Freitag, 30. September 2022

Nachahmungssucht

Ich war bei einer sehr traurigen Lesung. Gewohnheitsgemäß reservierten mir die fürsorglichen Buchhändler den besten Platz. Aber wie peinlich! In einem fast leeren Saal auf den einzigen reservierten Platz zuzusteuern!

Im ersten Teil der Lesung kamen ständig Lippen vor. Oberlippen, Unterlippen, Mundwinkel, Tröpfchen, Speichel, Schweiss oder Teereste. Ständig wurden diese Lippen berührt, gesäubert, getupft. Ständig stach, was auf der Oberlippe wuchs, unangenehm ins Licht der Welt. Der Vorleser las nicht nur vor, sondern führte vor! Vielleicht bemerkte nur ich das auf meinem reservierten Thron. Sämtliche fiktionalen Bewegungen der Lippen seiner Figuren machte er nach! Ständig fuhren seine Finger beim Lesen in die eine oder andere Richtung an diesen sprechenden, tropfenden, schmachtenden Lippen entlang. Anfangs war ich fasziniert, dann ekelte es mich und schließlich fiel mein Augenmerk von den Lippen ab auf die Finger der Hand des Täters. Warum trägt der an jedem Finger beider Hände breite Silberringe?

In der Pause holte ich mir ein Glas Blauburgunder. Ohne Alkohol, gestand ich den Buchhändlern, die immer auch für Getränke sorgen, ist das nicht zu ertragen. 

Nach der Pause ging es anders weiter. Anders peinlich. Nun standen die Nasen im Mittelpunkt. Aber ich war besessen von der Frage nach den Fingerringen. Natürlich wurden wir, das elende Häuflein im leeren Saal, zum Schluss aufgefordert, unsere Fragen zu stellen. Ich schämte mich und schwieg, bis die Mikrophone aus waren. Dann eilte ich nach Hause. 

Herr Caruso wartet und der letzte Teil von "Am Abend vorgelesen". Werthers Leiden. Das Finale. Die Pistolen! Und die Schuld! Ich sinke auf mein rotes Sofa, der satte Kater gesellt sich schnurrend zu mir und ich atme auf. Der erste Bestseller der deutschen Literatur ist eben der erste Bestseller der deutschen Literatur. Obwohl Briefroman nicht zu vergleichen mit anderen Lippenbekenntnissen. Immer noch erstklassig! Angeblich war er damals nach dem ersten Erscheinen "Mitauslöser" einer sogenannten Lesesucht. Und selbstverständlich Hauptauslöser der bis heute grassierenden Nachahmungssucht.

Donnerstag, 29. September 2022

Mutprobe

Es regnet den ganzen Tag. Es braucht schon Mut, bei so einem Wetter das Haus zu verlassen. Das sieht auch Herr Caruso so. Er hat sich während meiner kürzlichen mehrtägigen Aushäusigkeit angewöhnt - von den Nachbarskindern innerhalb weniger Tage dahingehend verzogent! - , dass er nach dem Fressen mit einem Menschen auf dem roten Sofa sitzen, schnurren und verdauen will. Er will gestreichelt werden, wenn er satt ist. Es ist ganz unglaublich, wie er mir das zu verstehen gibt. Und wie ich nicht anders kann, als zu funktionieren.

Kurz vor Beginn der Chorprobe hört der Regen auf. Also keine Mutprobe.

Mittwoch, 28. September 2022

EnSikuMaV

Ich bin eine glühende Verehrerin von Komposita - aber das folgende geht mir eindeutig zu weit: Kurzfristenenergieversorgungssicherungsmaßnahmenverordnung (kurz und unklar: EnSikuMaV).

Mein Öko-Gasliferant teilt mir mit, dass er gem. §9 dieser unaussprechlichen Verordnung verpflichtet sei, mir den zu erwartenden Energieverbrauch sowie die damit verbundenen Kosten (bei gleichem Verbrauch zweimal so hoch wie auf der letzten Jahresabrechnung) und (Zeigefinger hoch!) "Einsparmöglichkeiten" mitzuteilen. Per Brief. Zwei bedruckte Seiten, mit bunten Balken für die ganz Dummen. Eine Briefmarke. Eine Briefpostzustellerin.

Weil ich "sauberes" Gas beziehe, bezahle ich seit Jahren mehr als alle anderen. Ich kann aber nun, wenn ich die Raumtemperatur "durchgängig" (was heißt das? Sommers wie Winters? Tagsüber wie Nachtsüber?) um 1° senke (wie soll ich das bewerkstelligen in einem Hitzesommer?), wahrscheinlich 6% meiner Kosten einsparen. In Zahlen, schwarz auf Umweltweiß, rechnet mir mein fürsorglicher Rechnungssteller vor, sind das auf den Cent genau: 113,79€.

