Montag, 31. Januar 2011

Hildegards Köpfe

Noch immer Berlin. W. arbeitet. Ich fahre zu Hildegard ins Atelier. Köpfe, lauter Köpfe. Etwa vierzig hängen schon an der Wand, an die Hundert oder mehr sollen es werden. Köpfe mit wachen Augen und roten Lippen. Papier und Farbe, mehr nicht. Und doch sehen Hildegards Köpfe mehr als wir. Denn sie schauen gezielt. Geradeaus. Aufmerksam. Über uns hinweg. Konzentriert. Auf das, was hinter uns ist. Sie treffen. Wie die spitzen Töne im schalltoten Raum. Mundtot. Die roten Lippen bewegen sich nicht. Hildegards Köpfe sagen uns nicht, was sie sehen. Was wir nicht sehen. Wie die naturalistisch in Szene gesetzten Menschen bei Bill Viola.
Siehe hier: http://www.billviola.com/
Und hier: http://www.hildegardskowasch.de/
Oder hier: http://kunsthalle-m3.de/haus/hildegard-skowasch

Sonntag, 30. Januar 2011

Schalltot und Echo

Wir haben jeder eine Viertelstunde zur Verfügung, reserviert und bestätigt, in Yutaka Makinos Klanginstallationen "Temporal Objects #1" und "Temporal Objects #2" am Einsteinufer.
Die eine konzipierte der japanische Klangkünstler für den schalltoten Raum, die andere für den Echoraum der TU Berlin.
Das Echo schlägt sich um den Kopf wie ein Turban. Nur oberhalb der Ohren. Einzelne Töne verschmelzen zu einer Geräuschkulisse. Ich höre Vögel am Morgen oder das Rauschen des Windes. Alles oben. Nichts unten. Ich verliere meinen linken Ohrring.
Im schalltoten Raum agieren Töne einzeln wie Geschosse. Meine Ohren werden angegriffen. Von Schmerz, zielgerichtet und spitz. Ohne Schall verwandelt sich der Klang in eine geschärfte Klinge.

Samstag, 29. Januar 2011

Schall und Rauch

ultraschall - das festival für neue musik in Berlin - heute im Radialsystem:
  • Ouvertures für verstärkte Guzheng, Sampler und Orchester (2008/10) von Simon Steen-Andersen
  • Dislokationen für verstärktes Klavier und Orchester (2008/09) aus: >...auf der Suche nach dem Erhabenen ...< von Iris ter Schiphorst 
  • Staub für Orchester (1985/87) von Helmut Lachenmann
Laut Programmheft schwebte Helmut Lachenmann bei Staub "ein Hören, welches seine philharmonische Bindung überwunden, aber nicht vergessen hat", vor. Und Iris ter Schiphorst denkt über die Konsequenzen historischer und struktureller Dislokationen nach. Während Simon Steen-Andersen Klangwelten des europäischen Orchesters und der chinesischen Guzheng amalgamiert.

Ich höre Streichinstrumente atmen. Ein ganzes Streichorchester gibt mir (unter anderem) nur zu verstehen, wie sich Atmen anhört und anfühlt. Großes, universelles Atmen! Atmen erzeugt von Geigen-, ersten  und zweiten, Bratschen-, Cello-, Violoncello- und Kontrabasssaiten. Gestrichen, getragen. Gewaltig. Oder ich  höre einen Pianisten an das Innere seines Konzertflügels hämmern und schreien, schreien, schreien. Unbarmherzig.
Ich frage mich einmal mehr: warum vermag Sprache nichts Vergleichbares? Warum ist mein Vehikel so unsäglich altmodisch, schwerfällig, ungelenk? Hölzern. Eindimensional.

Freitag, 28. Januar 2011

Heweliusz

Jan Heweliusz (Johannes Hevelius, Johannes Hevel, Johann Hewelcke), Astronom, Mondkartograph, Sonnenfleckenbeobachter, Erfinder des Periskops, Teleskopbauer, Entdecker mehrerer Sternbilder und Kometen, Entdecker der Libration des Mondes, Zeuge des Danziger Halophänomens ("Siebenfältiges Sonnenwunder") von 1661,  Bierbrauer, Zunftmeister, Ratsherr, Bürgermeister, seit 1664 Mitglied der Royal Society - mit einem Wort: der "polnische Leonardo da Vinci" - wurde heute vor 400 Jahren in Danzig geboren. Polen ehrt ihn mit dem Heweliusz-Jahr, seine Heimatstadt (abgesehen von vielfältigen Aktivitäten) mit einem Heweliusz-Weg.

