Freitag, 30. September 2016

D-A wie das Aufheben

Auch das Aufheben ist zweideutig. Die Träume hingegen sind eindeutig. Ich habe auf Hooge ein Jahr lang traumlos geschlafen. Das Unterbewusstsein reagiert sofort. Farbe und Bewegung sind geballt, mit voller Wucht zurückgekehrt. Ich brauche darum kein Aufhebens zu machen. Sobald der Regen aufhört, gehe ich in den Garten und bücke mich nach meinen gefallenen Maronen. Das Aufheben kommt aus dem Sportfechten, ist wahrscheinlich historisch bedingt, geht auf mittelalterliche Schwert- und Säbelkämpfe zurück. Als das Säbelrasseln noch ein akustisches Phänomen war und nicht bloß Heimtücke hinter dem Rücken der Betroffenen. Ich habe auf der Hallig viel gelernt über die Verrohung einer Gesellschaft. Das Aufheben meint eben nicht Erinnerungen im Gedächtnis speichern, in Form von Träumen oder altmodischen Fotoalben. Sondern das Ritual des Aufhebens der Degen vor dem offenen Kampf.

Donnerstag, 29. September 2016

D wie Dithmarschen

Dithmarscher Landesmuseum. Kultur in Dithmarschen. Die Dithmarscher und der Tod. Ausstellungseröffnung "Trauer, Tod und Liekenfru".
Alle freuen sich, dass ich wieder da bin. Ich habe hier bereits mehr Leute angetroffen, als auf Hooge leben. Nächste Woche läuft im Meldorfer Verzehrkino, im schönsten Kino der Welt, der Dokumentarfilm "Utbüxen kann keeneen". Niemand hat einen Alleinanspruch, das Alleinrecht, das Monopol. Weder auf mich noch auf einen Film noch auf eine Sache, wie beispielsweise eine Haustür oder den Tod.
Mein Nachbar, Probst i.R. erklärt mir das Geschenk Gottes, die Rechtfertigung im lutherschen Sinne. Ich habe es nicht ganz verstanden, nicht so, dass ich es hier wiedergeben könnte, fahre aber glücklich wie schon lange nicht mehr durch den Regen nach Hause.

Mittwoch, 28. September 2016

A wie Auslauf

In Meldorf finden Wochen statt. Fair Trade Woche, Anarchistische Woche. Und Böen aus Südwest bis Windstärke 8. Ansonsten gleichmäßig starker Wind um 6. Ich brauche die kalte Nordsee wie andere das Nikotin und genieße das ungewohnte A wie Auslauf. Ich fahre 12,5 Kilometer gegen den Wind mit meinem frisch geschmierten Rad. Durchquere den Speicherkoog. Ganz ohne E. Bis zur Badestelle Elpersbüttel.
Kein Mensch weit und breit. Hohe Wellenberge, dichte Schaumstreifen. Auf dem Rückweg 12,5 Kilometer mit dem Wind. Ich fliege. Immer noch ohne E. Hole bei Peter Panter den italienischen Risottoreis, den mir der beste Pizzabäcker nördlich von Rom besorgt hat. Treffe in der Fußgängerzone die Bürgermeisterin. Bin wieder da. Am Abend liest im Traumausstatter Hanna Poddig: "Radikal mutig".
http://peterpanter.de/

Dienstag, 27. September 2016

Grünpause

Alles hat seine Zeit. Und seine Form. Morgennebel und Fingernagelmond. Dann mit der Flut zum Baden an die Meldorfer Bucht. Auch das geht. Der Deich ist noch sehr grün und der Himmel blassblau. Die Dithmarscher Schafe laufen in Einerkolonne. Der Dithmarscher Schäfer schläft.
Auch das grün-und-blau-schlagen geht auf Arbeit zurück und nicht auf Willkür, Wut oder Gewalt. Wenn die Tuchfärber ihre Tücher aus dem Farbbad ziehen, sind sie gelbgrün. An der Luft werden die gefärbten Tücher blau. Durch Oxidation - den Kontakt mit Sauerstoff. Dieser natürliche chemische Prozess kann beschleunigt werden durch einen mechanischen. Die Färber schlagen auf die aufgehängten Tücher ein, wie früher meine Mutter vor Ostern auf den an der Teppichstange hängenden Stubenteppich. Der Teppich wurde schnell sauber, und die gefärbten Tücher werden schnell blau. "Kunst", schreibt Muriel Barbery, "ist die Emotion ohne das Verlangen."