Ich bin kürzlich für etwa dieselbe Summe 1. Klasse von hier nach dort gefahren, vom nordwestlichsten Zipfel Deutschlands mitten ins Herz der Schweiz. Nach Herzogenbuchsee. Und wieder zurück. Weil ich aber fast zwei Stunden später zu Hause in meinem Dithmarscher Nest angekommen bin, als auf meiner Fahrkarte (Supersparpreis, nicht stornierbar, mit Zugbindung) aufgedruckt war, hat mir die freundliche Deutsche Bahn fast 20 € wieder gegeben. Widerstandslos. Das ist mein Fahrgastrecht!

So what? Rund einhundert Euro einsparen (statt zu frieren, verzichte ich künftig lieber auf eine Reise ins Goldvreneliland), aber mindestens neunhundert Euro mehr bezahlen als bisher? Statt sich so ein fürchterliches Wort auszudenken und allen armen Sekretärinnen Schweißausbrüche zu bescheren beim Versuch, es fehlerfrei zu tippen, oder wenigstens per c&p an die richtige Stelle im Brief zu setzen, hätte unser Wirtschaftsminister, der bekanntermaßen ein Mensch des Wortes ist und nicht der Zahlen, sich angesichts galoppierender Preise und höchst unsicherer Witterungsverhältnisse besser beraten lassen dürfen. 

Im Übrigen erschließt sich mir die Abkürzung - die ich dem besagten Schreiben entnehme - nicht. Hat sich Herr Habeck oder die (möglicherweise ohnmächtig gewordene) Tippse bei den Ökos vertan?

Dienstag, 27. September 2022

Normalhöhennullpunkte

Meldorf liegt auf 4,567 Metern "Höhe über NN". So zu lesen auf einer unverrottbaren Eisentafel am Bahnhof. NN meint eigentlich NHN - Normalhöhennull. Wojtek aus Bydgoszcz schreibt in einem Aufsatz über Henryk Sienkiewiczs (französisch-)schweizerischen Destinationen, in einem literaturwissenschaftlich völlig belanglosen Nebensatz, dass es zu den helvetischen Eigenheiten gehöre, Bahnstationen mit Höhenangaben zu versehen (er belegt seine Behauptung mit Fotos, denn er ist dem Dichter im wahrsten Sinne des Wortes nachgestiegen), so zB Altitude Bex 414, Les Villars 1256, Lex Caux 1054 m. Mich reizte dieser nebensächliche Nebensatz zum Widerspruch. Ich schickte ihm ein Foto unserer Meldorfer Eisentafel. Auch in Dithmarschen gibt es Höhenangaben an den Bahndämmen. Obwohl sie, nun ja, im Vergleich zu den Alpen eigentlich vernachlässigbar sind. Ich machte mir aber die Mühe, das NN für Wojtek ins Polnische zu übersetzen. Worauf er mir freudestrahlend antwortete, ich hätte ihm die Augen für ein ihm bisher gänzlich unbekanntes Phänomen geöffnet, nämlich das der diversen Nullen bzw der für die Nullen ausschlaggebenden Referenzpunkte. So war NN (oder auch NHN) im Europa des 19. Jahrhunderts keineswegs einheitlich. Meine Meldorfer Normalhöhe lehnte sich an das Berliner Observatorium an, das sich wiederum auf die Nordsee, genauer: den Pegel des Amsterdamer Hafens bezog. Für Österreich war das zuviel des Guten im Westen, sie richteten sich nach Triest, an die Adria. Russland (und damals auch Kongresspolen) hielt sich an den Kronstädter Pegel vom Finnischen Meerbusen. Die Schweiz (auch Lichtenstein, Anm JA), schreibt der Pole Wojtek, habe den interessantesten Referenzpunkt: die Pierres du Niton am Genfersee. Zwei erratische Felsblöcke! Die sich aber wiederum an Marseille und dem Mittelmeer orientierten. Jeder hatte damals seine eigene Null, sein eigenes Meer, seine eigene Referenz. Und heute ... ? Nun ja. Heute sind die Nullen das kleinste Problem.

Montag, 26. September 2022

Gedächtnislückenfüller

Die Nachricht des Tages: Deutschland hat nur noch vier Gletscher. Dem vormals fünften, dem Südlichen Schneeferner in Bayern wurde nun offiziell der Gletscherstatus aberkannt. Es verbleiben der Nördliche Schneeferner (Zugspitze), der Höllentalferner (Wettsteingebirge), sowie der Watzmanngletscher und der Blaueisgletscher (Berchtesgadener Alpen). 