Donnerstag, 27. Januar 2011

Mein geometrisches Meer



 Gefühlte Temperatur 6° minus, tatsächliche schätzungsweise um den Nullpunkt. Wind aus Nordost, Stärke 3. Trotzdem hartnäckig auf dem Heimweg. Wasser nicht in Sicht, auflaufend seit zwei Stunden.
Karierte, gestreifte, perspektivisch angeordnete, stoische, statische Flächen am Boden. Sie schweigen angesichts des übermütigen Tollen am Himmel. Keine Schafe, keine Menschen, nur ich, mein Fahrrad und weit draußen im Watt stochernde Vögel. So weit, dass ich sie kaum sehe und gar nicht höre. Der Wind pfeift um meine Ohren. Ich sitze eine Viertelstunde auf dem Deich, und schwinge mich mit steifen Fingern wieder auf das Fahrrad. Mein erster Tag am Meer.

Mittwoch, 26. Januar 2011

Flurbereinigung

der größte Stein weit und breit
Fast dreißig Jahre dauerte die Meldorf-Nindorfer Flurbereinigung. Zu ihrem Abschluss wurde in der Feldmark ein Gedenkstein mit den Wappen der beiden beteiligten Gemeinden aufgestellt. Die versprochene Bank, die zum Verweilen einladen soll, fehlt noch immer.
Was der Stein mir sagen will, frage ich mich jedesmal, wenn ich an ihm vorbeikomme. Flurbereinigung, lese ich, sei ein Verfahren zur Verbesserung der Produktions- und Arbeitsbedingungen in der Land- und Forstwirtschaft. Letzteres gibt es hier in der Gegend kaum. Sowie zur Förderung der allgemeinen Landeskultur und Landesentwicklung. Mmmh. Zersplitterter und unwirtschaftlich geformter Grundbesitz werde neu gestaltet, Grundstücke zusammengelegt, Wege befestigt, Straßen gebaut, Gewässer angelegt, sowie andere gemeinschaftliche Anlagen geschaffen. Und: bodenschützende, bodenverbessernde und landschaftsgestaltende Maßnahmen ergriffen. Warum also schadet Flurbereinigung Moosen und Flechten?

Dienstag, 25. Januar 2011

Miss Flechte

BLAM kürte auch die Flechte des Jahres 2011: die Gewöhnliche Feuerflechte. Die Engländer nennen sie "scrambled-egg-lichen", also Rühreiflechte. Wohl aufgrund ihres rosettigen, leuchtend gelben Lagers mitten im tellterförmigen, orangebraunen Fruchtkörper mit hellerem Rand. Das Spiegelei der Natur gedeiht in lückigen Trockenrasen auf extrem nährstoffarmen und flachgründigen Böden über Kalk- und Gipsgestein. Es wird bedroht und verdrängt von raschwüchsigen Moosen und Blütenpflanzen. Auch das Verschwinden der Wanderschäferei schadet der Feuerflechte, weil dadurch Weideflächen verholzen. Und Flurbereinigungen, Wegebau, Aufforstungen grenzen ihren Lebensraum zunehmend ein.

Montag, 24. Januar 2011

Seifengold

Heute vor 163 Jahren fand James W. Marshall auf Neu-Helvetien das erste Goldnugget. Damit begann der große kalifornische Goldrausch. Marshall war Zimmermann und arbeitete am Bau der Sägemühle auf der Ranch des Baselbieters Johann August Sutter. Er wollte das neue Mühlerad einrichten - und fand Gold. Damit begann der Untergang des Schweizers im Exil. Denn entgegen seinen Anweisungen plauderten die Arbeiter den Fund aus. Bald drängten sich Massen von Goldsuchern auf Nueva Helvetia, verwüsteten das Land und schlachteten das Vieh.
Das Bergrecht trennt überall auf der Welt Schürfrecht vom Grundeigentum. Sutter konnte die Goldsuche nicht verhindern. Jahrzehntelang versuchte er, vom Bundesgericht in Washington eine Entschädigung zu erhalten, 1880 verstarb er mittellos in einem Hotelzimmer. Vor ein paar Jahren stand ich mit meinem adoptierten Großvater an seinem Grab in Lititz (Pennsylvania).