Montag, 26. September 2016

Pausbacke

Ich warte pausbäckig auf den Reetdachdecker und die Gartenfee. Ich besitze einen Garten und kein Reetdach. Sondern ein Solardach, das auch in meiner Abwesenheit für mich arbeitet. So wie die Fee. Der Himmel über Dithmarschen ist wolklenlos. Montagsblau. Vorausschauend bestelle ich noch den Heizungsmonteur.
Der Dachdecker soll die Regenrinne erneuern, die Gartenfee den Winterdienst übernehmen, der Monteur die Gasthermen warten.
Warten ist nicht gleich warten. Pausbäckig vor lauter Paradiesäpfel verarbeite ich die etwas angeschlagenen Meldorfer Cox zu Apfelkuchen, Apfelmus, Apfelchutney. Und warte weiter. Bis die Sonne untergeht und es Zeit ist für die Messiah-Probe in Heide.

Sonntag, 25. September 2016

Plötzlich befreit ...

... schreibe ich im Meldorfer Morgengrauen. Jemanden in die Mangel nehmen, heißt jemanden unter Druck setzen. Und das geht so lange gut, bis der Druck zu groß wird. Auch beim Bügeln. Irgendwann brennt die Wäsche oder bricht wie im Eis in der Mangelmaschine. Das Wort "mangeln" kann zweierlei bedeuten. Auf der Hallig mangelt es mir nicht an materiellen Gütern. Aber ich vermisse etwas, das ich der Einfachheit halber "Kinderstube" (poln. "kindersztuba") nennen könnte. Nach Kluge geht das Wort mangeln auf mhd "mange" = Steinschleudermaschine zurück. Die im 14. Jh aufgekommene übertragene Bedeutung des Wortes für Glättrolle sei "unverständlich", meint auch Seebold, der Nachfolger von Kluge. Etymologisch kommt es von gr "mágganon" = Achse im Flaschenzug; eiserner Pflock, Bolzen und mlat "manganum" = Schleudermaschine. Das Schleudern der Steingeschoße - es handelte sich um eine Kriegsmaschine! - wurde mit dem Gewicht von Steinkästen in Gang gesetzt. Die altherkömmlichen Plättwalzen in hochherrschaftlichen Haushalten funktionieren nach einem ähnlichen Prinzip, insofern scheint mir die Übertragung so unverständlich nicht. Jemanden in die Mangel nehmen, heißt also, jemanden mit Hilfe von Gebirgssteinblöcken nicht nur physisch sondern vor allem geistig (in seinen höchstpersönlich eigenen Ansichten) und psychisch (in seinem angestammten Wohlsein) plattzuwalzen.
Ich werde von meinem Schreibtisch aufstehen und meine roten Pausenäpfel pflücken, sobald es hell wird.

Samstag, 24. September 2016

In der Kulturhauptstadt Dithmarschens

Holsteiner Cox
Schade eigentlich. Als erstes schaltete ich gestern den Kühlschrank wieder ein. Dann brachte ich mein Festlandfahrrad zur Reparatur. Das Gefühl war vom ersten Moment an überwältigend und überdauerte die Nacht, dass ich im Garten sitzen darf und niemandem Rechenschaft schuldig bin. Warum ich da sitze. Warum es mich gibt. Warum hier und jetzt. Und warum ich hier und jetzt gerade nichts anderes zu tun habe, als zu sitzen. Und zu horchen. In mich hinein. Und zu staunen. Ich muss niemandem erklären, dass und warum ich allein meinen Gedanken nachhänge oder mit G. Kaffee trinke, die zufällig des Weges kommt. Dass und warum ich nach einem Sprint zum Supermarkt Apfelkuchen aus meinen eigenen Äpfeln backe und die Gäste nicht ins Domcafé schicke. Dass und warum sie womöglich auch noch die Nacht unter meinem Dach verbringen. Die ganzen Jahre im sozialistischen Osten habe ich mich nie so eingeschränkt und rundum kontrolliert gefühlt, wie die letzten Monate auf Hallig Hooge. Schade eigentlich. Ich stehe auf von meiner Gartenbank, plötzlich befreit, und putze in der Abendsonne die Fenster von außen.