Der Südliche Schneefgerner aber ist in den letzten vier Jahren auf mehr als die Hälfte zerronnen. Er hat so viel von seiner einstigen Eisdicke eingebüßt, dass fortan, wie die Glaziologen berichten, keine Eisbewegung mehr erwartet werden könne. Gletschersein bedeutet: mobil sein und bleiben. Bis ins hohe Alter! Meist geht es abwärts ins Tal, da die Gletschermasse, Eis, Schnee und Firn üblicherweise oben auf den Bergen liegt. Nur, was sich "in wesentlichen Teilen eigenständig bewegt", darf sich Gletscher nennen. So die Wissenschaft.

Gletscher schmelzen überall auf der Welt. Schweizer Gletscher haben die größten Gletscherflächen in den Alpen, also verzeichnen sie auch die größten Schmelzraten. Superlative sind immer wieder eine Glückssache. Eine Rekordschmelze melden Gletscherbeobachter der ETH Zürich im eben zu Ende gegangenen Sommer am Gletscher, dessen Name alle nichthelvetischen Berichterstatter falsch betonen. Vor ein paar Jahren ist dort, auf dem Aletschgletscher, auf etwa 2800 Meter Seehöhe in den Walliser Alpen, das Wrack eines 1968 abgestürzten Kleinflugzeugs wieder zum Vorschein gekommen. Das ist so wie unter den kontinuierlich ostwärts wandernen Aussensänden im nordfriesischen Wattenmeer. Da kommen auch immer wieder Spuren menschlicher Tragödien zum Vorschein, die wir längst, mit gutem Grund, wie wir meinen, vergessen haben.

Sonntag, 25. September 2022

Neumond

Es geht schon besser. Auch an das Herbstbaden muss ich mich gewöhnen. Wie an den Herbstregen oder  das Herbstdüngen. Es gibt vielfältige Herbstaktivitäten. Ich bin wie immer allein am Deich. Nur dick eingepackte Spaziergänger, die beschämt den Blick abwenden, wenn ich anfange mich auszuziehen. Da die Lufttemperatur seit vorgestern um ein paar Grad gesunken ist, ist auch die Differenz zur Wassertemperatur geschwunden. Deshalb fällt es mir heute viel leichter, in das kalte Wasser einzutauchen. 

Auf dem Hinweg kam mir der Pastor entgegen, der bereits auf dem Heimweg war. Auf meinem Heimweg kam mir der Drucker entgegen, der auch noch baden will. Und kann. Denn der Neumond zieht viel Wasser in die Meldorfer Bucht.

Samstag, 24. September 2022

Regen und Bäche

Sturzregen, Sturzbäche. Der Herbst beginnt nass und fließend. Zum Glück habe ich gestern Abend den inneren und äußeren Schweinehund überwunden und kurz vor Sonnenuntergang meine kleine Rasenfläche vor der Terrasse vertikutiert. Ja! Und das Moos fein säuberlich auf die Auffahrt geschoben. Aufgeschichtet. So konnte ich gerade eben in einer kurzen Regenpause kurz nach Sonnenaufgang meinen Vorzeigesüdrasen (der mir im Sommer immer als Nachtlager dient!) mit Biodünger von meinen Gartenfeen versorgen. Auf dass er gestärkt in die Winterpause gehe.

Freitag, 23. September 2022

Äquinoktium

Anbaden! Nach 10 Tagen Unterbruch. Zum Abbaden wird noch reichlich Gelegenheit sein. Kein Mensch weit und breit, nur der Pastor auf dem Parkplatz mit seinem grünen VW-Bus. Aber niemand, der die schweren Geräte (Kran, Schaufeln, Bagger) am Textilstrand bedient. Aus der Dusche kommt bereits kein Wasser mehr. 

Auch die Sonne verbirgt sich. Schiene sie, stünde sie pünktlich zum Hochwasserzeitpunkt genau senkrecht über dem Äquator. Sie kreuzt heute auf ihrer "scheinbaren" (lese ich) Bahn über den Himmel den Himmelsäquator. Tagundnachtgleiche. Herbstbeginn. Eröffnung meiner Nachbadesaison. Bin endlich angekommen. An meinem Wattenmeer.