Das gefundene Gold war sogenanntes Seifengold un stammte aus der Sierra Nevada. Durch Verwitterung wurde es in die kalifornischen Flüsse transportiert. Das Gebirge zwischen Kalifornien und Nevada besteht zum größten Teil aus Granit. Granite kristallisieren nach der Gesteinsschmelze im Erdinneren nicht als ganzes, sondern die einzelnen Minerale erstarren je nach Temperatur nacheinander. Dabei reichern sich auch Minerale an, die nicht zum eigentlichen Kristallgitter der Granitminerale passen. Diese scheiden sich in Erzgängen wieder ab. Einer dieser Erzgänge, gefüllt mit goldhaltigem Quarz, ist die 180 km lange Hauptader entlang der Sierra Nevada, die Mother Lode.

Sonntag, 23. Januar 2011

Miss Moos

Die Bryologisch-lichenologische Arbeitsgemeinschaft für Mitteleuropa (einfacher: BLAM) erklärt die Abietinella abietina zur Miss Moos des Jahres 2011. Zu deutsch einfach Tännchenmoos. Oder Tannenmoos. Miss Moos liebt warmen Untergrund, wächst auf kalk- oder basenreichen Trocken- od Halbtrockenrasen. In Norddeutschland ist sie gefährdet, wird verdrängt durch Verbuschung oder gedüngte Mähwiesen.

Samstag, 22. Januar 2011

Der Fluch des Augenblicks

Der polnische Botschafter in Moskau stand als einer der ersten an der Absturztelle bei Smolensk. Zusammen mit russischen Sicherheitsbeamten sowie seinem persönlichen Fahrer. Einem eigentlich sehr besonnenen Menschen, sagt Botschafter Bahr nun in einem Interview (siehe hier: http://wyborcza.pl/1,76842,8941828,Startujemy.html). Aber: dieser besonnene und sonst immer beherrschte Mann habe im Angesicht des rauchenden Wracks im Wald zuerst minutenlang unsäglich geflucht. Und danach sein Telefon gezückt und seine Arbeit getan.
Wir erinnern uns: auch das letzte im Cockpit aufgezeichnete Wort war ein wüster Fluch. Und nicht, wie einmal die Boulevardpresse meldete, ein Gebet. Auch nicht das Wort "Jesus". Dazu blieb keine Zeit. Der Instinkt ist immer schneller.

Freitag, 21. Januar 2011

pizda tutaj jest ...

Die Polen stehen den Russen in nichts nach.
Der einzige, der die Piloten der Unglücksmaschine aktiv darin unterstützt hatte, zu landen - oder es zumindest zu versuchen - war der polnische Pilot, der mit Journalisten an Bord bereits in Smolensk gelandet war. Auch er: ohne Landeerlaubnis. Und: gegen den Willen des Lotsen.
Dieser polnische Pilot erklärte seinen Kollegen, die den Präsidenten und die gesamte Generalität an Bord hatten, eine gute Viertelstunde vor dem Absturz: "... also allgemein gesagt, herrscht hier ein Scheißwetter. Man sieht vielleicht 400 Meter, die Wolkenuntergrenze ist unter 50 m ..." [...a wiesz co, ogólnie rzecz biorąc, to pizda tutaj jest. Widać jakieś 400 metrów około i na nasz gust podstawy są poniżej 50 ...].
Auf die Frage des Flugkapitän, ob sie selbst denn schon gelandet seien, sagt er: "Nun ja, uns ist es gerade noch so im letzten Moment gelungen. Aber, offen gesagt, ihr könnt es selbstverständlich versuchen ..." [No, nam się udało tak w ostatniej chwili wylądować. No natomiast, powiem szczerze, że możecie spróbować, jak najbardziej ...]."

pizda ist ein Wort, das nicht zu meinem Wortschatz gehört. Ich übersetze es aus Höflichkeit mit Scheiße. Stilistisch adäquter wäre Fotze.

