Samstag, 28. Juni 2008

Die Regenwassertonne

Kürzlich, als ich Schachtelhalm und anderes wucherndes Grünzeug zwischen den Pflastersteinen auf der Auffahrt zu unserer halben Garage entfernte, stellte sich der vierjährige Enkel der Nachbarin an den Gartenzaun und fragte mich, wo unsere Regenwassertonne stehe.
Wir haben noch keine, erklärte ich ihm wahrheitsgemäß und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Es war heiß und windstill. Keine Wolke am Himmel. Keine Spur von Regen weit und breit.
Der Kleine wollte es nicht glauben. Ihn interessierte nicht die Wettervorhersage, sondern die Anwesenheit einer Regenwassertonne. Er bohrte mir Löcher in den Bauch: Warum nicht?
Ich konnte es ihm nicht sagen. Weil wir bislang zu faul waren. Weil wir nicht alles auf einmal besorgen können. Weil der Sommer so schnell gekommen ist. Weil tausend andere Dinge in und um unsere Häuser herum fehlen.
Um ihn zu trösten, lud ich ihn ein, über den Zaun in unseren Garten zu kommen. Ich wollte ihm zeigen, in welche Ecke unter der Dachrinne die Regenwassertonne zu stehen kommt, wenn sie dann einmal da ist.
Er klettert herüber, guckte und war sehr enttäuscht. Tatsächlich stand unter dem Fallrohr keine Tonne. Er trottete nach längerer Kontemplation mit hängendem Kopf zurück zu Oma. Heute würde er bei ihr schlafen.
Am nächsten Morgen kam er als erstes zu mir. Stellte dieselbe Frage. Kletterte sofort ungefragt über den Zaun. Stand sofort in der leeren Ecke. Guckte wieder. Wollte es wieder nicht glauben. War wieder unendlich enttäuscht und traurig. Nach dem Mittagessen (Oma kochte saure Rippchen, ich wurde intensiv befragt, ob ich das auch möge) holte ihn Papa ab. Sonst hätte sich in unserem Garten unweigerlich eine kleinkindliche Regenwassertonnenkatastrophe angebahnt.

Heute nun packen wir die Gelegenheit beim Schopf. Freunde sind zu Besuch mit einem schwarzen VW-Käfer. Nach dem Frühstück schicken wir die Männer zu Nilsson. Die Frauen halten sich zurück und bleiben zu Hause. Der VW-Käfer kann nur entweder Frauen als Passagiere auf den Hintersitzen transportieren – oder eine leere Regenwassertonne mit kindersicherem Deckel sowie Anschluss- und Verbindungsset bestehend aus Regenwasserklappe und selbstreinigendem wartungsarmem Fallrohrfilter mit Überlaufstoppfunktion.

Freitag, 27. Juni 2008

Vogelschutzhallig

Seit einigen Jahren besitze ich zwei Lieblingsbücher. Es ist nie ein drittes dazu gekommen, kein viertes hat sie übertroffen, kein fünftes, kein sechstes … Nichts.
Meine Lieblingsbücher sind, und das zeichnet vielleicht ihr Wesen aus, nicht in die allgemeine Systematik unserer Bücherregale einzuordnen. Manche Bücher lassen sich einfach alphabetisch sortieren (z.B. deutsch- oder fremdsprachige Belletristik, Künstlermonographien von Caravaggio über Hopper bis Lee Ufan, usw.), andere lassen sich gut thematisch sortieren (z.B. Gartenbaukunstbücher, Fachwörterbücher des Jagd- oder Bauingenieurswesens, Reisebücher, Chaostheoriebücher, Flugpionierbücher, Stadtpläne, usw.), wieder andere lassen sich hervorragend monothematisch sortieren (z.B. „Winnie-the-Pooh“ in allen Sprachen der Welt, Konwickis „Apokalypse“ in allen Sprachen der Welt, Macchiavellis „Il Principe“ in allen Sprachen der Welt, die Bibel in allen Sprachen der Welt usw. – und last but no least, unsere eigenen Veröffentlichungen, ein halbes Regal eintöniges „A“ wie Autor).