Freitag, 23. September 2016

Maulaffen

Ich wurde gerüffelt. Würde alles falsch machen. Und möge doch bitte aus Rücksicht auf die Befindlichkeit der Nordfriesen das Wort Dithmarschen aus meinem Wortschatz streichen, solange ich auf der Hallig lebe. Wiederholt wurde ich ja schon angehalten, die ganze Schweiz aus meinem literarischen Mundwerk zu eliminieren, solange ich das Hooger Gastrecht genieße.
Die Maulaffen stammen im Gegensatz zum homo sapiens nicht vom Affen ab, sondern nur von einem womöglich unnötig oder überflüssig weit offenem Mund, also mittelhochdeutsch „mûl ape“ - Maul offen. Früher gab es in Gegenden, wo Bäume wachsen und mit Holz geheizt, mit Feuer beleuchtet wurde, billige Kienspanhalter aus Ton in Form dämlicher Jungenfratzen mit aufgesperrtem Maul.
So habe ich denn heute früh nach dem morgendlichen kalten Bade am Landsende beschlossen, mit meinen Basler Freunden abzureisen. Die sind nämlich so weltoffen und tolerant, dass sie die durchsichtige Hallig in Schlüttsiel auf ihren metallischsilberglänzenden Kofferraumdeckel kleben. Und mich mit meinem darunter verstauten Schreibwerkzeug in die Kulturhauptstadt Dithmarschens bringen.

Donnerstag, 22. September 2016

Äquinoktium

Heute ist Herbsttagundnachtgleiche. Oder Sekundäräquinoktium. Wörter für meine Schüler! Der astronomische Herbstanfang. Die zweite Tag-und-Nacht-Gleiche im Jahresverlauf, in der Jahreszeitenfolge. Die Primäräquinoktium fand zum Frühlingsbeginn am 20. März satt.
Bald werde ich die Sonne am Morgen aus meinem Fenster nicht mehr aufgehen sehen, weil sie jetzt, in exakt dieser Minute den Himmelsäquator überschreitet und sich fortan nach Süden bewegt. Die Zeit wird dunkler.

Mittwoch, 21. September 2016

Lunarperiodik

Man sagt dem Mond manches nach. Nicht alles stimmt. Hohlebbe ist das tiefste Niedrigwasser. Es kommt nur bei Vollmond oder Neumond vor, wenn sich die Kräfte von Sonne und Mond verdoppeln. Es gibt tatsächlich Wattmücken, die ihren Fortpflanzungsrhythmus nach dem Mondlicht takten. Clunio marinus schlüpft und schwärmt nur im Sommer, nur bei abendlichem Extremniedrigwasser, nur wenn der Wattboden trockenfällt und feinfädige Braunalgen freigibt, den Lebensraum und Nährboden für die Larven, die Nachkommen, das Weitergehen der Existenz. Und nur, wenn auch der Geräuschpegel stimmt und zu erkennen gibt, dass das Wasser lange genug weg ist und bleibt. Diese Bedingungen sind nur an Tagen unmittelbar nach Vollmond oder Neumond gegeben. Dann schlüpfen zuerst die Männchen und machen sich auf die Suche nach den Weibchen. Manche zerren mit ihren Genitalzangen die Partnerinnen aus der Puppenhülle. Denn Eile ist geboten. Keine Gewalt. Die Evolution hat kaum mehr als eine Stunde vorgesehen zur Paarung und Eiablage und dem Tod des Weibchens noch auf dem Gelege.
Meine Hooger Nachbarin kann nun wieder monieren, meine Texte seien zu "bedrohlich". Aber es ist nicht der Text, sondern die Natur.