Donnerstag, 20. Januar 2011

Die Schuld der Russen

Im Tower des eigentlich seit längerem geschlossenen Militärflughafens von Smolensk Severnyj ging es am Morgen des 10. April 2010 heiß zu und her. Es wurde auf diversen Kanälen geflucht und geschimpft. Der diensthabende Lotse wollte die polnische Maschine nicht landen lassen, er war der Meinung, sie brauche gar nicht erst loszufliegen. Denn: es gab keine Möglichkeit zu landen. Weil: dicker Nebel, tiefhängende Wolken.
Offenbar aber erhielt der Lotse von Vorgesetzten aus Moskau den Befehl, die Maschine mit dem polnischen Präsidenten auf 100 m hinunter zu geleiten.
Der Tower in Smolensk Severnyj ist eine einfache Militärbaracke, mit Tarnfarbe angestrichen. Ebenfalls zur Tarnung ist die Umgebung bis auf die Anflugschneise bewaldet. Die Baracke ist schlecht ausgestattet und schlecht isoliert, womöglich nicht mehr oder nicht mehr gut heizbar. Um nicht zu erfrieren, schaltete der Lotse einen elektrischen Heizkörper ein. Dieser soll andere Geräte (Radar?) in ihren Funktionen beeinträchtigt haben. Vielleicht flog die eine oder andere Sicherung raus. Wer weiß.
Weshalb der Lotse den Piloten der Unglücksmaschine mehrmals bestätigte, sie seien auf Kurs (obwohl sie es nicht waren und mal zu hoch, dann zu niedrig anflogen), ist unklar. Wahrscheinlich, weil er sie nicht sehen konnte. Eine Landeerlaubnis erteilte er nicht. Im Gegenteil. Er riet wiederholt davon ab, zu landen.

Towergespräche im Original hier:
http://www.mak.ru/russian/investigations/2010/tu-154m_101.html#metka1
http://www.mak.ru/english/info/tu-154m_101.html

Mittwoch, 19. Januar 2011

Der Rettungsschirm

Das "Börsen-Unwort des Jahres" heißt Euro-Rettungsschirm. Man braucht bloß die Stilblüten des heutigen Tages zu sammeln, um sich vom Unworthaften dieses Unwortes zu überzeugen: der Bundeswirtschaftsminister sagt: "Wir können den Euro-Rettungsschirm nicht bedingungslos weiter aufblähen". Die FDP "lehnt eine Aufstockung des Euro-Rettungsschirms strikt ab". Ein Wirtschaftsweiser spricht von der "Ausweitung des 750-Milliarden-Rettungsschirms". Der Finanzminister wollte noch vor ein paar Wochen den Euro-Rettungsschirm "nicht verdoppeln", drängt nun aber darauf, "die Liquidität des Rettungsschirms sicherzustellen". Ein Herr von der Opposition möchte den Euro-Rettungsschirm "nicht verlängern". Das zuständige Ministerium teilt mit: "der Euro-Rettungsschirm arbeitet planmäßig".

Die Börse Düsseldorf schreibt zur Begründung ihrer Wahl: "Rettung bezeichnet die Beendigung einer Notlage oder das Entkommen aus einer gefährlichen Situation. Ist die Rettung erfolgt, geht das Leben glücklich weiter wie zuvor. Davon kann beim Euro-Rettungsschirm keine Rede sein. Die Hilfestellung ist zeitlich begrenzt und muss vom Empfänger zurückgezahlt werden, wobei teilweise unklar ist, ob und wie dies gelingen kann. Ohne Rückzahlung würde es sich schon eher um eine Rettung handeln, da dann die Verpflichtungen des Geretteten tatsächlich erledigt wären."
Weiter heißt es: "Außerdem ist nicht klar, um welche Art Schirm es sich handeln soll. Ist es eine Art Regenschirm, so ist die Kombination mit Rettung zumindest ungewöhnlich. Regen kommt meist in Schauern oder seltener als andauernder Wasserfall von oben. Der Regen hört früher oder später auf und die Sonne scheint wieder. Beim Euro-Rettungsschirm bleiben die Schulden übrig. Oder handelt es sich um einen Rettungsschirm für Fallschirmspringer? Unter diesen kann man nicht einmal schlüpfen, denn im Fall der Fälle hängt man daran. Definitorisch eng ist er sogar gar kein Notschirm, da die Nichtöffnung des normalen Schirmes nur als Störung und nicht als Notfall bewertet wird. Auch das passt in keiner Weise auf die vertrackte Situation der Euro-Rettungsschirmnutzer."
Passender wäre es laut Börse Düsseldorf gewesen, den "Euro-Rettungsschirm" als "Notkreditlinie auf Zeit für verschuldete Staaten" zu bezeichnen.

