Donnerstag, 31. Mai 2012

Die Pianistinnenbank

Seit dem ersten Gewitter vor ein paar Tagen weicht der Druck nicht vom Kopf. Und seither bin ich Warschaumüde. Es ist alles anstrengend. Das Land benimmt sich wie der kleine Kater. Voller Neugierde und Kraft, aber unvernünftig. Verpufft sinnlos seine Energien.
Am Abend in der Philharmonie. Ein Konzert mit der Sinfonia Iuventus. Die Tochter von Leszek und Marylla spielt Geige. Alle Kinder meiner alten Freunde sind heute erwachsen. Und aus allen, ausnahmslos, ist etwas geworden. Ewa Strusińska (http://www.ewastrusinska.com/) dirigiert. Mein Gott - wie viel Energie! Was für ein Fingerspitzengefühl. Was für eine Taktlosigkeit. Die Frau dirigiert mit dem Kopf, mit jedem einzelnen Haar. Mit dem Gesicht. Mit jedem einzelnen Muskel. Die Frau dirigiert nach hinten, in den Saal hinein, ins Publikum. Wie viel Freude sie aus einem so abgehalfterten Stück wie Mozarts Jupitersinfonie herauskitzelt. Und dann die Solistin. Leonora Armellini aus Padua spielt Chopin. Dreht als erstes die Pianistinnenbank vor dem Steinway hoch. In aller Ruhe. Mit nur 20 Jahren. Führt sie den Polen vor, wie man Chopin italienisch spielt. Mit Feuer im [A ...], sorry, im grazilen Körper natürlich. Das erste Klavierkonzert e-moll in Gänze. In Fragmenten ertönt es Tag für Tag aus einer der Chopinbänke auf dem Königstrakt.
Ich bin durch den Regen nach Hause gelaufen. Leszek und Marylla sind in die Metro gestiegen. Die erwachsene Tochter ist mit dem Orchester "odreagować" (Stress abbauen) gegangen. Der Mai hat doch noch ein gutes Ende genommen. Diese Land ist voller positiver Energie.

Die Schriftstellerbank

Die Schriftstellerbank
Zum Ende meines Warschauer Monats Mai: Die Schriftstellerbank!
Der Text zum Foto ist seit Wochen, seit Monaten in Arbeit.
Schatten werfen Menschen und Bushaltestellefahrplansäulen.

Mittwoch, 30. Mai 2012

Meine Hausbank

Hier residierte meine Hausbank. Im Seitenflügel des einstigen Sitzes des Zentralkomitees der polnischen kommunistischen Arbeiterpartei. Vor kurzem ist die Bank mit ihren Tischen in einen Neubau an der Weichsel umgezogen und Bösendorfer mit seinen Klavieren eingezogen. Links davon gibt es Ferraris, rechts Mont Blanc-Uhren oder -Stifte.

Die Bank der Eitelkeit


Chopinbänke

Der Chopinbänke sind viele in der Stadt. Hier die vor dem Kulturministerium, gegenüber dem einstigen Palast der Familie Radziwiłł - dem heutigen Sitz des Präsidenten der Republik Polen.
Nach dem gestrigen Mozart und openair-Requiem ist die Bank heute leer und zeigt ihre Botschaft: Das 8-jährige Wunderkind Chopin gab im linken Seitenflügel des Radziwiłł-Palais sein erstes öffentliches Konzert. Am 24. Februar 1818. Nach dem Auftritt verkündete der Knirps, von Muttern sonntäglich ausstaffiert: "Alle haben meinen schönen Kragen bewundert."
Also war das immer schon ein Ort der Eitelkeit.

Dienstag, 29. Mai 2012

Wartebänke

Musiker der Warschauer Kammeroper protestieren gegen die Schließung ihres Hauses und führen Mozarts Requiem unter freiem Himmel vor dem Kulturministerium auf.
Das ältere Publikum verteilt sich auf die Wartebänke entlang des Königstraktes.

http://warszawa.gazeta.pl/warszawa/10,88291,11823615,W_centrum_Warszawy__Requiem__Mozarta_na_130_osob_.html

Schattenbänke

Schattenbänke sind nicht zu verwechseln mit Sonnenbänken (oder Sonnenbanken?). Dies hier sind die Schattenbänke für das arbeitende Volk unter den Warschauer Linden vor der Universität. Das große Reinemachen hat begonnen.

Der Plural

Jenny Holzer
"Dekadenz kann Selbstzweck sein"
Warschau - die Stadt der Bänke. Die Schweiz - das Land der Banken. Welche unendlichen Welten tun sich unvermutet im Deutschen auf, wenn die Sprache einem Wort zwei verschiedene Pluralformen zugesteht. Warum tut die eine Sprache das und die andere nicht? Im Polnischen ist die Sitzbank etymologisch etwas ganz Anderes als ein Geldinstitut.
Parkbänke und Kreditbanken. Chopinbänke und Privatbanken. Steinbänke und Genossenschaftsbanken. Das Wort Bank im Deutschen kommt vom Tisch (ital. banco, banca) des Geldwechslers. Nicht von der Bequemlichkeit, etwa einer Sitzgelegenheit für den Kunden. Holzbänke und Badbanken [oder eher Badbanks?], Abwicklungsbanken, Auffangbanken. Gartenbänke im Schatten blühender Linden und Schattenbanken. Universalbänke und Universalbanken.
Die Jenny-Holzer-Bänke aus geschliffenem Naturstein tragen Inschriften und stehen vor dem Zamek Ujazdowski (http://csw.art.pl/new/program99/9956pl_p.html) seit dem Ende des letzten Jahrhunderts. Die Investmentbanken haben sich ein paar Jahrzehnte früher entwickelt.

Montag, 28. Mai 2012

63. Mahnwache in Meldorf

Wir stehen um 4 Uhr auf und nehmen den ersten 175-Bus. Er fährt wie jeden Montag. W. fliegt nach Hamburg zurück. Am Mittag wird er in Meldorf ankommen, wo Feiertag ist und das Gras in den Himmel wächst.