Dienstag, 20. September 2016

Kohlkopf

Heute beginnen die Dithmarscher Kohltage. Was wäre Deutschland ohne Kohl! In Dithmarschen werden in diesne Tagen 80 Millionen Kohlköpfe geerntet, zumeist von polnischen Erntehelfern. Also für jeden Bundesbürger einen. Und die andern können sehen, woher sie ihren Kopf kriegen. Aber S. hat nachgerechnet: wenn durchscnittlich jeder Kohlkopf einen Durchmesser von 20 Zentimetern hat, ergäben sie, nebeneinandergelegt, oder fein säuberlich auifgefädelt auf der Luftlinie eine Strecke von 16.000 Kilometern = Meldorf - Sydney. Nicht schlecht!
Der Kohldampf  aber stammt nicht aus der Meldorfer Sauerkrautfabrik sondern aus dem Knast. Gaunersprache. "Kohler" und "Dampf" sind hinter Gittern Synonyme für Hunger. Auch die Soldaten schoben früher, im 19. Jahrhundert, "Kohldampf". Heute ist alles anders:
http://www.ndr.de/nachrichten/schleswig-holstein/Dithmarschen-Kohl-bis-zum-Horizont,kohltage246.html

Montag, 19. September 2016

Das Fingerspitzengefühl

Das Fingerspitzengefühl sitzt nicht nur in den Fingern. Und "spitz" erinnert an "Spitze", die Dolchspitze oder Messerspitze, das Skalpell oder Teppichmesser, den präzisen Schnitt oder Stoß. Ein Todesstoß muss nicht unbedingt Leben kosten. Kann im übertragenen Sinne das Ende von irgendetwas bedeuten. Einer Idee oder der Paketschnur. Sogar ein gespitzter Bleistift wirkt bedrohlich. Bedrohlicher jedenfalls als eine oben runde 2. Und doch sagt man dem Fingerspitzengefühl rundum nur Positives nach: dass man nämlich auf sein Gegenüber eingeht und Empathie zeigt. Zum Beispiel mit einer wärmenden Decke. Heute ist der kälteste Tag des Jahres!

Sonntag, 18. September 2016

Der Wettlauf

Ich laufe der Sonne entgegen um die Hallig. Der Mond steht am Beginn meines Laufes kalt überm Landsende. Und die Kühe fressen, als sei nie etwas gewesen. So schnell geht der Schmerz. Und das Weiß des Mondes hat gegen das Feuerrot der Sonne letztlich keine Chance. Bis zum Abend zumindest.
Der Ostwind treibt das Wasser rücksichtslos nach Westen hinaus. Die Nordsee rauscht, als würde sie auflaufen. Auch das ist ein vergebliches Kräftemessen. Die Fähre mit meinen Baslern wird mit viel Verspätung ankommen und trotzdem können wir am Nachmittag wieder schwimmen.

Samstag, 17. September 2016

Verkehrschaos

Ich kam vom schwimmen und dachte, es sei ein Unfall passiert. Zwei Autos, das eine des Krankenpflegers mit dem roten Kreuz, ich erkannte es von weitem. Mehrere Fahrräder am Straßenrand, eines umgeschmissen (vom Wind, wie sich zeigte). Und viele viele Menschen, so viele, wie noch nie auf einem Haufen, an einer Stelle vereint uind gebeugt. Die halbe, wenn nicht ganze Schutzstation. Stative, Fotoapparate. Aufregung. Der Seeadler! Da bleibt schon mal der Verkehr zwischen Hanswarft und Ockenswarft stehen, liegt das Leben auf der Hallig brach. Der Seeadler. Mit Dank an Thomas hier in der Luft:
(c) Thomas Frank












und hier auf der Fenne, im Hintergrund die Windräder vom Festland, so nah ist plötzlich alles:
(c) Thomas Frank

Freitag, 16. September 2016

Das Mutterleid

Die Handvoll Kühe, es sind ihrer sechs, die vor meinem Fenster verblieben sind, schreien die ganze Nacht nach ihren Kälbern, die man ihnen gestern weggenommen hat. Solo oder Duett, Trio, Quartett, Quintett oder Sextett, von basso bis controtenore, im Einklang betrübt, im Zwiespalt murrend, um die Wette brüllend. Unermüdlich. Aber vergeblich!
Angeblich dauert das Vergessen bei Wiederkäuern zwei Tage. Jetzt, eine Stunde vor dem ersten einsamen Sonnenaufgang, treibt ein Hundeausführer sie weg von meinem Fenster hinaus auf die Fenne. Mit welchem Recht? Sie sind die ganze Nacht natürlich an der Stelle stehen geblieben, an der die Trennung stattgefunden hat. Am elektrischen Zaun. Die Klagen entfernen sich, hören aber nicht auf.
(c) DHahn - Mutterglück









Dieses Bild stammt aus kuhglücklicheren Tagen.