Dienstag, 18. Januar 2011

Das Alternativlos

Das Adverb "alternativlos" ist das Unwort des Jahres 2010. Es bedeutet etwas ganz anderes als das Substantiv "Alternativlos".
Das Unwort des Jahres erwecke sachlich unangemessen den Eindruck "dass es bei einem Entscheidungsprozess von vornherein keine Alternativen und damit auch keine Notwendigkeit der Diskussion und Argumentation gebe", erklärte die Jury. In die Welt gesetzt wurde das Unwort von einer Frau. Von einer Politikerin. Von der Bundeskanzlerin. Sie hatte die  milliardenschwere Finanzhilfen für Griechenland als "alternativlos" bezeichnet.
Ein Alternativlos gibt es leider nicht. Dabei bedeutet das Substantiv das genaue Gegenteil zum Adverb. Etwas ist alternativlos (= ohne Alternative). Und wer das Alternativlos zieht oder gewinnt, bekommt die Alternative (= mit Alternative) oder den anderen Weg, die andere Möglichkeit, den anderen Ausweg auf die Hand und mit ins Leben.

Montag, 17. Januar 2011

Die Angehörigkeit

Ich werde eingebürgert, teilt mir das zuständige Amt mit. Die deutsche Staatsangehörigkeit erhalte ich "mit der Aushändigung der Einbürgerungsurkunde im Rahmen einer Einbürgerungsfeier".
Was also ist eine Angehörigkeit? Worin besteht sie? Aus einer Urkunde oder einem festen Handdruck? Kann ich die Angehörigkeit einrahmen und an die Wand hängen? Ein freundliches Wort? Einmalig geäußert? Ein Getränk der Wahl? Ein halbleeres Glas? Das ich erst aufs Tablett zurückstelle, wenn es ausgetrunken habe.

Sonntag, 16. Januar 2011

Die Verewigung

Die Verewigung hat begonnen. Jedes Stück Metall, das ich gestern in die Hände nahm, hat sich in der Nacht in meinem Traum festgesetzt. Jedes Ding bewahrt seine eigene Erinnerung. Sobald man es berührt, explodiert seine Geschichte. Dagegen kann weder mein Wille noch mein Handschlag etwas tun. Geschweige denn meine Wörter oder eine meiner Sprachen.

Samstag, 15. Januar 2011

Nägel ohne Köpfe

Ich sortiere Schrauben, Nägel, Muttern. Eimerweise. Schachtelweise. Unterlegscheiben. Große, kleine. Sechskantmuttern. Kronenmuttern. Flügelmuttern. Kreuzschlitzschrauben. Lange, dicke, dünne. Zylinerkopfschrauben. Vierkantschrauben. Senkschrauben. Bundschrauben. Holzschrauben. Gewindestifte. Drahtstifte. Dachpappenstifte. Schwiegervates Vermächtnis. Drei Zimmermannsbleistifte, zwei noch unangespitzt.
Ich sortiere nach brauchbar und unbrauchbar. Besser gesagt danach, was die Nägel und Schrauben mir sagen. Ob sie mir zu erkennen geben, wozu sie sich eignen. Dübel sind kommunikativ. Sie wandern alle, ohne Rücksicht auf Größe, denn die fällt durch die Farbe in die Hand, zur Bohrmaschine. Nägel sind verstockt. Vor allem die ohne Köpfe. Kiloweise. In alten, grauen, winzigen, steifen Klappkartonbehältern. Nichts werde ich wegwerfen. Weder Rost noch Verpackung. Tonnenweise Nägel ohne Köpfe. Ich nehme an, es sind Holznägel, Zimmermannsnägel, Dachsparrennägel. Schöne, fast gedrechselte, matt schimmernde Metallnägel. Kein einziger verrostet. Keiner auch nur angerostet. Also aus witterungsbeständigem Material. Bei mir liegen sie auch schon den zweiten Winter. Ich sortiere nach ästhetischem Gutdünken. Ich werde sie alle verewigen. 

Freitag, 14. Januar 2011

fasten-seatbelts

Kein einziger der hochrangigen Passagiere im VIP-Bereich (Mitte der Maschine) sowie in der Präsidentensuite (vorne, direkt hinter dem Cockpit) der polnischen Regierungsmaschine, die am 10. April letzten Jahres vor Smolensk abstürzte, war angeschnallt. Dies obwohl die Maschine sich im Landeanflug befand, obwohl der Flugkapitän das Bordpersonal aufgefordert hatte, die Kabine auf die Landung vorzubereiten, obwohl eine Stewardess ins Cockpit gemeldet hatte, die Kabine sei zur Landung bereit. Dies geht aus dem Untersuchungsbericht hervor, der vorgestern von den russischen Behörden veröffentlicht wurde. Wer sich die grausligen Details antun will:
in polnisch: http://bi.gazeta.pl/mak/raport.pdf
in russisch: http://bi.gazeta.pl/mak/finalreport_rus.pdf
in englisch: http://bi.gazeta.pl/mak/finalreport_eng2.pdf

