Samstag, 19. April 2008

Der Dachrinnenreinigungsschlitten

Ich mag vieles an zusammengesetzten Substantiven. Unter anderem die Konsonantenhäufungen. Das so vollkommen Überraschende fürs Auge (nur für das Auge!), wenn „nn“ und „ss“ und „tt“ in einem einzigen Wort zusammen auftreten. Aber ich mag auch diese rasant-melodiöse Beschleunigung, die vergleichbar ist nur mit der Fahrt einer Fernsehkamera, die alles unternimmt, um den aktuellen Weitenrekordhalter im Skifliegen – nicht zu verwechseln mit dem aktuellen Skiflugweltmeister – den Norweger Bjørn Einar Romøren während seines Flugs von der Heini-Klopfer-Skisprungschanze für den Zuschauer zu Hause in der warmen Stube nicht aus dem Bild verschwinden zu lassen.
Also sind letztlich meine Lieblingswörter, die Komposita hauptsächlich fürs Auge (nur für das Auge!) da.

Draußen ist herrlicher Frühling und ich bin mit meinen Wörtern, den Konsonantenhäufungen und einem vivacissimo con fuoco im Stillachtaler Schnee gelandet. Schlitten, Schanzen und Schlierenzauer. Wir hatten den ganzen Winter keinen Schnee. Es war unser erster Winter am Wattenmeer. Wir haben nie in Bayern gelebt. Das Birgsautal kenne ich nicht einmal vom Hörensagen. In der Garage hängt eine Schneeschaufel. Ordentlich und unauffällig neben Gartengeräten wie Harke, Besen, Obstpflücker, Dreizinkgrubber oder Jätekralle, einer Astschere, einer Baumsäge, einer Heckenschere, einer Rasenkantenschere und vielem anderem. Die Vorbesitzer sagten, sie könnten das alles in ihrem zukünftigen Leben nicht mehr gebrauchen. Vieles davon haben wir in unserem bisherigen Leben noch nie gesehen. Von einigen Geräten wussten wir gar nicht, dass und wofür sie existieren. Die Schneeschaufel mussten wir den ganzen Winter über nicht ein einziges Mal in die Hand nehmen. Das erste aber, was wir uns selbst anschafften, noch bevor das Laub von den Bäumen fiel und bevor der schnee- und frostlose Winter vor der Tür stand, bevor wir überhaupt in das Haus eingezogen waren, war ein Dachrinnenreiniger. W. sagte, den könnte man bestimmt gut gebrauchen und trug ihn in die Wohnung am anderen Ende der Stadt. Der Vermieter staunte nicht schlecht, was es heutzutage alles zu kaufen gäbe. Er würde zweimal jährlich auf eine Leiter steigen, sagte er, und mit der Hand durch die Dachrinne fahren.

Draußen hängt ein wolkenloser Himmel. Und der Wind rüttelt immer noch unerbittlich an der Welt. Es ist nichts, gar nichts zu sehen, was er über unser Dach von hier nach da zu schieben hätte. Er transportiert nur leere Luft. Der simple Dachrinnenboy mit Teleskopstiel erwies sich schnell als untauglich für unsere Dachrinnen. Oder unser Verstand erwies sich als untauglich für dieses und anderes Gerät. Die Ziegel auf unserem Dach liegen so, dass sie die himmelwärts offene Regenrinne fast vollständig bedecken. Ein Laubfangsystem, auch das gibt es, könnte bei uns nirgends sinnvoll angebracht werden. In der Rinne liegt auch kein Laub, wie ich beim ersten Augenschein erkenne. Die Rinne ist bis oben hin zugewachsen.

Ich brauche einen Unkrautstecher und eine Blumenkelle, rufe ich W. zu. Und eine schmale Künstlerhand. Dann steige ich wieder auf die Leiter. W. gibt unten Acht, dass ich nicht herunterfalle. Ich schaufle Humus aus der Regenrinne. Die Reste klaube ich von Hand unter den Ziegeln hervor. Dabei schürfe ich mir die Haut ab auf dem Handrücken. Die dünne Haus über den Mittelhandknochen platzt. Die durchsichtige Haut über den oberen Fingergliedern blutet. An beiden Händen. Ich muss zu beiden Seiten der Leiter in der Dachrinne graben. Das regt die Hirntätigkeit an. Dann verstellen wir die Leiter. Und die Erde, die ich aus der Regenrinne geholt habe, schütte ich auf mein Gemüsebeet.