Heute, wie immer Montags
18:00-18:30 Mahnwache gegen Atomkraft
Meldorf, Südermarkt.

Und im Osten nichts Neues:
http://www.n-tv.de/politik/Abklingbecken-sicher-vor-Beben-article6362056.html

Sonntag, 27. Mai 2012

Meine Weichsel

Blick von der Weichsel auf die Altstadt. Wir fahren mit der Wassertram, die weder eine Tram noch ein Ausflugsboot ist. sondern einfach am Wochenende zuerst Flussaufwärts und dann Flussabwärts tuckert. Wäre ich auf meinem Balkon geblieben und W. allein auf dem Wasser, könnten wir uns zuwinken.
Es gibt Fähren über den Fluss, Sandstrände am linken unberührten Ufer, Fahrradwege zu beiden Seiten. Von der Großstadt sieht man so gut wie nichts.

Samstag, 26. Mai 2012

Mein Warschau

Warschau von oben. Vom 30. Stock des Kulturpalasts. Blick nach Osten. Aus Sentimentalität gönnen wir uns am hellen Mittag einen Brandy. Und gucken dann auch noch in die drei anderen Himmelsrichtungen.

Freitag, 25. Mai 2012

Praga

W. ist da. Wir fahren über die Weichsel und spazieren durch Praga. Werfen einen flüchtigen Blick durch das Absperrgitter in die Florianskathedrale, deren Türme ich von meinem Balkon sehe. Investieren eine sms, um die Prager Straßenkapelle zum Spielen zu bewegen. Leider vergeblich. Laufen über den Różycki-Basar, einst mit billigen Waren aus dem Westen ausgestattet, heute mit billigem Zeug aus China. Bestaunen die Überbauungspläne auf dem Areal der ehemaligen Wodka-Fabrik "Koneser". Das muss man gesehen haben, ehe es aus dem Boden geschossen ist. Essen in der besten "Milchbar" der Stadt, den besten Żurek, die besten Naleśniki. Umrunden das fast fertige Fußballstadium und fahren mit dem Zug wieder auf die andere Seite.

Donnerstag, 24. Mai 2012

Die Leiden des jungen ...

... Katers. Ich bin eine schlechte Pädagogin. Ich bin gar keine Pädagogin. Heute früh erlaubte ich Pako, meinem kleinen Tyrann, den ersten Spaziergang auf den Balkon, auf den eigenen vier Pfoten, den ersten seit seinem Sprung ins Nichts, in den Garten. Den Gang, den er - wie ich meinte - seit Tagen so lautstark verlangt. Ich hätte es ihm früher erlauben sollen. Und vielleicht mehr Ruhe gehabt. Wer weiss. Denn: Pako hat Angst. Er getraut sich kaum, die Schwelle der offenen Balkontür zu überschreiten. Und ist plötzlich heilfroh, dass ich ihn auf den Arm nehme. Schnurrt wie ein Traktor an meiner Brust. Seit ich am Computer sitze, drängt er sich auf meinen Schoss und kann nicht genug Streicheleinheiten bekommen. Weder der Balkon noch die Freiheit interessieren ihn.

Mittwoch, 23. Mai 2012

Verflossenes Gold

Ich bin derzeit in Warschau auf einem Retrotrip. Ungeplant und ungewollt. Tagtäglich zieht mich dieser Trip eine Straßenecke weiter. Kürzlich, während der langen Nacht der Museen, betrat ich als allerletztes den Pałac Kazimierzowski - heute der repräsentative Sitz der Universitätsleitung, damals, im Herbst 1983, als ich mit einem Koffer und keinem Wort Polnisch mein Stipendium antrat, Sitz der Polonistik. Und noch früher, aber das verriet mir damals niemand, das Wohnhaus der Familie Chopin. In meiner Erinnerung befanden sich hinter der schweren Eingangstür überfüllte Gänge, winzige Seminarräume, in denen man kaum Luft zum Atmen geschweige denn zum Denken (in einer fremden Sprache) hatte und seine Notizen auf den Knien machte. Nun sieht das Innere wieder aus wie zu Chopins Zeiten. Aber nicht der historisierende Rückbau beeindruckte mich. Das kann jeder und ist Geschmackssache. Sondern die einstige Verschandelung, das zielgerichtete Verbauen einer aristokratischen Vergangenheit mit dünnen Wänden, verzogenen Türen und fleckigen Linoleumböden.
Heute früh sammelte ich auf den Knien Tausende von sozialistischen Münzen ein. Mein kleiner Kater organisierte den Weckruf. Er veranstaltete ein mächtiges Getöse. Durch intensives Jaulen und unablässigen Einsatz seiner Tatzen brachte er es fertig, das mit wertlos gewordenen Złoty-Münzen mit dem ungekrönten polnischen Adler aus dem Nachlass von Adolf Rudnicki gefüllte schwere Korkgefäß vom Fensterbrett zu stoßen, das in dieser Wohnung den Zweck erfüllt, die Katzen daran zu hindern, durch ein nur ein Spalt weit geöffnetes Fenster auf den Balkon zu entwischen ... "złoty" bedeutet golden, "złoto" ist das Gold. Bis zur Einführung des Euro wird die polnische Währung golden sein.