Donnerstag, 22. September 2022

Bach und Reger

Zu Ziemlich Vorgerückter Stunde proben wir im Dom Reger: "Der Mensch lebt und bestehet nur eine kleine Zeit." Ziemlich langsam. Doppelchörig. Alle wieder versammelt. Ziemlich eindrücklich. Davor sangen wir in der Aula der Grundschule nach Stimmen getrennt für eine Aufnahme Bach: "Ach Herr, lass dein lieb Engelein." (Nicht die Motette aus dem WO!), geprobt hatten wir es alle brav zu Hause. Irgendwie ist alles anders als früher. 

Mittwoch, 21. September 2022

Grün und Schwarz

Je älter ich werde, desto länger dauert das Ankommen. Das Einschlafen, Durchschlafen, Ausschlafen. Das Erholen und Dasein. Ich bin müde. Das Denken strengt mich an, also mähe ich Rasen. Er ist üppig gewachsen und ganz von selbst wieder grün geworden. Manchmal muss man die Natur einfach in Ruhe lassen. Das geht am besten, indem man wegfährt. Herr Caruso hinkt. Hat sich wohl wieder geprügelt. Die Nachbarin erzählt, er sei während ihres Urlaubs, der sich mit meiner Abwesenheit überschnitt, durch ihre Katzenklappe eingestiegen (4 x !) und habe ihren Katzen das Futter weggefressen. Ihr Sohn kam zweimal täglich, um ihre Katzen zu füttern und hat meinen mehrmals weggejagt. Ich habe das prophezeit, ohne eine Prophetin zu sein. Ich habe immer geraten, eine Klappe einzubauen, die elektronisch nur auf ihren Kater eingestellt werden kann. Nun war es offenbar sogar so, dass die Klappe sich nur nach innen öffnete. Damit die junge Katze nicht rausging. Also: wenn mein Caruso mal drin war, konnte er nicht mehr raus. Kein Wunder, hat er sich über das Futter hergemacht. Ich möcht aber nicht wissen, was die beiden Schwarzen, Herr Baron und Herr Caruso, die sich nicht nicht ausstehen können, dann anstellten, wenn sie für Stunden im Haus gefangen waren. Ich habe nicht nachgefragt und sie hat nichts berichtet. Nun bleibt er erstmal bei mir. Drüben gibt es eine neue Klappe. Und hüben strenge Diät.

Dienstag, 20. September 2022

Pisciden

Mein letzter Zug hatte Verspätung, der vorletzte auch. Aber die hatte keinen Einfluss auf mein Nachhausekommen, verkürzte nur den Aufenthalt am letzten Umsteigebahnhof. Der letzte Zug fuhr verspätet in den Bahnhof ein, weil er, wie der Schaffner auf der Fahrt nach Norden an jeder Station per Lautsprecher verkündete, außerplanmäßig betankt werden musste. Ich verstehe nicht, warum (und wo? wie?) auf einer (teil-?)elektrifizierten Strecke ein Marschbahnzug betankt werden muss. Dann hatten wir das Glück, in Glückstadt eine weitere Viertelstunde wegen Bauarbeiten stillzustehen.

Schließlich lief ich kurz vor Mitternacht bis kurz nach Mitternacht unter dem schwachen Strom der Pisciden nach Hause. Traf Herrn Caruso nicht an. Er war wahrscheinlich auch auf Sternschnuppenjagd. Es soll nur fünf bis zehn Momente dieses seltenen Glücks pro Stunde geben! So lange dauerte mein letzter Gang nicht - aber seiner schon! Während ich nämlich etwas verstört Treppauf und Treppab lief, mir Einschlaftee kochte und fürsorglich schon mal die schönsten Schuhe auspackte, stieg er durch die Katzenklappe ein. Hielt überrascht inne (hatte er sich das gewünscht?) und strich mir dann stumm beglückt um die Beine. Und ich tat, was er von mir erwartete: ich öffnete eine Dose Leberpastete.

Montag, 19. September 2022

Rhein

Sonne. Spaziergang am kleinbasler Rheinufer. Dazu setzen wir mit der St. Albanfähre über. Auch das rechte (mindere) Rheinufer wird renaturiert. Hier wachsen Feigenbäume und spielen Kinder. Ich steige auf eine Bank und hole die reifen Feigen mit meinem einstigen Lehrer herunter. Dann nehmen wir die Münsterfähre zurück. Ich halte beide Hände ins Wasser. Um im Rhein und nicht nur auf ihm gewesen zu sein. Dann steigen wir die steilen Stufen zur Pfalz hoch, besuchen im Münster den (leeren!) Sarkophag der Anna von Habsburg und ihres Sohnes Karl. Erasmus steht in einer Steinsäule eingemauert. So sieht die ewige Ruhe hier aus.