Als nächstes kaufen wir uns eine Regenwassertonne. Damit bekommen wir immerhin ein „ss“ und ein „nn“ vor die Augen. Denn jetzt kann das Wasser wieder fließen. Wo wir allerdings den Schlitten des Dachrinnenreinigungsgerätes hätten einlegen sollen, bleibt ein Rätsel. Ebenso, wo wir die Zugseile hätten einfädeln müssen, wo die Rollenhalter befestigen und wo den Zeitaufwand hernehmen.

Montag, 14. April 2008

Die Küstennebelfelder

Aus dem Radio kommt am Morgen das Wort „Küstennebelfelder“. Eine Warnung? Ich schaue aus dem Fenster. Auf dem Garagendach des Nachbarn glitzert eine hauchdünne Eisschicht. Seit W. in China ist, sind meine Nächte kalt und durchsichtig.

Seit einigen Tagen ist das Licht am Abend und am Morgen so, wie ich es bereits kenne. Das heißt, ich bin an diesem Ort alt geworden. Ich habe hier eine Geschichte und eine Vergangenheit. Der Himmel sah schon vor einem Jahr so aus. Damals wohnten wir am anderen Ende der Stadt, näher am Sonnenuntergang. Aber die Stimmung in der Luft nach einem klaren Tag und vor einer klaren Nacht war die gleiche. Damals – ich wiederhole mich, aber Wiederholungen gehören zum Alter, zur Geschichte und zur Vergangenheit – erklärte mir unsere Vermieterin, die Luft am Wattenmeer sei wie Champagner.

Aber es geht mir nicht um Aphrodisiaka, nicht um die Abwesenheit von W., sondern allein um das Licht. Um die Welt über den normalen Ziegeldächern. Champagner prickelt auf der Zunge. Seit einigen Tagen prickelt das Licht in meinen Augen. Ich kann schon ab den frühen Nachmittagsstunden an meinem Schreibtisch nicht mehr schreiben. Ich sehe die Buchstaben auf der Tastatur nicht mehr und auf dem Bildschirm lösen sich Wörter, Sätze und ganze Kapitelüberschriften einfach auf und verschwinden ungefragt im Nichts. Daran sind nicht die Küstennebelfelder schuld. Auch nicht die Schwarzen Löcher. Und schon gar nicht ein Chinareisender. Sondern die unbeschreibliche Helligkeit vor dem Fenster.

Gestern ist John Wheeler im Alter von 96 Jahren in seinem Haus in Hightstown an einer Lungenentzündung gestorben. Ihm verdankt das Weltraumphänomen der Schwarzen Löcher seinen Namen.

Ich sehe nur, was ich kenne. Ich weiß nicht, ob die Physiker die Schwarzen Löcher wirklich sehen. Sie beschreiben sie und machen sie kenntlich. Aber ob sie sie wirklich sehen können? Weil auch ich am Nachmittag meine eigenen Wörter nicht mehr sehen kann, fahre ich an die Küste und suche die Nebelfelder aus dem Radio. Auf den Salzwiesen hinter dem Deich beineln die Sauglämmer ihren Mutterschafen nach. In diesem Jahr sind die Osterlämmer erst nach Ostern geworfen worden. Der Gregorianische Kalender rettet ihnen also das Leben. Man sagt, ihr Fleisch sei zart und vom Gräsen der Mütter bereits bei der Geburt gesalzen. Der Lauf des Mondes bewahrt sie in diesem Jahr vor dem Kochtopf. Von Küstennebelfeldern weit und breit keine Spur.

Mittwoch, 9. April 2008

Das Mausohrstadium

W. ist bereits auf dem Weg nach China. Im Moment sitzt er im Taxi auf der Autobahn nach Hamburg. Danach fliegt er über Kopenhagen, Beijing nach Guangzhou.