Donnerstag, 15. September 2016

Der Mondaufgang

Die Sonne hängt noch über dem Horizont und der Mond ist schon da. Ein Tag vor Vollmond. Nachdem alles Tageslicht weg ist, gucken wir noch stundenlang durch das Superteleskop Sterne, Sternnebel, kalte und warme, weite und nahe, blaue und rote Sterne mit oder ohne einprägsame Namen, Mondkrater und Mondmeere, die zerzauste, noch nicht ganz volle, noch nicht ganz geschliffene Seite des Mondes. Die anderen Dimensionen. Schwarze Löcher und Himmelskurzschlüsse. Alles so unüberblickbar, dass der Rest, unser irdisches Misthäufchen, tatsächlich endlich nichtig wird.

Der Sonnenaufgang

Natürlich geht die Sonne jeden Tag auf. So wie das Wasser kommt und geht. Und ein schwacher Wind die Hitze von der Hallig aufs Festland treibt. Heute werden wir tagsüber in den blassen Himmel gucken und die Sonne rot sehen. Durch ein Sonnenteleskop Sonneneruptionen, Sonnenflecken und Sonnenfasern verfolgen.

Mittwoch, 14. September 2016

Der Spielball

Ich bin ein Spielball der Gezeiten. Des Wetterleuchtens. Der Ostwestausrichtung. Wie der Sand, der Schlick oder die Wattschnecken.
(c) Hoffstadt
Heute wäre der Japsand an der Reihe gewesen. Ich bin auch ein Spielball fremder Entscheidungen. Was vor ein paar Tagen noch ein Ja war, ist heute ein Nein. Aber Klarheiten kann ich akzeptieren. Nichts liebe ich so sehr wie die Augenhöhe.

Dienstag, 13. September 2016

Die Rautispitzostwand

Heute, 20 Uhr, Uns Hallighus, Hanswarft, Hallig Hooge.
Einmalige Gelegenheit, die Rautispitzostwand mitten im Nordfriesischen Wattenmeer mit allen Sinnen zu erfahren:

Die Halligschreiberin liest
„Zweimal täglich trägt die Flut tonnenweise fein gemahlenes Gebirge auf die Wattfläche. Sedimente der ganzen westlichen Welt dicken das Wattwasser ein und versinken erst dort, wo die Strömung nicht mehr fließt.“ (© Judith Arlt 2016)
Die in Glarus heimatberechtigte Halligschreiberin Judith Arlt liest im Rahmen der Fotoausstellung des Zürchers Hannes Hübner „Halm um Halm“ aus ihrem Manuskript „Handschlag der Tide“.
Hannes Hübner präsentiert mit seinen analogen schwarz-weiß Fotografien Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Lebensräume auf den Norddeutschen Halligen und in den Schweizer Alpen.
Judith Arlt arbeitet derzeit auf der Hallig Hooge an ihrer topologischen Autobiografie, das heißt an einem Prosaprojekt, das sich nur am Schauplatz des Erlebten orientiert und fast ganz ohne handelnde Personen auskommt. Zwei entgegengesetzte Landschaften bilden das Zentrum des Textes: die Glarner Alpen und das Wattenmeer. Der Mensch existiert darin höchstens als ein randständiges, wetterleuchtendes Element. Das Karge einer Rautispitzostwand beispielsweise kann in der Ausstellung als Bild betrachtet werden - und wird während der Lesung auch als Text vorgetragen.