Dienstag, 22. Mai 2012

Fassadenkletterer 2

Heute Mittag sahen die Fenster meiner Nachbarin zur Rechten (hier Frontalansicht, beim Nachhausekommen) so aus: man hat die Frauen dazu gebracht, ihre Buchstaben zu entfernen. Den ganzen Nachmittag bis spät in die Nacht wird um unsere wundertätige Glocke herum für eine historische TV Soap Opera gedreht. "Spione in Warschau". Die seltsamsten Gefährte fahren auf. Die seltsamsten Gestalten huschen um die Ecken. Bei 30 Grad im Schatten tragen sie Wolljacken und gestrickte Strümpfe. Ich muss die Pflanzen vom Fensterbrett wegräumen. Die Fenster schließen. Die inneren und die äusseren. Die Vorhänge zuziehen. Das Licht anzünden.
"Und das bleibt so bis um 2 Uhr nachts!", erklärt in seltsam gebieterischem Ton die junge Dame, die alle paar Minuten die Treppen heraufgerannt kommt, an die Tür klopft und noch einen Wunsch der Frau Regisseurin ausrichtet. Aber ich schlafe hier, wende ich ein. Und sie sagt in demselben gebieterischem Ton, wenn ich nicht bei Licht schlafen könne, müsse ich ins andere Zimmer umziehen. Und schwupps - sitze ich im (falschen) Film. Ob ich will oder nicht. Und gewährleiste die gleichbleibende (historische) Fassade.

Fassadenkletterer

Vor ein paar Tagen waren Fassadenkletterer zu Gange und überklebten jeden einzelnen Buchstaben meiner Nachbarin zur Rechten, der Partia Kobiet (Frauenpartei) mit papierenen Quadraten in den Nationalfarben. Rund um die wundersame Glocke versammelten sich Jugendliche mit bemalten Gesichtern. In den Nationalfarben diverser Länder. Ich dachte, das sei ein Auftakt zur EM, verließ das Haus und erlebte das Ende der Veranstaltung nicht. 

Montag, 21. Mai 2012

62. Mahnwache in Meldorf


Sendai (Japan, Nordwestküste, u.a. der Flughafen wurde vom Tsunami nach dem Tōhoku-Erdbeben weggespült), 10000 Stimmen singen Beethovens "Ode an die Freude". Soviel individuellen Ausdruck hätte ich einem japanischen Dirigenten, mehreren japanischen Solisten sowie Tausenden japanischen Chorsängern nie im Leben zugetraut! Die Aufnahme ist nicht datiert, dürfte aber vor dem verheerenden Erdbeben stattgefunden haben.

18:00-18:30 Meldorf , Südermarkt 
Mahnwache gegen Atomkraft und für Massenchorsingen weltweit

Sonntag, 20. Mai 2012

Mein Wald

Mein Birkenwäldchen bei Purzyce, wo ich vor 33 Jahren im Juli mein Zelt aufschlug ... eine bekannte Geschichte, oft genug erzählt und beschrieben.
Waldemar (etym. leider nicht verwandt mit "Wald", sondern kommt von ahd. „waltan“ = walten, herrschen, Herrscher) holte mich gestern früh ab und wir fuhren den ganzen Tag Erinnerungen ab.
Danach: lange Nacht der Museen in Warschau. Kontrastprogramm. Noch nie habe ich die Stadt so erlebt. Zum Schlafen komme ich nicht mehr.

Samstag, 19. Mai 2012

Stummer Mahner, blinder Seher

Nachtrag zum arbeitenden Samstag: Farocki war beim Auftakt der Retrospektive seines Werks in Warschau. Nach dem Film wurde geredet. Jeder durfte dem Regisseur Fragen stellen. Anstrengend und unergiebig. Ein nach Worten ringender Diskussionsleiter, ein überforderter Übersetzer und nicht funktionierende Mikrophone. Das übliche Ensemble. Der Übersetzter hatte die undankbare Aufgabe, für einen deutschen Filmregisseur polnisch - englisch zu übersetzen. Farocki sprach englisch. Und saß vor einer überdimensionierten Werbetafel des Goethe-Instituts. Ein polnischer Englischdolmetscher muss nicht wissen, was die "Frankfurter Schule" ist (eine Schule in Frankfurt? In Frankfurt an der Oder oder in Frankfurt am Main???). Oder wer Günther Stern bzw. Günther Anders war. Das wissen nicht einmal alle, die westlich der Oder wohnen. Die kennen Stern höchstens als Hannah Arendts ersten Ehemann.
Menschen wie Farocki sind dazu da, Eis (oder Beton) zu brechen. Plötzlich sagte er, statt auf eine Frage zu antworten, wie interessant es für ihn sei, eine Sprache zu hören, von der er kein Wort verstehe. Und dann wollte er wissen, was das Wort "schleppen" (so hatte er es gehört) bedeute. Er habe den Eindruck, es würde hier andauernd gebraucht.
Was er aus dem Geschwätz herausgefiltert hatte, war "ślepy". Die polnische Vokabel für "blind". Das wichtigste Wort des ganzen Abends. Sein Film zeigt Archivaufnahmen. Luftaufnahmen der Alliierten von Auschwitz. Aufnahmen der SS von ankommenden Transporten. Bilder der Welt. Inschrift des Krieges. Niemand sah die Vernichtung, den Massenmord. Die Alliierten suchten Fabrikanlagen der IG-Farben und fanden sie. Auschwitz kam zufällig mit auf ihre Bilder. Sie hatte keinen Auftrag, ein Konzentrationslager zu suchen. Also sahen sie es nicht.

Freitag, 18. Mai 2012

Mein Meister

Freitag Abend, ul. Czerska (Redaktion GW): Mein Meister bekommt den Titel "Mensch des Jahres" (2012) von der Gazeta Wyborcza verliehen.
In untenstehenden Pressetext eingebaut sind drei Filmchen (1 x Chefredaktor Michniks Begrüßung, 1 x Chefredaktor Michniks Urkundenübergabe + Tadeusz Konwickis Danksagung, 1 x Laudator Prof. Werner), nett anzusehen, auch wenn man nix versteht:
http://wyborcza.pl/1,75475,11754907,Tadeusz_Konwicki_Czlowiekiem_Roku__Gazety_Wyborczej_.html

Text Laudatio Prof. Andrzej Werner (poln.):
http://wyborcza.pl/magazyn/2029020,126715,11750611.html

Fotos, sw, 1980er Jahre:
http://wyborcza.pl/duzy_kadr/56,97904,11750942,Tadeusz_Konwicki_w_obiektywie_Tadeusza_Rolke.html

Artikel post factum:
http://wyborcza.pl/magazyn/2029020,126715,11753729.html

ex oriente lux

Freitag Vormittag, vor meinem Schreibtisch. 