Wie schon vor Monaten bekannt wurde, waren sämtliche Mobiltelefone im Moment des crashs eingeschaltet. Aus Vernehmungsprotokollen der polnischen Untersuchungsbehörden geht hervor, dass die crew der Unglücksmaschine vor dem Abflug in Warschau Kenntnis hatte über die schlechten Witterungsverhältnisse am Zielflughafen. Die Kollegen, die in Smolensk gelandet waren, bevor in Warschau der Präsident in seiner Suite saß, hatten es gemeldet. Der General der Luftwaffe soll dem Flugkapitän untersagt haben, den Staatspräsidenten über das schlechte Wetter in Smolensk zu informieren. Angeblich kam es schon vor dem Start zu einer Meinungsverschiedenheit zwischen erstem Pilot und seinem Vorgesetzten, dem General. Angeblich deshalb begrüßte der General den Präsidenten an Bord. Und nicht, wie sonst üblich, der erste Pilot.
Die Anschnallzeichen konnten natürlich kein einziges Leben retten an Bord dieser Maschine. Aber das Nichtanschnallen und das Nichtausschalten sagt viel aus über das Selbstverständnis der in dieser Maschine versammelten Elite des Landes.
Der Alkohol im Blut des Flugwaffengenerals hingegen sagt gerade soviel aus, dass er während des Fluges konsumiert worden sein muss. Denn er war nicht bis in die Nieren vorgestoßen. Jetzt müsste man noch erfahren, in wessen Blut noch Alkohol gefunden wurde, der noch nicht soweit verdaut war, dass er bereits die Nieren belastete.
Aus dem Bericht geht hervor, dass die Besatzung nüchtern war. Und auf Drängen eines ungeduldigen Politikers gab es schon vor Wochen eine offizielle Mitteilung, dass im Körper des polnischen Präsidenten keine Spuren von Alkohol nachgewiesen werden konnten.

Donnerstag, 13. Januar 2011

Schwefelsäure

Noch ein Geschenk: bei St. Goarshausen unter dem Loreleyfelsen liegt seit etwa 5 Uhr früh ein 110 Meter langes Tankmotorschiff gekentert auf dem Rhein. Beladen mit 2400 Tonnen Schwefelsäure. Zwei Besatzungsmitglieder konnten aus den kalten Fluten gerettet werden, zwei weitere werden noch vermisst. Das Wasser zeige keine auffälligen Werte, meldet die Feuerwehr, bei dem verunglückten Tanker handele es sich um ein "sehr gutes Zwei-Hüllen-Schiff".

Mittwoch, 12. Januar 2011

Die Schuld der Polen

Die russische Untersuchungsbehörde veröffentlicht ihren Bericht über den Flugzeugabsturz der polnischen Regierungsmaschine bei Smolensk vor 9 Monaten. Sie stellt fest, dass die polnische Besatzung die Katastrophe durch ihr Fehlverhalten verursacht hat:
  • Die Piloten unternahmen bei schlechtem Wetter (dichter Nebel mit Sichtweite von nur 200 m, kein Sichtkontakt mit dem Boden) einen Landeanflug, obwohl sie vom Tower keine Landeerlaubnis bekommen hatten.
  • Sie flogen mit Autopilot, obwohl der Flughafen nicht mit ILS ausgestattet ist.
  • Der barometrische Höhenmesser wurde nach den ersten Warnungen des Bordsystems TAWS ["Terrain ahead, pull up, pull up"] manuell von der richtigen Einstellung mit den tatsächlich herrschenden Luftdruckverhältnissen auf Standardeinstellung zurückgesetzt [wahrscheinlich aus Versehen, die crew wollte die nervenden Warnungen des TAWS ausschalten und drückte den falschen Knopf], dadurch zeigte er einen um etwa 180 m veränderten Wert an.
  • Die crew reagierte weder auf die Warnungen des Bordsystems, noch auf die Empfehlungen des Towers, einen anderen Flughafen anzufliegen, noch auf die Berichte über schlechte Sicht und dicke Wolken der polnischen Piloten, die mit einer anderen Maschine am Morgen bereits in Smolensk gelandet waren.
  • Die "Sterilität des Cockpits" wurde nicht eingehalten, dh es befanden sich während des Landeanflugs Menschen im Cockpit, die nicht zur Besatzung gehörten: 1. der Protokollchef des Präsidenten, 2. der Oberbefehlshaber der polnischen Flugwaffe, General Blasik, mit 0,6 Promille Alkohol im Blut.
  • Die crew war durch die Anwesenheit Nichtberechtigter im cockpit und durch den "wichtigsten Passagier" an Bord unter erhöhtem Stress.
  • Der Flugkapitän soll, einem psychologischen Gutachten zufolge, dem enormen Druck nicht gewachsen gewesen sein. Er scheute eine klare Entscheidung, hatte zuwenig praktische Erfahrung als erster Pilot und gar keine theoretische Erfahrung am Simulator mit Notfallsituationen. Wahrscheinlich verlor er wertvolle Zeit damit, im Nebel die Landebahn zu suchen, statt auf seine Instrumente zu achten.
  • Der Navigator, der bis zum bitteren Ende Höhendaten herunterlas, hatte kaum zwei Dutzend Flugstunden in einer Tupolew 154 verbracht.
Dem noch lebenden Zwilling gefällt diese Version der Geschichte aus verständlichen Gründen nicht. Er vermisst die Beweise zu Anschlags- bzw. Verschwörungstheorien. Sein Anwalt will Beweise dafür haben (und demnächst vorlegen), dass der Nebel am Zielflughafen künstlich erzeugt worden war.
Wie viele Polen vermisse auch ich eine objektive Einschätzung der Rolle, welche die Lotsen sowie der Zustand des Militärflughafens bei dem Unglück gespielt haben.