Eintritt frei, um eine Spende wird gebeten

Montag, 12. September 2016

Gefühlt

Gefühlt bin ich heute genau ein Jahr auf der Hallig. Nach dem Kalender stimmt das noch lange nicht. Gefühle sind zwiespältig und hocken im Bauch. Erinnerungen sind zerrissen wie alte Abziehbilder oder Kinderfotos. Auf der Haut brennt die Sonne heute, wie das ganze Jahr noch nie. Mein Nachbar versprach mir vorhin beim Wäscheaufhängen im Garten, dass es morgen noch wärmer werde. Die Windstille kann wohl nicht gesteigert werden. Entweder ist es still. Oder noch stiller. Stürmisch. Oder noch stürmischer. In meinem Kopf toben die Gedanken. Still. Stiller (siehe Max Frisch). Am Stillsten.

Sonntag, 11. September 2016

Gerädert

Ich laufe so um die Hallig, dass ich im Westen schwimmen kann. Alles ist Tidenabhängig. Nur die Gottesdienstzeiten nicht. Wenn von der Empore Ungestimmtes erschallt, kann ich nicht beten. Die Ringelgänse bevölkern bereits in Scharen wieder die Fennen. Schüchtern sind die nicht und bescheiden auch nicht. Sie schnattern wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Den jungen wie den alten. Die Jungen erkennt man an der hellbraunen Halskrause. Die Alten an der schneeweißen. Mir steckt die üble Nachrede wie ein Dolch im Herz. Und eine falsche Bewegung zwickt im Kreuz. "Ab durch die Mitte" kommt - wer hätte das gedacht - aus der Theatersprache. Es meint den kürzesten Weg, von der Bühne zu verschwinden. Zu gehen. Der Abgang eines Schauspielers, einer Rolle, einer Figur. Wer oder was für den Fortgang der Geschichte nicht mehr benötigt wird, muss so schnell wie möglich aus dem erzählten Kosmos eliminiert werden. Das ist auf der Bühne nicht anders als im Roman. Noch laufe ich rund herum, auf dem Deich um die ganze Hallig. Heute vom Landsende aus Richtung Norden, also gegen den Uhrzeigersinn. Genau getaktet mit jedem Schritt. So, dass die Flut, wenn ich im äußersten Westen angekommen bin, vollständig aufgelaufen ist.

Samstag, 10. September 2016

Gewohnt

Wie gewohnt bin ich Tidenabhängig. Heute Sonnabendmorgenschwimmen. Rechtzeitig zurück am Radio zur Sonnabendstory. Der Weg zum Himmel. Von Roald Dahl. So geht es auch, das Zusammenleben: Als ständiger Kampf um Erniedrigung, Demütigung, Macht. Demonstration. Als Bitte, Flehen, Betteln. Liebesschwüre und Augenzucken. Die ganz normalen Reaktionen der Physis. Und dann der schnöde Aufzug, der prompt zwischen der "zweiten und dritten Etage" steckenbleibt. Ein Wink des Schicksals.
Hier nachzulesen:
https://summsel.wordpress.com/2005/11/10/der-weg-zum-himmel-teil-1/

Freitag, 9. September 2016

Die Hockende

Ich versuchte sie heute zu favorisieren. Die Hockende. Das heißt: ein Foto von ihr. Knapp vergeblich. Sie kam immerhin auf den intern beachtlichen vierten Platz. Extern unbeachtet bleibt sie somit gleichberechtigt mit Dutzenden, Hunderten anderen Fotos, die nie in die engere Auswahl gekommen sind, außen vor. Daneben. Rausgefallen. 
Die Hockende. Aus einem Stück Eiche geschnitzt von Axel Süphke. Die Farbe blättert ab, aber das soll so sein. Hockt am Seglerhafen, Zeit und Raum und Witterung ergeben. Wartet, weint oder sammelt die inneren Kräfte. Eine gebeugte Halligfrau. Bereit zum Sprung. Eine plötzlich mutige Durchzüglerin. Eine Weitergängerin. Wartet's nur ab!
Hier, S. 23: https://www.nationalpark-wattenmeer.de/sites/default/files/media/pdf/kunstband-web.pdf