Jeśli orientalnie
TO TYLKO SUSHI!

Wenn orientalisch
DANN NUR SUSHI!


Donnerstag, 17. Mai 2012

Mein Patenkind

Mein Patenkind wurde 1986 in Warschau geboren, ist also kein Kind mehr. Es war von Anfang an eine schwierige Patenschaft.
Mein Patenkind ist weiblich, studiert Musik (Harfe), promoviert derzeit an der UMFC (Uniwersytet Muzyczny Fryderyka Chopina) über eine Harfenkomponistin, deren Name ich vergessen habe. Mein Patenkind reist demnächst mit einem Forschungsstipendium für ein halbes Jahr nach Amerika. Mein Patenkind ist nicht unerfolgreich, nur bettelarm. Aus diversen Gründen schlägt mein Patenkind immer wieder gute Angebote aus. Aus verständlichen Gründen hat mein Patenkind Angst um die Hände, die Finger. Aus unverständlichen Gründen lässt mein Patenkind sich zur vereidigten Spanisch- und Französisch-Übersetzerin ausbilden. Als Übersetzerin will mein Patenkind nicht arbeiten. Das würde ich als Harfenistin auch nicht tun wollen. Mein Patenkind wird im Wintersemester neben Harfenspiel, Promotion, Übersetzerdiplom noch ein Jurastudium anfangen.
Die Mutter meines Patenkindes kenne ich aus der Zeit, als ich in Warschau Polonistik studierte und im siebten Himmel war (ich wohnte im 7. Stock des einzigen Hochhauses am Rande der Altstadt). Der Vater meines Patenkindes war damals wie ich Stipendiat an der Warschauer Universität. Er lernte wie ich die Mutter meines Patenkindes kennen. Uns beiden hörte man damals an, dass wir Ausländer sind. Im Gegensatz zu mir sah man es ihm auch an. Er kam aus Angola.
Es war von Anfang an alles schwierig.
Ein Kollege von mir, der als Kind mit seinen griechischen Eltern in die Schweiz kam und heute linguistisch ein sauberer Glarner ist, sagte einmal: "Menschen wie ich sind entweder genial oder werden wahnsinnig."

Mittwoch, 16. Mai 2012

Der Schulorganist

für den Kantor von St. Jürgen

Noch einmal Wizytki, noch einmal Königstrakt, noch einmal Chopinbänke. Stilleben mit grünem Schuh. Die Chopinbänke sind selbstreferentiell - sie erklären sich und ihren Standort. Die Bank vor der Kirche der Salesianerinnen verkündet im schönsten Konjunktiv, dass die Orgel in der Kirche wahrscheinlich (podobno / is said to) noch mit einigen Originalorgelpfeifen ausgestattet sei aus Zeit, als Chopin hier Schulorganist war (1825).
Der fünfzehnjährige Schulorganist prahlte damals, er sei nach dem Rektor die zweitwichtigste Person an der Schule (dem Warschauer Lyzeum). Denn während alle anderen singen mussten, konnte er spielen!

Dienstag, 15. Mai 2012

Die spielende Bank

Überbleibsel vom Chopinjahr (2010, 200. Geburtstag des Komponisten): Die Chopinbänke auf dem Königstrakt. Aus schwarzem Marmor mit integrierter Technik. Berührt man die Bank, mit der Hand oder dem Hintern, fängt sie an zu spielen. Schmettert auf einem unsichtbaren Klavier Ohrwürmer. Während der kürzlichen Hitzetage (heute Kalte Sophie, brrrrrr) versagte die Technik. Verstummte die Musik. Auf dem polierten Marmor hätte man Spiegeleier braten können. Gestern hantierte ein Handwerker mit einem simplen Schraubenzieher am touch point, der berührungsempfindlichsten Stelle. Und heute spielt die Bank wieder Chopin. Die Mazurka in a-moll.

Hier kann der ganze Weg der spielenden Bänke virtuell abgeschritten und nachgehört werden: http://chopin2010.um.warszawa.pl/

Montag, 14. Mai 2012

61. Mahnwache in Meldorf

Wie immer montags eine Reminiszenz ans Wattenmeer. Heute nach Heide mit einer besonderen Note. Dem Hintereingang oder Geräteschuppen meiner einstigen Nachbarin - als ich noch im 7. Stock an der Kopernikusstrasse (ulica Kopernika) wohnte und meine Schlummermutter mir dankbar die Lebensmittelmarken abnahm - der damaligen Warschauer Musikakademie und heutigen Frederyk-Chopin-Musik-Universität. Umbenannt, aufgewertet und rundum aufgehübscht, wie so vieles.

Die 61. Mahnwache für gegen Atomkraft auf dem  Meldorfer Südermarkt, 18:00-18:30.
Probe der Heider Kantorei 19.30-21.30  im Gemeindehaus.

Sonntag, 13. Mai 2012

Der klingende Sonntag

für Nada
Bin im Regen über die Weichsel gefahren, um in der orthodoxen Kathedrale, deren Kuppel ich von meinem Balkon aus sehe, ein Konzert des Kathedralchores zu hören. Da ich zu früh war, bzw. man es an solchen Orten mit der Zeit nicht so ernst nimmt, war noch die normale Sonntagsvesper zugange. Und bereits der normale Kirchenchorgesang ging mir durch Mark und Bein. Ist eben etwas anderes als das Tosen einer Kirchenorgel.