Meine beiden Lieblingsbücher stehen abseits. Ich verrate nicht, wo. Einmal, vor Jahren, lieh ich eines aus, einer kranken Freundin, um ihr, wie ich meinte, Mut zu machen. Ich verrate, welches: Ulla-Lena Landberg, Sibirien: Selbstporträt mit Flügeln. Sie gab es mir nach wenigen Tagen zurück. Jeder Kranke hat unendlich viel Zeit. Im Bett sind alle Bücher zu kurz. Sie sei enttäuscht, sagte sie mir. Alle Kranken sind wie Kinder unausstehlich aufrichtig. Sie habe, gestand sie mir, in dem Text nur die Antwort auf die Frage gesucht, weshalb dies mein Lieblingsbuch sei. Und nicht gefunden. Deshalb sei sie enttäuscht. Aber darum ging es doch gar nicht, protestierte ich. Sie zuckte bedauernd mit den Schultern.

Heute, Jahre später, fand ich unverhofft die Landschaft zu diesem, meinem einen wichtigen Lieblingsbuch. Weit draußen im nordfriesischen Wattenmeer auf der Vogelhallig Norderoog vor Hooge. Dort, wo nur noch Schwarzkopfmöwen, Alpenstrandläufer, Dreizehenmöwen, Flussseeschwalben, Eiderenten, Basstölpel, Schmarotzerraubmöwen, Küstenseeschwalben, Brandgänse, Trottellumme und vielleicht die Trauerente Melanitta nigra brüten. Obwohl ich nie im Traum daran gedacht hatte, die Landschaft zu irgendeinem Buch, geschweige denn ausgerechnet zu diesem finden oder suchen zu müssen. Bücher sind, wie ich meinte, zu Hause zu Hause. Oder in Sibirien. Unter einem Dach. Im Trockenen. Nach über drei Stunden Wanderung auf bloßen Füßen durchs Watt fand ich heute das, wovon ich gar nicht ahnte, dass ich es gesucht haben könnte. Die Sehnsucht nach einem Text. Das Heimweh einer Reisebeschreibung. Die Rückverwandlung eines Wortes in die Wirklichkeit.

Ich werde mich als Vogelwartin beim Verein Jordsand bewerben. Ich werde den Rest meines Lebens auf Habel zubringen wollen. Ich werde in eine Hütte auf einer Pfahlkonstruktion ziehen mit Hunderttausenden ekstatisch lärmenden Vögeln. Ich werde Statistiken führen. Ich werde das Verschwinden der Silbermöwen auflisten, die Abgänge der Mantelmöwen. Ich werde die Bestandsveränderungen fischfressender Seevögel festhalten. Ich werde die Auswirkungen der Windkraftanlagen auf die Sterntaucher protokollieren. Ich werde regelmäßig die Halligkanten befestigen, zwei Reihen mannshoher Pfähle bis auf 80 cm vor der Hallig in den Wattboden rammen, Faschinen dazwischen pressen und dieses Reisiggeflecht mit Spanndraht befestigten. Die kleinen Flutwellen werden sich an diesen Lahnungen beruhigen und die Halligkante nicht mehr abbrechen. Ich werde alles in Abstimmung mit den Fachleuten vom Marschbauamt tun. Ich werde nur das von ihnen zur Verfügung gestellte Material verwenden. Ich werde auch neuere Lahnungsbauvarianten ausprobieren. Ich werde eine Brandseeschwalbenkolonie erhalten. Und ich werde Empfehlungen aussprechen. Die Lebensraumverluste und Kollisionsrisiken in der Nähe von Offshore-Windparks können für Flugvögel erheblich verringert werden, wenn in Nächten mit vorhersehbar starkem Vogelzug die Turbinen abgeschaltet werden. Radarbeobachtungen und Wärmebildkameras machen längst deutlich, dass sich der Vogelzug wetterbedingt auf sehr wenige, besonders geeignete Nächte konzentriert. Dann fliegen zwei Drittel der Vögel in Höhe der Windkraftanlagen über die See. Nach zwei starken Zugnächten wurden letztes Jahre auf einem Messturm vor Japsand mehr als 200 tote Vögel gefunden. Fachleute behaupten, dass schon eine um mehr als 0,3 Prozent erhöhte Todesrate die Population langlebiger Arten nachhaltig verringern könne.