Am Mittag fährt mein Zug über die Grenze und den Rhein in ein anderes Land.

Sonntag, 18. September 2022

Schwieribächli

Sonne! In Liestal sind alle Uhren stehen geblieben und ich komme, kein Wunder, zu spät in Basel an. Zwischen den Geleisen sind hohe Bretterwände aufgerichtet und die Gleisarbeiten ziehen sich bis in die hinterste Ecke des Waldenburgertals. Niemand kann auf die andere Seite oder in die andere Richtung gucken. Ich verlaufe mich hoffnungslos. Steige über ungemähte Matten, zwänge mich durch enge Schluchten, an den Rinnsalen meiner Kindheit vorbei. Nein, das ist kein Tagtraum. Das Schwieribächli soll renaturiert werden und der Orisbach weiterhin die Schmalspurbahn unterqueren und durch die Alle in den einstigen See (heute ein Parkplatz) fließen. Mitten auf meinem einstigen Pausenplatz steht nun ein weiteres Schulhaus. Ich verstehe diese verschachtelte Welt nicht mehr.

Samstag, 17. September 2022

Ausblick

Unwetter. In der Nacht soll es in der Höhe geschneit haben. Ich sehe die überzuckerten Gipfel nicht. Schwarze Wolken hängen davor. Aber die werden im Laufe des Tages vertrieben. Und dann soll der Ausblick atemberaubend sein!

Freitag, 16. September 2022

Fölmliland

Sonne! Ich verlasse das Bögli-Zimmer im Kreuz mit einer polnischen Teetasse im Gepäck. Die macht die Weiterreise nicht einfacher. Der Abend gestern war bunt und fröhlich und wir wurden auf unseren kurzen Wegen vom Kreuz ins Kornhaus und zurück immer wieder bis auf die Haut nass. Die Träume waren turbulent, ein Laubbläser erlöste mich schließlich und die Männer, die unter meinem Fenster mit Verve Tische und Bänke für den Buchsimärit aufstellten. 

Regen! Ich verlasse das Bögli-Zimmer im Kreuz und gehe auf dem Weg zum Bahnhof auf die Post, die es hier noch gibt. Dann steigt die Frau aus dem Fölmliland aus dem Zug und es fängt an zu regnen. Das ist Pech, denn wir wollten wandern.

Wärme! Wir fahren ins Fölmliland und es wird immer wärmer. Unterwegs trinken wir Kaffee, kaufen ein und wagen schließlich vollbepackt den Aufstieg. 

Donnerstag, 15. September 2022

Böglilande

Vom Dachstock im Kornhaus in die Unteren Beskiden. Vom bernschweizerischen Bögliland in südostpolnische Bögliland. Wer grad um die Ecke ist, sei herzlich eingeladen, ich selbst bin noch unterwegs:


 

Mittwoch, 14. September 2022

Achterrunde

Ich fahre heute in bisschen Achterbahn mit der Deutschen Bahn. Mal sehen, wo ich lande. Ich fahre zu meinem Verlag, der eigentlich in Acht sitzt, im kleinsten Dorf in der Eifel. Danach, nach dem Ort seine Sitzes ist er benannt. Aber der Verleger, also der einzige Mensch, der in diesem Verlag arbeitet, ist nun etwas näher an die Metropolen und das Schienennetz der Deutschen Bahn gerückt. Er sitzt und liest und redigiert und denkt und wühlt in Papieren usw ... in Weinheim. Deshalb muss ich in Frankfurt umsteigen. Die Bahn, diese Deutsche schickt schon seit Tagen per mail und push ups, oder wie das heißt, Warnhinweise auf alle meine elektronischen Geräte, dass meine Reise nicht wie geplant stattfinden kann. Ich möge bitte nach Alternativen suchen. Das gestaltete sich schwierig. Eigentlich wäre es in der Dienstleistung inbegriffen, dass Dienste geleistet werden.

Zum Glück hat mir mein Nachbar eine App empfohlen (die, nebenbei bemerkt, auch das Personal der Bahn in den fahrenden Zügen der Bahn nutzt, wenn es von Kunden und Kundinnen der Bahn gelöchert wird), die mir alter Frau verständlicher und zuverlässiger als die Bahn die Bahn erklärt.