Samstag, 12. Mai 2012

Der arbeitende Samstag

Früher gab es in diesem Land einmal im Monat sobota pracująca. Einen Samstag, an dem die Geschäfte geöffnet waren und alle Menschen arbeiteten. In meinem Sprachverständnis war das immer der arbeitende Samstag. Und nie der Samstag, an dem gearbeitet wurde.
Aus Nostalgie - wer einen Satz mit "Früher" anfängt, ist alt geworden - liess ich heute meinen Samstag arbeiten. Kaffee wie üblich mit Konwicki. Und unüblich mit Kurt Weber, der Konwicki 1964 bei den Dreharbeiten zu Salto eine Watermanfüllfeder geschenkt hatte. Mit dieser Feder schrieb mein Meister alle wichtigen Romane und Drehbücher. Wir fragten uns, was ohne diesen sagenhaften Waterman geschehen wäre.
Dann die letzten Korrekturen am Japanmanuskript. Dann im Kulturpalast wisniówka (Kirschlikör) und sok z czarnej porzeczki (schwarzer Joahnnisbeersaft) mit der Verlegerin. Sie trinkt Alkohol, ich nicht. Sie, weil sie ausnahmsweise ohne Auto unterwegs ist. Ich, weil mir wieder eingefallen ist, dass in diesem Land nichts so gut schmeckt wie schwarzer Johannisbeersaft. Dann schauen wir uns in der Kinoteka den Eröffnungsfilm zur Harun Farocki-Retrospektive an. Images of the World and the Inscription of War von 1988. Immer noch aktuell: die Welt abbilden (heute würde man sagen: scannen), bedeutet nicht, sie zu sehen. Dann laufe ich durch die schwarze Nacht nach Hause, füttere die Katzen und falle ins Bett.

Freitag, 11. Mai 2012

Wawrzyszew

Die Retourkutsche - mein Geschenk für meinen Mann anl. unseres gestrigen Zehnten. Diesen ganzen ersten Satz kann ich im Polnischen in ein einziges Wort packen, seinen Vornamen im Dativ: Wolfgangowi.
Mein Ausflug in den Norden der Stadt. Zum ersten Mal fahre ich mit der Metro zu Leszek und Marylla, die ich seit 28 Jahren kenne. Steige an der vorletzten Station aus, Wawrzyszew. Es fällt sogar dem Mann auf dem Tonband schwer, den Namen dieser Station auszusprechen. Oder sind nur die Lautsprecher schlecht eingestellt? Jedenfalls scheppert es im U-Bahnwaggon wie früher in den Ikarusbussen. Wawrzyszew. Und dann die Straßennamen: Goldoniego, Wergiliusza, Dantego, Sokratesa, Horacego, Petofiego, Tolstoja, Balzaka, Szekspira, Czechowa ... Im Polnischen steht der Name einer Straße, wenn sie ihn von einem Menschen bekommen hat, immer im Genitiv. Das macht den Stadtplan nicht unbedingt transparent für Ausländer. Die Grammatik steht über der Gastfreundschaft. Der Genitiv regiert die polnische Straße. Die Straße des Herrn Goldoni, der Herren Vergil, Dante, Sokrates oder Horaz, die Straße des Herrn Petöfi usw. Manche Eigennamen werden grammatikalisch als Substantiv behandelt und bekommen hinten das -a des maskulinen Genitivs (da zumeist Männer ihre Namen der Straße überlassen, so Shakespeare, Balzac oder Tolstoj). Andere Eigennamen hingegen bekommen die auch maskuline adjektivische Genitivendung -ego (Dantego) oder -iego (Goldoniego), je nachdem ob der auslautende Konsonant historisch weich oder hart ist.
Mein polnisches handy übrigens kennt alle Straßennamen dieser Stadt in der korrekten grammatischen Relation und korrekten Schreibweise. Wenn ich nicht weiß, wo ich bin, gucke ich auf das Display. Und das sagt mir zB Metro Ratusz Arsenał. Wenn ich zu Hause bin, zeigt es mir verschiedene Koordinaten. Manchmal schlicht Warszawa. Oder Śródmieście (Innenstadt). Oder Stare Miasto (Altstadt). Oder geheimnisvoll Moliera-Trębacka. Aber auch - der Himmel allein weiss, warum -  Browarna-Karowa. Heute war ich den ganzen Abend in Wawrzyszew.

"Schweizer sind Idioten"

Diesen Artikel hat mir mein Mann zum gestrigen Zehnten geschenkt. Und wie sagt das Sprichwort? Einem geschenkten Gaul ...
http://www.n-tv.de/leute/Schweizer-sind-Idioten-article6202656.html

Donnerstag, 10. Mai 2012

Der Zehnte der Anderen

Seit 25 Monaten ist jeder 10. in diesem Land kontaminiert und die Gesellschaft rund um die Uhr tief gespalten. In solche und andere. Seit dem 10. April 2010, als der Staatspräsident bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam und mit ihm 95 andere, größtenteils hochrangige Menschen. Es war nicht die erste Katastrophe der Luftfahrt, und wird nicht die letzte gewesen sein, zu der es aufgrund allgemeinmenschlicher Schlamperei und Selbstüberschätzung der Piloten kommt.
Auch so ein unschuldiges, und im slawischen Sprachraum mit viel poetischem Potential befrachtetes Wort wie "Birke" ist seither in diesem Land kontaminiert. Weil das Flugzeug im dichten Nebel eine russische Birke unsanft streifte, und die ihm zur Strafe einen Teil des Flügels abriss.
Bei uns am Wattenmeer gelten Birken als Unkraut. Die Frau, der wir unser Haus abkauften, schimpfte auf die Birken, die am Rand des Grundstücks standen, weil die immer als letzte ihr Laub abwarfen. Das ist doch schön, dachte ich damals, erfüllt von einer romantischen Sehnsucht nach den Birkenwäldchen am Baikalsee. Mittlerweile hat die Stadt die Birken gefällt. Angeblich weil ihre Wurzeln in die Kanalisationsschächte eingedrungen waren.