Luftaufnahmen von Halligen siehe hier:
http://www.kuestenforum.de/forum2/showthread.php?t=3478

Donnerstag, 26. Juni 2008

Waldohreulen

Seit einigen Wochen sitzt im Ahorn vor unserem Haus, gut geschützt durch die Edelkastanie in unserem Garten, eine Waldohreule (Asio otus). Heute früh entdeckte W. eine zweite, etwas kleinere Waldohreule – das Männchen. Sie sitzen so im Baum, dass das Weibchen das Männchen immer gut im Blick hat.

Wir finden die Schlafgäste im Baum, wenn wir den frischen Spuren am Boden folgen. Auf der Strasse, im Rasen, auf dem Gartentor, auf den Pflastersteinen, die zur Haustür führen, die wir täglich benützen, zum Briefkasten, den wir täglich leeren. Wir sind verpflichtet, den Gehweg rund um unsere Häuser sauber zu halten. Der Ahorn gehört der Stadt. Er wächst auf der Grenze zu unserem Grundstück und behindert die Ligusterhecke an dieser Stelle etwas an ihrem ungestümen Entfalten. Unsere Nachbarn mögen diesen mächtigen Ahorn nicht. Es ist einer der letzten Bäume überhaupt an unserer Strasse. Im Herbst wirft er viel Laub ab. Und der Wind in dieser Gegend ist unbarmherzig. Er legt das Ahornlaub wie Schnee überall ab. Außerdem verteilt er die fliegenden Samen, wann und wo immer er kann. Aber die Eulen mögen den Baum.

Ab und zu samstags kehre ich den Dreck im Rinnstein rund um unseren Garten zusammen. Kürzlich säuberte ich das blau lackierte Gartentor mit warmem Wasser und Putzlappen (entgegen handelsüblicher Empfehlungen: Auftragen von Grundreiniger-Intensiv, Bleichmittel oder Schimmel-Vernichter pur, einige Minuten einwirken lassen, zur restlosen Entfernung der aufgeweichten Verschmutzung mit Hochdruckreiniger nacharbeiten). Die Farbe ist ein Andenken an den Vorbesitzer, wahrscheinlich handelt es sich dabei um „Knallblau“ (Hexadezimal #0000ff) oder „mediumblue“ (Hexadezimal #0000CD, Dezimal 00 205) oder um eine Mischung aus beiden. Die weißen Flecken und die grauen Gewölle sind ein Andenken an die Tagschläfer im Baum. Es handelt sich hierbei um dünnflüssigen Kot und wurstförmige Speiballen.

Nachts jagen unsere Waldohreulen auf den Feldern hinter der Bürgerweide und bewundern das Lichterspiel der Hemmingstedter Raffinerie am Horizont. Tagsüber hocken sie in unserem Ahorn, schlafen, verdauen und wachen über uns. Sie beobachten alles mit geschlossenen Augen und speien die Reste ihrer Nahrung aus, welche ihre Magensäure nicht auflösen kann. Wühlmäuseknochen, pro Gewölle genau ein Schädel, Unterkiefer, Oberkiefer, Nagezähne. Wenn ich wollte, könnte ich die Feldmäusegerippe auf einem Blatt Papier in der kalten Küche wieder vollständig zusammensetzen. Und herausfinden, wie viele Mäuse unsere Eulen täglich verschlingen. Die Knochen geben die Eulen nicht mit dem Kot ab, um inneren Verletzungen vorzubeugen. Sie verpacken die spitzen und scharfen Teile in Fellreste und würgen das glatte Paket durch die Speiseröhre aus.

Die auffälligen Ohrpinsel, denen die Waldohreule ihren Namen verdankt, haben in Wirklichkeit nichts mit dem Eulengehör zu tun. Sie sind reines Schmuckwerk, zwei Federbüschel, die bei Erregung aufgerichtet werden. Im Ruhezustand und auf dem Flug werden sie angelegt und sind kaum zu erkennen. Die wirklichen Ohren liegen unter dem Gefieder verborgen an den Kopfseiten.

Unsere Eulen verlassen den Schlafplatz nach Sonnenuntergang. Nachdem sie ihr Gefieder geputzt haben, erheben sie sich geräuschlos in die Luft und begeben sich auf ihren Pirschflug. Die Säume ihrer Schwungfedern sind nicht zusammenhängend verbunden wie bei anderen Vögeln, sondern die einzelnen Adern jeder Feder sind am Ende gesplittet. Biegsame Härchen an den Rändern der samtweichen Federn verwirbeln die Abströmung der Luft und machen den Flügelschlag für die Opfer und für uns Beobachter unhörbar.