Dienstag, 13. September 2022

durchstarten

Jetzt oder nie. Kämpfe mich bei heftigem Westwind bis zum Deich. Das Wasser ist eineinhalb Stunden vor Hochwasser bereits so hoch und vor Wut schäumend, dass ich unten an der Badetreppe nicht mehr stehen kann. Ich schwimme ein paar Züge, von einem Dreieck kann keine Rede sein, und ergebe mich dann. Das ist die Springverzögerung nach dem Vollmond: 75 cm über Normal läuft das Wasser heute auf, aber bis es so weit ist, hat mich der fuchsteufelswilde Wind bereits wieder in meinen sonnigen Garten getragen.

Montag, 12. September 2022

veredeln

Heute wird Herr Caruso beim Einsingen um 9 geadelt (er hat bereits das Weite gesucht, liegt in sicherer Entfernung unter dem Bambus):

 https://www.youtube.com/watch?v=n_hpQ2WQclk&t=182s

Sonntag, 11. September 2022

aufatmen

Der Garten, so scheint es mir heute früh zum ersten Mal seit langer langer Zeit, scheint aufzuatmen. Endlich ist genug Regen gefallen! Und die Herbstnebel tragen bereits kräftig dazu bei, dass Luft und Blätter und überhaupt alles sich über Nacht mit der Feuchtigkeit anreichern kann, die wir tagsüber brauchen. Um leben zu können.

Vielleicht atmet auch die Welt auf, weil endlich wieder ein Mann im Königreich das Zepter in die Hand nimmt und sich die Krone auf den Kopf hebt (tut er das?). Zwar mit Tränen in den Augen und im ständigen Dialog mit seinen Blumen im Garten. Aber doch ein Mann. Das größte Verdienst seiner verstorbenen Mutter ist wohl, dass sie eine Frau war. Und er, der bereits alte Sohn und neue König riecht, wie ich lese, liebend gern in Transsilvanien an Händelwurz, watet durch gelbblühende Trollblumen und blaublühenden Wiesensalbei und schwört auf die "stabile Verbindung von Mensch und Natur". Er - God save the King! - der sich als Nachkommen von Fürst Vlad III bezeichnet.

Weil: wer weiß, was andere weiße alte Männer im Schilde führen. Die Weltmacht an sich reißen oder, falls dies nicht gelingt, die Welt als Ganzes zerstören. 

Derweil war ich im wilden Wasser der Springtide an der Meldorfer Bucht. Womöglich ein erstes Abbaden.

Samstag, 10. September 2022

Himmelsmechanik

Vollmond. Mitten am Tag. Erntemond. Der Vollmond vor der Herbst-TagUndNachtgleiche, vor dem kalendarischen Herbstanfang, der letzte vor dem Ende des Sommers wird im Volksmund Erntemond (ich liebte einst den Übergang von Mund zu Mond) genannt, weil tatsächlich die Bauern bei diesem Vollmond noch ihre Ernte einbringen konnten. Oder mussten. Der Septembervollmond leuchtet nämlich mehrere Tage hintereinander ähnlich früh und hell. Sein Aufgang verschiebt sich derzeit untypischerweise täglich nur um knappe zehn Minuten, er geht also immer bereits in der Abenddämmerung auf und verzögert so den Einbruch der Dunkelheit. 

Warum das so ist, weiß ich nicht. Himmelsmechanik. Normalerweise geht der Mond jeden Tag fast eine Stunde später auf. Angeblich ist er momentan besonders schnell unterwegs. Oder es scheint uns Menschen nur so. Ich wollte gerade an die Meldorfer Bucht zum Schwimmen fahren. Heute ist wieder ordentlich Wasser da. Aber da bricht mit einem lauten Knall der Himmel über mir zusammen. Gewitter mit Starkregen.

Freitag, 9. September 2022

Alabasterbox

Wir sangen gestern abend Pärt. The woman with the Alabaster box. Und ich musste unvernünftigerweise die ganze Zeit an die chocolate box von Forrest Gump denken. Und unangebracht schmunzeln. Die Bässe waren großartig! Die Alabaster Box aber ist biblischen Ursprungs: 

Matthäus 26, 6-13 Die Salbung in Betanien
"6 Als nun Jesus in Betanien war im Hause Simons des Aussätzigen, 7 trat zu ihm eine Frau, die hatte ein Alabastergefäß mit kostbarem Salböl und goss es auf sein Haupt, als er zu Tisch saß. 8 Da das die Jünger sahen, wurden sie unwillig und sprachen: Wozu diese Vergeudung? 9 Es hätte teuer verkauft und das Geld den Armen gegeben werden können. 10 Als Jesus das merkte, sprach er zu ihnen: Was bekümmert ihr die Frau? Sie hat ein gutes Werk an mir getan. 11 Denn ihr habt allezeit Arme bei euch, mich aber habt ihr nicht allezeit. 12 Dass sie dies Öl auf meinen Leib gegossen hat, hat sie getan, dass sie mich für das Begräbnis bereite. 13 Wahrlich, ich sage euch: Wo dies Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, da wird man auch sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie getan hat."