Unser Zehnter

Meine Nachbarn zur Linken. Pałac Ślubów - Der Hochzeitspalast. Das Warschauer Standesamt Nr. 1. Hier gaben sich Herr Arlt und Frau Büsser vor 221 Monaten kein JA-Wort.
NEIN, wir versprachen uns unter Zuhilfenahme eines Dolmetschers - ich galt als befangen, nicht objektiv und durfte in dieser Sache kein Wort für meinen Zukünftigen übersetzen - etwas in einen langen Schachtelsatz sorgsam Eingewickeltes, so dass mein Mann bis heute behauptet, nicht zu wissen, was damals eigentlich vor sich gegangen ist. Den Standesbeamten hat er in Erinnerung als "der Mann mit der Kette", weil der seine Amtsinsignien an einer grobgliedrigen Prunkkette auf der Brust trug.

Mittwoch, 9. Mai 2012

Die Spottdrossel 2

Spottdrossel ist der Name, der auf meine Berliner Maria K. zugeschnitten ist, wie ein Maßanzug vom Schneider. Wie Maßschuhe vom Schuster. Ich kenne niemanden, der Spott literarisch so intelligent und beißend zubereiten kann wie Maria K.
Tiere sind eine Bereicherung des Lebens, nicht nur des Wortschatzes. Dank meines hungrigen Kleinkaters war ich heute an der Hoża. Überquerte die Aleje Jerozolomskie. Lief durch die Krucza. Verließ den ewiggestrigen Königsweg. Um Spezialtrockenfutter für heranwachsende Katzen zu kaufen. Begab mich in die architektonische Welt südlich des Kulturpalasts und atmete auf! Sozialistische Monumentalität, Rechtwinkligkeit, Geradlinigkeit. Heute bunt aufgehübscht und laut, früher öde und grau. Aber nicht die Farbe macht die Welt. Sondern der Raum. Der Raum weitet die Brust. Nicht die Reklametafel. Die Zeit, die man braucht, um auf eine andere Straßenseite zu gelangen, hebt die Last von den Schultern. Nicht die siebenundvierzigste Rossmannfiliale in der Stadt. Wer aus der Lichtlosigkeit des Tals der Linth kommt, dem ist Warschau Balsam für die Seele. Ende der ungereimten Poesie.
Ein Hoch auf die Spottdrossel Maria K. Demnächst erscheint ihr neues, bitterböses Buch.



Die Spottdrossel

Aus Berlin erreicht mich ein Lesezeichen von Maria K., meiner polnischen Freundin und deutschschreibenden Kollegin. Annie Dillard, Der freie Fall der Spottdrossel. Was für ein Titel! Was für ein Anfang!
http://www.werner-friedl.de/Dillard_Spottdrossel_Leseprobe.htm

Vor dem Einschlafen las ich in der Leseprobe von der Nachtkatze, um die Gedanken an Sebastian, den Erfinderhund aus einem Roman Konwickis mit einem unaussprechlichen Titel abzuschütteln. Sebastian war in einem früheren Leben ein englischer Lord und kann sprechen. Natürlich spricht er ein gepflegtes britisches Englisch, bedient sich im Roman aber aus praktischen Gründen des Polnischen. Weder die anderen Figuren noch die Leser würden ihn sonst verstehen.
Nach dem Aufwachen wird mir klar, dass ich in dieser Wohnung nicht träume. Dass meine Gelenkschmerzen verschwunden sind. Dass mein Pfotenwetzender und Muttermilchmelkender junger Kater meine Brust diese Nacht verschont hat.

Dienstag, 8. Mai 2012

Alltag

Endlich Normalität. Ein Dienstag wie aus dem Bilderbuch. Ich habe den Direktor des Adam-Mickiewicz-Instituts (poln. Entsprechung zum Goethe-Institut) kennengelernt. Eine Verbeugung und ein fester Händedruck, mehr nicht. Seine Vize ist die frühere Direktorin des Polnischen Kulturinstituts in Berlin. Eine alte Bekannte, über die sich die Berliner "Polonia" das Maul zerriss, weil sie Netzstrümpfe trug. Zu Hause finde ich in G's Briefkasten eine Mitteilung der Post, dass ein eingeschriebener Brief nicht zugestellt werden konnte. Für solche Fälle habe ich meinen Schweizer (und nicht den Deutschen) Pass eingesteckt. Wenn ich Glück habe, gelingt es mir, das Einschreiben ohne Vollmacht abzuholen. Am Abend klopfen zwei blutjunge Polizisten an die Tür. Gegen die Nachbarn unten laufe ein Ermittlungsverfahren (wegen "häuslicher Gewalt", G. hatte mich vorgewarnt), ob ich etwas bemerkt habe. Nein, ich habe nichts bemerkt. Nur soviel (aber das sage ich nicht), dass in diesem Land nicht mehr alles als Kavaliersdelikt durchgeht. Ich bin hier nur zu Besuch. Oben wohnen neue Nachbarn. Zur Begrüßung wurden ihnen (vor meiner Ankunft) alle drei Fahrräder aus dem Treppenhaus geklaut. Ganz normaler Alltag.
Wer wissen will, wie die Welt der Katzen aussieht, kann hier einen Blick darauf werfen:
http://przywattach.blogspot.com/

Montag, 7. Mai 2012

60. Mahnwache in Meldorf

Endlich Montag. Endlich frische Morgenluft. Temperaturen im einstelligen Bereich. Endlich ist es in Warschau kälter als in Paris oder am Wattenmeer. Kein Mensch tanzt um die wunderwirkende Glocke.
Endlich Montag. Das Telefon funktioniert wieder. Das Mobilteil hat den Kontakt zu seiner Basistation reaktiviert, nachdem ich diese einer Steckdose ohne Wackelkontakt anvertraut habe. Meist sind die Probleme am Montag keine mehr, die einen den ganzen Sonntag beschäftigen.
Endlich Montag. Japan ist Atomstromfrei, wenigstens vorübergehend.