Dienstag, 11. Januar 2011

Montauk

Im Radio wird seit gestern am Morgen Max Frischs Erzählung "Montauk" gelesen. Die heutige Folge langweilt mich unglaublich. Lauter Nichtssagendes. Dabei verschlang ich diesen Text einmal als Offenbarung. Aber wovon? Ich verstehe die Welt nicht mehr.

Montag, 10. Januar 2011

Himmelstor

Der Hamburger Flughafen feiert heute seinen 100-jährigen Geburtstag.
Wir feiern heute 205 Monate Ehe.
Fuhlsbüttel begann nicht mit Flugzeugen sondern mit Luftschiffhallen für Luftschiffe. Den visionären "Fliegenden Zigarren" des Grafen und Flugnarren Ferdinand von Zeppelin. Schafe frassen damals das Gras auf der sumpfige Fläche kurz.
Heute gehören wir zu den dreizehn Millionen Fluggästen, die jährlich das Himmelstor im Norden nutzen. Schafe sieht man keine mehr, Gras auch nicht. das Gelände ist mindestens dreizehnmal so groß, planiert, asphaltiert, beheizt und enteist.

Sonntag, 9. Januar 2011

Hebbelhaus

Das Hebbelhaus in Wesselburen feiert in diesem Jahr sein 100-jähriges Bestehen. Friedrich Hebbel wurde 1813 in Wesselburen geboren, verbrachte Kindheit und Jugend in Dithmarschen, bevor es ihn in die weite Welt zog. Er starb 1863 in Wien, wo er auch begraben ist. Das Museum versammelt einige wenige Erinnerungsstücke an den Dichter, zusammengetragen vom Schornsteinfeger Herwig. Seit 1949 ist es untergebracht in der alten Kirchspielvogtei, wo der junge Hebbel nach dem Tod seines Vaters sieben Jahre lang für den Kirchspielvogt gearbeitet hatte.

Die Feierlichkeiten finden gesammelt im März statt:
  • Festakt am 18.3. mit geladenen Gästen, Verleihung des Hebbel-Preises
  • Gottesdienst am 20.3. mit Hebbelgedichten, anschließend Tag der offenen Tür, freier Eintritt
  • Literarischer Abend am 23.3. bei Wein und Kerzenschein, Wesselburener lesen Hebbel

Samstag, 8. Januar 2011

Vogelsterben

Noch ein Geschenk zum Neuen Jahr: Vögel, die scharenweise tot vom Himmel fallen. In der Neujahrsnacht sterben etwa 5000 Vögel in der Kleinstadt Beebe (Arkansas), Rotschulterstärlinge, Wanderdrosseln, Amseln, Rotkehlen, Stare. Einen Tag später liegen in Pointe Coupee (Louisiana) sowie in Texas Hunderte Vögel tot auf den Straßen. Krankheiten, Viren oder Vergiftungen schließen die Veterinärmediziner aus. Kälte, Stress oder Panik könnten ihre verheerende Rolle gespielt haben.
Bei Falköping in Schweden landen zwischen fünfzig und einhundert Dohlen tot oder halbtot auf dem Asphalt. In Norditalien verenden 700 Turteltauben. Die Obduktionen zeigen, dass ihre inneren Organe geschädigt sind. Den Grund finden Tierschützer um die Ecke: die Tauben frassen Sonnenblumenkerne, verseuchte Abfälle einer Ölfabrik! In Constanza am Schwarzen Meer werden tote Stare entdeckt. Analysen der Mageninhalte zeigen, dass sie betrunken waren - sie frassen zuviele Traubenreste!