Ich besichtige derweil mit einem Pomologen den Garten. Er erklärt mir, dass die Blüten des Apfelbaums momentan im „Mausohrstadium“ sind.

Wann W. wirklich ankommt, weiß ich nicht. Morgen. Unsere Tage beginnen und enden nun zu verschiedenen Zeiten.

Ich dachte immer, das erste, was im Frühjahr aus den Bäumen treibt, seien die Blätter. Nein, berichtigt mich der Pomologe. Beim Apfelbaum kommen zuerst die Blüten. In Dithmarschen, erklärt er weiter, sagt man, sehen diese jungen, nur wenige Tage alten Blüten aus wie die Ohren von Labormäusen. Und anderswo? Will ich wissen. Das kann er mir nicht sagen.

W. fliegt nicht nur in eine andere Tageszeit sondern auch in eine andere Jahreszeit. Bestimmt ist die Apfelblüte in Südchina schon vorbei. Und in der Hauptstadt wachsen längst keine Bäume mehr.

Warum Versuchsmäuse? Frage ich den Pomologen. Er ist kein Chemiker. Er arbeitet nicht im Labor. Er sammelt Dithmarscher Apfelsorten. Sucht die Namen aus alten Urkunden, Briefen, Legenden, Geschichten. Katalogisiert sie. Und macht sich dann auf die Suche nach den Bäumen. Auf den Feldern.

W. verlässt nun meine Zeit. Bis er sie wieder betritt, haben die Apfelblüten im Garten das Stadium der Mausohren überwunden und sind in einem ganz anderen Namen angekommen.

Dienstag, 1. April 2008

Die Lampenschirmerzeugung

Kürzlich in Wien sind W. und ich tage- und nächtelang nur Straßenbahn gefahren. Wir wollten etwas sehen und erleben. Wir waren wieder in einer angeschriebenen Welt angekommen. W. kann nicht an Wörtern vorbeigehen oder -fahren, ohne sie zu konsumieren – zu lesen, zu entziffern, zu befragen, zu kommentieren. An den Häuserwänden, auf Firmenschildern und Reklametafeln tauchten dann freundlicherweise unendlich viele meiner Lieblingswörter auf: die Komposita, landläufig zusammengesetzte Substantive genannt.

Ich beschränke mich hier auf zwei Prachtexemplare. Als die 46 eines Nachmittags längere Zeit vor einem Frisörsalon stehen blieb (es war Karfreitag, Stau auf einer Kreuzung mitten in Wien, ein Hagelgewitter ging gerade nieder) entdeckte W. auf dem Schaufenster über den Perücken große gelbe Buchstaben, die sich zum Wort „Wimpernverlängerung“ vereinten. Ungefähr in der gleichen Sekunde entdeckte ich auf der anderen Straßenseite den steilen altertümlichen Handschriftzug „Lampenschirmerzeugung“ über einem gänzlich blinden und undurchsichtigen Schaufenster. In der Nacht hätten wir weder das eine noch das andere Wort finden können. Denn weder das eine noch das andere war, das konnten wir deutlich sehen, an den Strom angeschlossen.

W. wollte von mir wissen, wer sich denn die Wimpern verlängern lasse.
Ich wollte von ihm wissen, wer sich denn Lampenschirme erzeugen lasse.

Wir kamen nicht vom Fleck. Draußen blitzte und donnerte es. Und die Welt verfinsterte sich. Karfreitag soll der stillste Tag im Kirchenjahr sein, hatte ich einmal gelernt. Oder ist es Karsamstag? In Wien waren zum Glück Freitag und Samstag alle Geschäfte geöffnet. Wir mussten uns dringend einen Regenschirm besorgen.

Die Frauen, antwortete ich ihm.
Aber wozu denn, fragte er.
Um euch Männern schöne Augen machen zu können.

Die Frauen, antwortete er mir.
Aber wozu denn, fragte ich.
Um mit uns Männern darunter schöne Abende verbringen zu können.