Endlich Montag.
60. Mahnwache für den Atomausstieg:
18:00-18:30 Südermarkt, Meldorf

Sonntag, 6. Mai 2012

Tanz der Vampire

Dutzende solcher und ähnlicher Fotos habe ich bereits aus dem Küchenfenster geschossen. Gestern war das erste Hochzeitspaar da, aber ich kam zu spät. Am 3. Mai versammelten sich unter meinem Fenster alle Bodygards der Regierungsmannschaft und ich getraute mich nicht, sie zu fotografieren. Sie sahen harmlos aus, wie Konfirmanden in viel zu großen Anzügen. Sie rauchten, schwatzten, tranken Wasser aus Plastikflaschen, telefonierten, polierten die Rückspiegel der schwarzen Limousinen, während der Staatspräsident, der Premierminister und das halbe Parlament in der Kathedrale beteten. Trotzdem hatte ich Angst, sie könnten mich auf der Stelle erschießen.

Sprung in der Schüssel

Sonntagmorgen

Mein Blick aus dem Küchenfenster am Sonntagmorgen. Wie versprochen: auf das Straßenpflaster. Auf einen ausnahmsweise menschenleeren Platz. Auf eine Glocke auf einem kleinen Betonsockel, schön zentriert auf einem größeren Betonsockel, in der Sonne. Diese Glocke hing nie in einem Kirchturm, gab nie einen Ton von sich. Denn es handelt sich um einen Fehlguss.
Hier, auf dem dreieckigen Platz hinter der Johanneskathedrale befand sich einst der erste Friedhof Warschaus. Hier wurde höchstwahrscheinlich auch der Glockengießer Daniel Thiem bestattet und die Glocke kann im besten Fall als symbolisches Grabmal eines königlichen Glockengießers gelten, der ausgerechnet mit dieser Glocke (1646 für die Jesuitenkirche in Jaroslaw in Auftrag gegeben), keinen großen Ruhm erlangte. Sie war unbrauchbar, verlor beim Abkühlen die Stimme, da das Metall zersprang. Warum dieser Pfusch seit 1972 vor Grażynas Küchenfenster steht, kann mir niemand erklären. Warum dieser Fehlguss die Jahrhunderte im Nationalmuseum überlebte, warum die Handwerker das wertvolle Material nicht wieder einschmolzen und beispielsweise zu kugelrunden Kanonenkugeln formten, kann mir keiner sagen. Um diese tote Glocke vor meinem momentanen Küchenfenster werden Tag für Tag die wunderlichsten Tänze aufgeführt. In Wellen ergießen sich hier Touristengruppen, schon beim ersten Tee am Morgen höre ich die Anweisungen der Reiseleiter. Auf einem Bein, auf dem rechten oder linken, mit geschlossenen Augen, mit der Hand oben auf der Glocke, einem Herzenswunsch im Herzen, nicht auf den Lippen, rund um die Glocke hüpfen, einmal, dreimal, im Uhrzeigersinn, gegen den Uhrzeigersinn - alles ist hier möglich, Hauptsache man glaubt fest daran und hält den Mund und die Augen zu. Dann geht der Wunsch garantiert in Erfüllung. 

Samstag, 5. Mai 2012

Florian

Der heilige Florian war gestern. Und heute, dachte ich, sei einfach Samstag. Der Beginn eines Wochenendes, auf dessen Ende ich warte, seit ich in Warschau angekommen bin. Ein ganz normaler Samstag in der Großstadt im Mai. Auf dem Rückweg in die Altstadt, in die Wohnung mit dem Balkon, von dem aus ich die Türme der Florianskathedrale am anderen Weichselufer sehe, überrollt mich schon wieder eine Parade. Diesmal laut, mit Marschmusik, halbnackten, nur mit rotweißen Fähnchen bekleideten, hochbeinigen Tänzerinnen (wie heißen die im Fachjargon? Etwas peinlich anzugucken - deshalb bleibt dieser Eintrag unbebildert), Sirenengeheul und stinkenden Motoren. Die Feuerwehr feiert ihren Patron (den heiligen Florian) in der Hauptstadt wahrscheinlich aus praktischen Gründen mit einem Tag Verspätung und zieht mit historischen Löschwagen am hellen Mittag über den Königsweg. Kreuzt meinen Arbeitsweg! Verscheucht meine Gedanken! Platzt auf meinen Schreibtisch!
Hört denn das Feiern in diesem Land nie auf?
Heute ist Waldemar und ich hätte mit dem Waldemar nach Purzyce fahren können, den ich dort im Juli 1979 kennenlernte. Zum Namenstagfeiern. Aber noch ist es zu früh für einen Ausflug aufs Land. Die Katzen führen gerade Krieg, und da ist es gut, wenn gelegentlich ein Mensch ein Machtwort spricht oder eine Türe verschließt.

Frida

für Frieda 3

Im Fenster spiegelt sich die andere Straßenseite, die grüne Markise des Café Blikle. Nowy Świat, Ecke Foksal, bzw. Chmielna.
Meine, unsere, alte und neue Welt, alte und neue Heimat.

http://www.restauracjafrida.pl/

Freitag, 4. Mai 2012

Sommerfüße

für Frieda 2

Kaum war der Lack trocken, fing es an zu regnen. Wie eine Selbstmörderin stürzte sich die Temperatur in die Tiefe.

Sommerschuhe

für Frieda
Ich musste leider bei der Konkurrenz kaufen. Soll Leder sein, ist weich und riecht gut. Der vordere Riemen schützt meinen Halux, der keiner ist. Die Farbe erinnert an die Hochzeitstasche, und was sagt die Fachfrau zur Sohle?

