöpfe mit Achillessehnen, Fersenbeinen und Wadenmuskeln.
Um 10.30 Uhr beginnen die Testfahrten, um 12.30 Uhr das Seifenkistenrennen nach Altersgruppen, um 15 Uhr das Bobbycar-Rennen für die Kleinsten. Danach Siegerehrung mit Medaillen und Pokalen, wie es sich gehört.