Der Ruf der Waldohreule kann hier angehört werden: http://www.vogelwarte.ch/home.php?lang=d&cap=voegel&file=detail.php&WArtNummer=3170

Die Federn der Waldohreule können einzeln hier betrachtet werden (Federsammlung, Arten (dt.), Waldohreule anklicken): http://www.vogelfedern.de/

Mittwoch, 4. Juni 2008

Wahnsinnszwerge

Ich sitze bei uns auf dem Land im Wartezimmer einer Gemeinschaftspraxis von Fachärzten für Allgemeinmedizin. Ich starre lange Zeit in den Himmel vor dem Fenster. Mir fehlt nichts, ich bin gesund. Aber warten muss ich trotzdem.

Ich mag nicht lesen. Alle um mich herum blättern in Zeitschriften, die aufliegen. Ich mag mich nicht auf langes Warten einstellen. Ich studiere an Schuhen herum.

Irgendwann fällt mein Blick vom Himmel zurück ins Zimmer. Mitten in die Zeitschrift, welche die junge Frau neben mir in der Hand aufgeschlagen hat. Und von dort kommt mir ein Wort entgegen: Wahnsinnszwerge. In riesigen, symmetrisch über die ganze Breite einer Seite verteilten Lettern. Aus den Augenwinkeln glaube ich zu erkennen, dass es sich um eine ganzseitige Anzeige handelt. Ich wage nicht, den Kopf zu drehen. Man starrt nicht in fremder Leute Zeitschriften! Wahnsinnszwerge! Eine nie gesehene Konsonantenhäufung „nnszw“. Ein unaussprechliches Kompositum!

In unserer Biokiste finde ich alle zwei Wochen einen vegetarischen Brotaufstrich der Firma Zwergenwiese. Hergestellt werden diese sogenannten „Streiche“ auf Sonnenblumenkernbasis. Auch ein schönes Wort. Mehrere schöne Worte. Der Streich und die Sonnenblumenkernbasis. Wir haben „Streich im Wechsel“ bestellt. Das heißt, wir leben und ernähren uns nun im Wechsel. Oder abwechslungsreich. Wir bekommen auch wöchentlich das „Angebotsbrot im Wechsel“. Wir bestreichen zum Frühstück unser Sonnenblumenbrot, 7-Urkornbrot, Roggenschrotbrot, Hirse-Buchweizen-Brot, 1000-Körner-Brot, Dinkel-Schlemmerbrot, Korn-an-Kornbrot, Roggenbackfermentbrot, 5-Kornbrot, Dinkel-Roggen-Brot, Roggenkornbrot, Haferbrot oder Roggenganzkornbrot usw. usf. mit Meerrettich Streich, Rucola Streich, Bärlauch Streich, Kräuter-Tomate Streich, 4-Pfeffer Streich, Curry Streich, Paprika Streich, Basilikum Streich, Rote-Beet Streich, Schnittlauch Streich und so weiter, und so fort. So weit, so gut.

Die Zwergenwiese ist im Gegensatz zu den Wahnsinnszwergen leicht dechiffrierbar. Die Firma benützt als Logo eine rote Zipfelmütze. Die Streichs hat eine Mutter für ihre Kinder erfunden. Der erste Streich hieß Schmelz. Noch mehr schöne Wörter. Es gibt auch mit Agavendicksaft gesüßte Fruchtgartenstreichs, aber die mögen wir nicht. Da lassen wir uns am Sonntag doch lieber den Frühjahrsblütenhonig durch die Finger tropfen. Die Zwergenwiese ist so etwas wie eine Kinderspielwiese. Eine Wiese, auf der rotbackige Kinder spielen und nicht in Wespennester treten.

Nach den Wahnsinnszwergen aus dem Wartezimmer wage ich im Sprechzimmer nicht zu fragen. Die gehen mich ja nichts an. Die gehören mir nicht. Die nehme ich nicht mit nach Hause. Die schmiere ich mir nicht aufs Pausenbrot. Ich sei vollkommen gesund, versichert mir eine Ärztin, die ich zum ersten Mal im Leben sehe. Nur dieses einen vollständigen Satzes wegen bin ich hier.