Der Königsweg

Was hat der Königsweg (Trakt Królewski - http://www.warschau.info/koenigsweg.html) mit meinem Schreibtisch zu tun?
Freitag, schwül wie im August, es gilt der Sonntagsfahrplan, obwohl heute kein Feiertag ist. Außer mir arbeitet niemand in diesem Land. Meine Freunde sind verreist, meine Verlegerin sitzt irgendwo im Grünen und guckt in den blauen Himmel. Niemand geht ans Telefon, keiner antwortet auf mails. Die Krakauer Vorstadt ist immer noch bis zur Kirche der "Wizytki" (Ordo Visitatio Mariae - Orden von der Heimsuchung Mariens, zu deutsch Salesianerinnen oder Visitandinnen) gesperrt. Und das wird so bleiben, bis irgendwann mit einem Montag eine neue Woche beginnt. Ich kaufe nach dem Kaffee mit meinem Meister an der Chmielna Sandalen und Eis, eile nach Hause, lackiere meine Zehennägel königsblau und setze mich an den Schreibtisch, der nur vorübergehend meiner ist.
Der Königsweg ist mein Arbeitsweg. Zweimal zwanzig Minuten Fußmarsch täglich. Hin und her. Mein Fitnessprogramm. Meine Inspiration. Mein Aufputschmittel. Mein Kreislauf kommt in Gang, meine Schweißdrüsen, die grauen Zellen. Ich habe mir in den Kopf gesetzt, 2738 Druckseiten meines Meisters zu durchforsten nach etwas, das noch niemand gefunden hat.

Donnerstag, 3. Mai 2012

Mein Schreibtisch

Ich versuche zu arbeiten. Seit ich in Warschau bin, ist Sonntag, Wochenende, Feiertag. Jeden Tag muss ich mich auf meinem Königsweg (von der Altstadt durch die Krakauer Vorstadt bis zur Neuen Welt) durch eine anders geartete Menschenmenge drängeln. Jeden Tag komme ich am anders dekorierten Präsidentenpalast vorbei. Jeden Tag fahren auf der halben Strecke keine Busse. Erst vor der Universität laufe ich eine Haltestelle an, die angefahren wird. Aber da bin ich immer schon fast am Ziel. Ich bin aus der Zeit gekippt, nicht aus dem Stadtplan. Jeden Tag hoffe ich, dass morgen eine neue Woche anfängt, endlich ein Montag an die Tür klopft. Ich versuche zu arbeiten. W. ist auf dem Weg nach London.

Der dritte Mai

Tafel am Warschauer Königsschloss:
"In diesem Gebäude verabschiedete am 3. Mai 1791 der Sejm der Republik Polen die Verfassung, und bewertete darin als höchstes Gut des Volkes die Unabhängigkeit nach Außen und die Freiheit nach Innen."

Diese Verfassung (nachzulesen deutsch hier: http://www.verfassungen.eu/pl/verf91-i.htm) blieb ein Jahr lang in Kraft, dann wurde der König gezwungen, die Reformen rückgängig zu machen und die Kapitulation zu unterschreiben. Im Januar 1793 beschlossen Preußen und Russland die 2. Teilung Polens.

Erinnert irgendwie aus der Ferne an die Geschichte der freien Bauernrepublik Dithmarschen.

Mittwoch, 2. Mai 2012

Meine Küche

Der Blick aus meiner Warschauer Küche in den wolkenlosen Himmel (es gibt auch einen auf das Strassenpflaster, der kommt ein ander mal). Wahrlich wie im Bilderbuch. Unter so vielen Kreuzen kann nichts anbrennen. Ich koche meine erste Suppe.

Der zweite Mai

Zwischen dem gestrigen Feiertag (Tag der Arbeit) und dem morgigen Feiertag (Nationalfeiertag - anlässlich der ersten "modernen" Verfassung Europas vom 3. Mai 1791) hat vor dem ersten Gewitter exakt das schmalste Haus Warschaus Platz. Meine unmittelbaren Nachbarn zur Linken, wenn ich nach Hause komme, zur Rechten, wenn ich aus dem Küchenfenster gucke.
Ein Foto ganz ohne Fahnen. Ganz ohne Nationalfarben.
Heute ist der offizielle Tag der Flagge der Republik Polen (Dzień Flagi Rzeczypospolitej Polskiej), umgangsprachlich der Tag des Flaggezeigens, etabliert seit 2004, aus praktischen und politischen Gründen. Damit die Fahnen zwischen dem 1. und 3. Mai nicht abgehängt werden müssen. Und als Zeichen gegen die sozialistische Vergangenheit. Damals wurden die 1. Mai-Fahnen am 2. Mai flächendeckend in fiebriger Eile entfernt. Damit sie nicht versehentlich am 3. Mai an etwas erinnerten, was vergessen werden sollte.

Dienstag, 1. Mai 2012

Die Neue Welt

Die Neue Welt - Nowy Świat - ist eine Strasse in Warschau. Aufmarsch der Linken und Gewerkschaften in der größten Mittagshitze. Hier die Lehrerinnen + ein Lehrer, bunt und fröhlich, unter Sonnen-Rettungsschirmen. Für diejenigen unter ihnen, die Deutsch unterrichten, wurde damals die Schweizer Mediathek in einem hochherrschaftlichen Haus im Zentrum der Stadt eingerichtet (mittlerweile in eine schnöde Stadtteilbibliothek nach Praga Süd verbannt). Aus Mitteln der Eidgenossenschaft. Für das bessere Vermitteln von Sprache.

Der erste Mai

Meine Nachbarn zur Linken oder Rechten (alles ist relativ - je nachdem, ob ich komme oder gehe), die Frauenpartei oder Partei der Frauen (Partia Kobiet) feiern seit dem 11. Januar ihr fünfjähriges Bestehen (5 lat).
Gegründet wurde die Partei 2007 von meiner Kollegin, Manuela Gretkowska. Bei den Parlamentswahlen 2007 bekamen die Frauen landesweit 45 Tausend Stimmen (0,28%), 2011 nur noch einen Bruchteil davon, 12 Tausend (0,082%).