Montag, 20. März 2023

Schaltregel

Endlich. Passt genau. Der Frühling fängt exakt nach der Probe in Marne und vor dem Krimi im Radio an. Die Sonne überquert den Himmelsäquator nach Norden und setzt für uns den astronomischen Frühling in Gang. Früher fing der Frühling immer (oder fast immer) am 21. März an. Menschen, die Sätze mit dem Wort "früher" und einem Verb im Präteritum wie "war" oder "fing" anfangen, sind auf dem direkten Weg ins Alter. 

Aber das kümmert den Himmel und die Sterne nicht. Das letzte Mal fing der Frühling 2011 am 21. März an. Und das war schon knapp. Das nächste mal wird er irgendwann nach 2100 wieder am 21.3. anfangen. Dazwischen, bis ans Ende des derzeit tickenden Jahrhunderts, wird der Frühling nie wieder am 21. März beginnen, sondern sich sogar vorrobben auf den 19. März. Zum ersten Mal im Jahr 2048. Wenn wir Glück haben, erleben wir das noch.

Grund für die kalendarische Verwirrung ist die Erde, die sich nicht an von Menschen gemachte Einteilungen halten will. Sie braucht etwas länger als die bürokratisch festgesetzten 365 Tage, um einmal um die Sonne zu kommen. Also um unser Jahr für die Steuererklärung uä zu beschließen. Also versuchten die Menschen (Mathematiker, Astronomen, Theologen ...) die Natur zu bezwingen. Sie errechneten Schaltregeln und die wurden mit dem Gergorianischen Kalender eingeführt. Die erste Schaltregel schenkt uns alle 4 Jahre einen zursätzlichen Tag, den 29. Februar. Mit dieser Regel wird aber das Trödeln der Erde um die Sonne zu stark korrigiert. Die zweite Schaltregel nimmt uns diesen zusätzlichen Tag in allen vollen Jahrhundertjahren wieder weg. Damit stimmt aber unser Kalender immer noch nicht mit der zaudernden und taumelnden Erdbewegung überein. Die Korrektur der Korrektur ist immer noch zu groß. Die dritte Schaltregel gibt uns in den Jahrhundertjahren, die durch 400 teilbar sind, den Schalttag, den 29. Februar wieder zurück. Das letzte Mal geschah dies im Jahr 2000. Und weil wir noch relativ nah dran sind an diesem wider der zweiten, aber gemäß der dritten Schaltregel eingesetzten Schalttag, hinken wir zur Zeit der Zeit etwas nach. Oder es scheint uns nur so. Jedenfalls fängt der Frühling jetzt an. 

Der Sonne und auch der Erde und allen anderen Gestirnen, Galaxienhaufen, den scharzen Löchern und Gaslandschaften ist es völlig wurscht, was auf unserem Kalender steht oder neuerdings auf dem Smartphone blinkt. Diese Zahlen dienen nur unserer irdischen Eitelkeit, dem lächerlichen Versuch, die Vergänglichkeit an ihrem Tun zu hindern, indem wir zB Tagebuch schreiben oder Archivordner ordnen. Der Frühling, bzw. das Sommerhalbjahr beginnt mit der Tag-und-Nacht-Gleiche. Das Winterhalbjahr übrigens auch.