 https://www.youtube.com/watch?v=402WEBVDiU8

Donnerstag, 8. September 2022

Thwaites

Thwaites klingt unschuldig. Wie zweites. Aber etwas geheimnisvoller. Mit dem tee-aitch am Anfang. Thwaites steht seit heute für die Endzeit. In den Schlagzeilen. Thwaites ist ein Gletscher in der Antarktis, der schneller schmilzt als die Forschenden, die ihn beobachten, denken können. Thwaites sollte uns allen schleunigst schlaflose Nächte bereiten. Er ist schon lange als Weltuntergangsgletscher bekannt. Aber er ist ja weit weg. Nun ist er aufgestiegen (in der Wortwahl) zu einem "entscheidenden Schauplatz des Klimawandels." Aber dieses Wort, Hand aufs Herz, mögen wir mittlerweile auch nicht mehr hören. Was Russland mit seinem Gas macht, das es uns nicht mehr liefert, ist viel schädlicher für die Umwelt als alle furzenden Rinder in Dithmarschen. Oder die gesammelten helvetischen Kühe auf der Alp. Thwaites ist deshalb so gefährlich, weil er eigentlich auf Land aufsitzt, aber dort nicht mehr stillsitzt. Sondern sich, wie eine Arbeitsgruppe jetzt herausgefunden hat, offenbar mit der Tide auf und ab bewegt. So wie wir alle, die in Meeresnähe leben. Wir hüpfen, oder springen, wippen. Der Thwaites hinterlässt bereits seit Jahren, Jahrzehnten wenn nicht zwei Jahrhunderten, untermeerische Rippen. Jetzt gilt er plötzlich als "Schlüssel zum Schicksal des Westantarktisches Eisschilds." Auch dies ist nicht meine Wortwahl. Meines Wissens hat das Schicksal kein Schlüsselloch. Mittels Unterwasserdrohnen wurde der Meeresboden vor dem Gletscher kartiert und es kamen zum Vorschein Hunderte parallele, keine 20 Zentimeter hohe Rippen in regelmäßigen Abständen von etwa sieben Metern. Die Höhe der Rippen schwankt zyklisch etwa alle 14 Rippen. Dies entspricht dem Gezeitenzyklus mit besonders hohen und niedrigen Gezeiten alle 14 Tagen. Das ist in der Meldorfer Bucht auch so! Nur werden hier die Rippelmarken mit jedem Hochwasser fortgespült und entstehen bei jedem Niedrigwasser neu. Weil der Thwaites aber schmilzt, und zwar an seiner Unterwasserkante, weil er sich mit jeder eindringenden Flut, die ihn mit wärmerem Meerwasser unterspült, weiter zurückzieht, verschiebt sich seine Aufsetzlinie pro Tag um zwei bis zehn Meter landeinwärts. Sagen die Forscher, die ihre Beobachtungen auswerten. Das alles ist nicht neu, sondern entwickelt sich dynamisch. Das heisst: der Prozess beschleunigt und überholt sich mit der Zeit. Ein britischer Polarforscher umschreibt es so: "Thwaites hält sich heute wirklich nur noch mit den Fingernägeln fest." Es wird größere Veränderungen in kleineren Abständen geben. 

https://thwaitesglacier.org/about/facts 

https://www.spektrum.de/news/thwaites-gletscher-raetseln-um-die-eis-apokalypse/2055345

Mittwoch, 7. September 2022

Zweieinhalb

Bevor der Regen meine zweieinhalb Regentonnen füllt, steige ich auf die Leiter und säubere die Dachrinne. Gut getimt, bestens getaktet, trotz juckendem Fuß.

Nach dem Regen kommt Herr Caruso endlich nach Hause. Er ist trocken, hungrig und durstig. Zum ersten Mal sehe ich ihn trinken aus dem Napf, den ich eben (aus reiner Gewohnheit) mit frischem Regenwasser gefüllt habe. Dann will ich ihn streicheln und loben (dass er nach Hause gekommen ist) und er faucht mich an, fletscht seine Vampirzähne. Wäre ich nicht ein gebranntes Kind, bzw eine gebissene Katermutter und wüsste ich nicht ganz genau, dass ich ein Raubtier umsorge und füttere, hätte er meine Hand wieder einmal zerfleischt. Nun liegt er vor der Tür und bewacht mein Haus. Versteh eine dieses Tier!