Auch Krabben sterben (40 000 in Südengland). Fische sterben. Zwei Millionen in einer Bucht von Maryland. Tausende in einem Fluss in Florida. Und Menschen sterben.

Freitag, 7. Januar 2011

Schneeschmelze

Ich schaue den ganzen Nachmittag dem Schnee zu, wie er aus meinem Garten verschwindet. Ohne Weiß verliert das Spektrum die Farben und die Welt die Spuren. Kürzlich kam aus dem Radio die Hörspielfassung von Peter Hoegs Roman "Fräulein Smillas Gespür für Schnee". Ohne Schrift verliert der Text die Struktur.

Donnerstag, 6. Januar 2011

Eisregen

Das Radio ruft die Menschen dazu auf, zu Hause zu bleiben. Ich befolge jeden guten Rat und beschäftige mich mit Abschattungseffekten und Korkenzieherströmungen.

Mittwoch, 5. Januar 2011

Dioxin

Das Geschenk zum Neuen Jahr: Dioxin in Eiern, Dioxin in Hühnern, Dioxin in Schweinen. Sondermüll wird ins Tierfutter gemischt. In Konzentrationen, die vom Gesetzgeber gerade noch zugelassen werden (warum eigentlich?). Und landet logisch und unweigerlich irgendwann am Ort seiner Bestimmung: im menschlichen Körper. Das Endlager Mensch ist die praktischste Alternative zu allen anderen unersättlichen Müllkippen der Schöpfung. Nach uns die Giftflut.

Dienstag, 4. Januar 2011

Sonnenfinsternis

Neumond und die Sonne soll vor etwa einer Viertelstunde bereits um zehn Prozent verfinstert aufgegangen sein. Aber weder die Sonne noch der Schatten auf ihr sind zu sehen. Wir setzen unsere Sonnenfinsternisbrillen wieder ab. Eine dicke Wolkendecke liegt über unseren Dächern.

Montag, 3. Januar 2011

Schwarzmantel-Scherenschnäbel

Schwarzmantel-Scherenschnäbel sind Teilzieher. Die, die nicht geflohen sind vor der Ölpest, leben in den Sümpfen und Flussarmen des Mississippideltas. Die Thermik nutzen sie aus für ihre langen Gleitflüge. Bei Sturm stellen sie sich am Boden in Keilformation auf. Sie sind gesellig und fürsorglich. Rücken wie die Pinguine von innen nach außen. Jeder Vogel darf sich einmal im Windschatten mitten im Keil aufwärmen.

Sonntag, 2. Januar 2011

Alpenrose

Die Alpenrose, lese ich, ist weder eine Rose noch eine Schweizerin. Die Alpenrose ist ein aus Ostasien eingewandertes Heidekrautgewächs. Auch ihr wissenschaftlicher Name Rhododendron (griechisch für Rosenbaum) sei eigentlich irreführend.
Es soll Tausende von Alpenrosenarten geben. Immergrüne und laubabwerfende. Es ist wie bei den Menschen: die meisten leben in China. Im Osthimalaja dringen Alpenrosen bis ins ewige Eis vor, oberhalb von 4000 Metern bilden sie dort schier undurchdringliche Strauchschichten. In Europa kommen acht verschiedene Alpenrosen vor, davon in der Schweiz zwei: die Bewimperte und die Rostblättrige. Sie sind vikariierend, wie manch andere Schwestern auch. Wo die eine prächtig gedeiht, (die Bewimperte auf Kalk), gefällt es der anderen gar nicht (die Rostblättrige bevorzugt Granit, Gneis). Und umgekehrt.

Samstag, 1. Januar 2011

Tauwetter

Es taut tagsüber und friert nachts. So sind wir ins Neue Jahr gekommen: mit spikes an den Winterschuhen.
Wir wünschen Glück, Zuversicht und für jedes Problem eine einfache praktische Lösung!