Sonntag, 19. März 2023

Emman

Es ist wieder nasskalttrübe ungemütlich draußen. Also sitze ich drinnen. Ich habe eine Figur gefunden - oder erfunden. Ich weiß es selbst nicht. Sie stieg wie eine Nixe aus dem auflaufenden Wasser in der Meldorfer Bucht, am Rande des Badestrands Elpersbüttel, an jenem Morgen im Juli letzten Jahres nach meiner ersten Nacht am Deich. Der Gongspieler hat mich gestern gebeten, ich möge verschriftlichen (transkribieren), was ich damals gesungen habe. Ich weiß es nicht mehr. Und höre mir die Aufnahme zur Strafe den ganzen Sonntagvormittag an und an und wieder an und an und an ... Ich verstehe nicht alles, weil überhaupt nicht alles verständlich sein muss. Weil längst nicht alle Silben Sinn machen. Machen müssen. Oder sich zu deutschen Dudenwörtern fügen wollen. Oder finden müssen. Erinnern kann ich mich an nichts. Ich war tatsächlich in Trance, aber nicht durch die Gongklänge (wie der Gongspieler sagt) sondern eher durch das offene Universum, in dem ich die ganze Nacht unterwegs gewesen war (wie ich sage). Möglicherweise aber vielleicht dank sowohl als auch. Unbeabsichtigte Synergie sozusagen. Anyway. Es ist im Nachhinein, nach dem langen Winter, ganz und gar unerheblich. Also (um mit dem awful Mark Twain zu sprechen, der völlig zu Unrecht behauptet, jeder deutsche Satz hebe mit eben diesem Wort an), "also" in dieser O-Aufnahme steckt - nebst unglaublichem Geschrei der Seevögel kurz vor Sonnenaufgang - ein oder eine Emman. Emman, werde ich gut sortiert und sofort aufgeklärt vom www, kann als Vorname sowohl Geschöpfen weiblichen wie männlichen und bestimmt auch diversen Geschlechts dienen. Er oder sie oder es hat auch einen Nachnamen bekommen in meinem Gesang am Morgen zum Gong, aber den verrate ich nicht. Oder noch nicht.

Samstag, 18. März 2023

Der erste Ausflug

15 Uhr: Gongkonzert in St. Michaelis in St. Michaelisdonn. Wir fahren mit den Fahrrädern, mehr oder minder der Bahnlinie entlang. Meine Nachbarin mit E-Bike, ich mit A-Bike (= Arlt Bike).

Freitag, 17. März 2023

Der letzte Frost

Ein frostiger Morgen. Ab dem Mittag sind zweistellige Temperaturen angesagt. Und der Wind soll sich verziehen. Der erste Frühlingstag.

Donnerstag, 16. März 2023

Dilettantenaufdringlichkeiten

Nach der Probe mit viel heiterem Improvisieren komme ich zurück auf den Autor, der die deutsche Sprache nie beherrscht hat, sich aber erdreistete, über sie herzufahren und sie reformieren (sprich: vernichten) zu wollen. The Awful Samuel Langhorne Clemens! Seine bodenlose Freiheit ist vielleicht das einzig Bemerkenswerte. Geblieben ist ein ziemlich veralteter Text, über den man heute nur noch milde lächeln mag. Ich kenne schönere Buchstabeneinerkolonnen, als Mark Twain sie aufzählt in seinen "Dilettantenaufdringlichkeiten".

Dieser awful Samuel Langhorne Clemens hat sich sogar erdreistet, sich eines fremden Pseudonyms zu bemächtigen. Er klaute es einfach einem einfachen Mississippi-Lotsen. "Mark two" ist der charakteristische Ruf der Misssisssipppi-Flussschifffer (alle Konsonanten hoch 3), die damit das Wasser unter dem Kiel in dem flachen Fluss messen. "Mark two" sind zwei Faden, etwa 3,56 Meter, also 4 Yards oder 12 Fuß. Im Dialekt "verzogen" zu "mark twain". Markierung zwei. Kannst Fahren. Oä.

Dieser awful Steuermann mit bürgerlichem Namen Samuel Langhorne Clemens hat auf dem trüben Mississippi einen armen schreibenden Lotsen betrogen, um dessen Pseudonym und um dessen Texte in der Zeitschrift, die den Namen seines Berufs trug: "Der Lotse". Der wahre Lotse verstummte und starb. Und der zweite Mark Twain machte Karriere.