Dienstag, 6. September 2022

Dreiviertel

Alles kommt immer noch viel besser. Oder schlimmer. Je nach Standpunkt und Einstellung. Das Morgen- und Abendhochwasser läuft derzeit bis zu einem Dreiviertelmeter unter Normal auf. Da könnte ich gerade mal meinen kranken Fuß drin kühlen. Er ist nicht mehr heiß, sondern juckt. Also tunken. Wie früher die Alten zum Frühstück ihre Brotmöckli in der Milch tunkten. Damit sie weich werden. Und im zahnlosen Mund zerfließen. 

Das Hochwasser kommt tatsächlich zum zweiten Frühstück und ich lasse es in aller Ruhe wieder gehen.

Montag, 5. September 2022

Kostverächter

Gestern erschien mein Untermieter und Kostgänger gar nicht zum Frühstück, weder zum ersten noch zum zweiten. Als er gegen Mittag angeschlichen kam, zerzaust und staubig, machte er sich über sein Futter her, fraß aber nicht auf, sondern legte sich erschöpft aufs Ohr. Rührte sich den ganzen Tag nicht mehr von der Stelle. Heute nun ist der Untermieter pünktlich zu Hause. Wenn ich aufstehe, kommt er heim. Will aber nicht fressen. Weder das erste, noch das zweite Frühstück, und zum dritten hat er nun eben das Haus verlassen. Ich vermute, dass der Herr auf Jagd war oder geht. Irgendwo seine fette Beute versteckt. Mich würdigt er keines Blickes. Mein Humpeln interessiert ihn nicht die Bohne. Der Fuß ist immer noch bucklig.

Sonntag, 4. September 2022

Missetäter

Mein zweiter Wespenstich. Der zweite in die Fußsohle. Den ersten hab ich noch in lebhafter Erinnerung, obwohl seither mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen sein muss. Nun denn also heute wieder. Im reifen und fortgeschrittenen Alter. Wollte ich nach Sonnenuntergang noch einen dürren Zweig von meiner Pergola reißen, da kam das halbe Efeu mit und ich barfuß und schon wars um den schlanken ranken linken Fuß geschehen. Es brennt höllisch und schwillt sofort an, die Missetäterin erwische ich natürlich nicht. Vielleicht war es ja auch ein Missetäter oder mehrere Missetäter. Ich muss da oben jemanden gestört haben, vielleicht bei einem Stelldichein oder beim Abendgebet. Ich humple ins Haus, suche mein Gefrierfach nach einem Kühlpad ab und lege mich ins Bett. Die Tage werden kürzer, also kann ich getrost früher schlafen.

Samstag, 3. September 2022

Witzwasser

Nipptide. Das Wasser dümpelt vor sich hin und die Badenden stehen im Universum wie in einem Ölgemälde ohne Rahmen. Unentschlossen.

Vor einem Monat oder so, alles wiederholt sich ja in regelmäßigen Abständen, Ebbe und Flut, auflaufendes und ablaufendes Wasser, abnehmender und zunehmender Mond, die Gezeiten, die Tiden, Nipptiden, Springtiden, die Zeiten, Nippzeiten, Mittzeiten, Springzeiten, die Stände, die Winde, die Sonnenauf- und untergänge, mal rückt der Osten ins Zentrum der Betrachtung, mal der Westen. Und so weiter und so fort. 

Vor ungefähr einem Monat also war unsere amtierende Bürgermeisterin während ihrer Mittagspause bei Nipptide am Baden und bezeichnete dieses Wasser als einen Witz. Oder war es das Meer? Jedenfalls verkündetet sie empört, das sei ja ein Witz! Ausrufezeichen.

Freitag, 2. September 2022

Milde

Das Frieren gestern hat sich gelohnt. Heute kommt die Milde zurück. Mildes Wasser. Milde Luft. Mildes Licht. Kräftiger Rückenwind. Ich fahre fahrlässigerweise lässig ohne Helm. 

Donnerstag, 1. September 2022

Mars

Nach 8 Tagen zum ersten Mal wieder im Wasser. Es ist empfindlich kühl geworden. Trotzig schwimme ich mein Dreieck. Die Radlerei gegen den Wind auf dem Heimweg strengt mich an. Und dann Chorprobe. Der Cage will heute nicht. Wir sind nicht unbeschwert. Auch der Bach will nicht. Die Unbeschwerten sind abwesend. Auf dem zweiten Heimweg steigt der Mars über den Horizont. Er soll nun jeden Tag früher aufgehen.