Bemerkenswerter als alle Awfullness ist, dass Mark Twain der Vorgänger der Helen Sawyer Hogg war - wovon er natürlich nichts ahnen konnte. Also: auch ein glücklicher Mensch, der den "langschweifigen Kometen Halley" zweimal in seinem Leben sichtete. Andersherum betrachtet: auch ein glücklicher Mensch, den der Komet Halley zweimal in seinem Leben mit einem Besuch bedachte. Wir erinnern uns: Helen 1910 und 1986. Und The Awful Samuel Langhorne Clemens alias Mark Twain 1835 und 1910. Als Samuel zur Welt kam, am 30.11.1835 schlich Halley bereits seit dem 16.11. über den Nachthimmel. Und Mark starb einen Tag, nachdem Halley wieder da war - am 21.4.1910.

Mittwoch, 15. März 2023

Buchstabenprozession

Jetzt ist Mark Twain an der Reihe. Nein, ich lese mich nicht alphabetisch durch meine Bücherregale. Sondern spontan. Intuitiv. Nach Farben oder Heftung. Das Wetter ist garstig (ist eigentlich schon April?) und mir tut jede Faser meines unteren Rückens weh. Seit ich mich zu einem professionellen Trampolintraining angemeldet habe, arbeite ich mich von den Sprungelenken über die soft gebeugten Knie kontinuierlich hoch in die Lendenwirbel und den Brustkorb. Und während ich höchstens die Fersen von der Sprungmatte löse, fällt mein Blick auf den einen oder anderen Rücken an der einen oder anderen Wand im Zimmer. Je nach dem, ob ich mich gerade nach links oder nach rechts drehe. Letzte Woche sprang mich beim bouncen Kurt Marti an. Da geht ein Mensch / Štai eina žmogus / Dert geit e Mönsch / Va ain žmogs. Deutsch-bärndüütsch-litauische Gedichtausgabe. Wie die in mein Zimmer kommt, kann ich nicht mehr sagen. Jetzt also Mark Twain. The Awful German Language.

Dienstag, 14. März 2023

Die zottige Mütze und der königliche Faltenwurf

Kürzlich in der Nacht las ich bei den Strugatzkis, dass ihr Held, der gerade mit Vollgas in einer wunderlichen Maschine in die "beschriebene Zukunft" steuerte (beamte wie wir heute sagen würden), sich darüber wunderte, dass er dort spärlich bekleidete Menschen antraf, über deren Aussehen sich niemand zu wundern schien: "Zum Beispiel einer mit einem grünen Hut und rotem Jackett am nackten Körper (sonst nichts); oder mit gelben Strümpfen und einem schillernden Halstuch (kein Rock, keine Hose, keine Unterwäsche); ein anderer steckte bloßfüßig in feinen schwarzen Halbschuhen, das war seine ganze Bekleidung. Die anderen Passanten schenkten ihnen kaum Beachtung. Ich war aber völlig verwirrt, bis mir einfiel, dass manche Schriftsteller die eigentümliche Gewohnheit hatten, etwa solche Sachen zu schreiben: Die Tür ging auf, und es erschien ein muskulöser Mann mit einer zottigen Mütze und dunkler Brille." (Arkadi und Boris Strugatzki, Geschichte Tohuwabohu, Teil II)

Die Brüder Strugatzki ließen ihre Romanfigur wählen, ob sie in die beschriebene Zukunft, in die beschriebene Vergangenheit oder in die beschriebene Gegenwart steuern wollte. Hätte sie die Vergangenheit angepeilt, wäre ihr unweigerlich ein Double dieser Dame begegnet: "Miss Ingram, who had now seated herself with proud grace at the piano, spreading out her snowy robes in queenly amplitude, commenced a brilliant prelude ..." (Charlotte Brontë, Jane Eyre, Kap. 17, dt. "Miss Ingram, die jetzt mit stolzer Grazie am Klavier Platz genommen hatte und ihre schneeweiße Robe in königlichem Faltenwurf um sich ordnete, begann nun ein brillantes Präludium ...").

Hervorhebungen JA