Donnerstag, 8. September 2016

Getrieben

Ich habe keine Chance. Ich spreche Dithmarschen statt Platt. Besuch aus Östermoor. Dem ersten Dorf jenseits der Eider. Von Norden, Nordfriesland aus gesehen. Interview für Lüüd. Das "unbezahlbare" Magazin für Szene und Kultur in Dithmarschen. Will die Halligschreiberin im Oktoberheft porträtieren. Zu meinem Geburtstag. Ich bin nicht greifbar. Niemand versteht, was ich tue. Man kann mich umzingeln, aber nicht zähmen. Keiner muss mich lesen und ich schreibe trotzdem, was ich will. Nichts anderes treibt mich um. Wer auf Achse ist, ruht nicht. Das kommt von lateinisch agere - treiben, handeln. Die Achse ist eine Linie, um die sich etwas dreht. Die geistige Deichsel. Auch das Hirn ist ein Getriebe. Und ruht nie.

Mittwoch, 7. September 2016

Geschoben

Schutt ist Gestein. Kreide. Asche hingegen Holz. Oder Haupt. Jesus galt als Verhängnis für die Stadt Jerusalems. Als Fallstrick. Der berühmte "Stein des Anstoßes" stammt tatsächlich aus der Bibel und nicht, wie ich immer dachte, aus einem Stolperland. Nicht Sodom und Gomorrha versinken in Schutt und Asche sondern unser aller Anstand.

Dienstag, 6. September 2016

de Huuge

Wieder da. Und besänftigt. Alle rundherum wissen, wo ich hingehöre. Nur ich nicht. Ich solle nicht so viel grübeln, riet mir gestern mein Hausarzt. Also grüble ich nicht länger über das "de" vor "Huuge", sondern gehe ans Landsende und gucke, wo das Wasser bleibt.

Montag, 5. September 2016

Musik 3

Messiah Probe in Heide. Damenrunde ohne Plauderpause. Ich lerne, was ein attacca-Übergang ist. S. 273. Ohne (nennenswerte) musikalische Pause. Ohne Atemholen. Übergangslos verbunden. Auf das Duett folgt sofort der Chor (segue Chorus) mit seinem Gottesdank: "But thanks, but thanks, thanks, thanks be to God ..." Ich schwimme, wie üblich. Nicht in der Nordsee, nicht im Englischen, und nicht im Lago. Sondern im Largo.
Und die Geburtstagsdeko ist bereits verschwunden. So schnell weicht der Raum dem Tag.
Die an einem trockenen Zweig hängenden ganzen und halben, Dreiviertel und Fünfachtel Noten, jede einzeln versüßt mit einer schwarzen oder weißen oder sowohlalsauch Praline störten die Sicht vom Steinway. Hingen mitten im Kommunizieren und Interagieren. Singen ist nicht die Tat eines oder einer Einzelnen. Auch nicht bei der Damenprobe.
So wie Blätter am Baum nicht für sich allein bestehen. Und Noten - fast wie Gänse - ohne Hälse schier undenkbar sind.
Das Ganze ist immer die Summe seiner Teile. Das ist nun wahrlich nichts Neues!

Sonntag, 4. September 2016

Musik 2

Dafür lohnt es sich allemal, die Hallig zu verlassen. Und da es dauerregnet, ich das Fallrohr vom Dach wieder einmal aus eigener Kraft so zusammengesteckt habe, so dass der Regen nicht an der Hauswand herabläuft sondern seinen regulierten Lauf durch das Rohr nimmt - kann ich nichts anderes tun, als nach Heide zu fahren. Und wieder einmal Meister Eckert hören. In Kombination mit Guillaume de Machaut. Und als Zugabe "Guten Abend, gute Nacht ... morgen früh, wenn Gott will ...". Nicht nur aus Halligsicht ist es beachtlich, was in St. Jürgen musikalisch passiert.

Samstag, 3. September 2016

Musik 1

Immer wenn ich die Hallig verlasse, frage ich mich, warum ich sie verlasse. Kaum hat die Fähre abgelegt. Kaum bin ich auf dem Wasser, das heute erbarmungslos abläuft.
Warum verlasse ich die Hallig? Weil ich einen Termin bei Heidi in Heide habe. Auf dem Markt tummeln sich Tausende beim Dithmarschen Tag. Ich kaufe nur das Nötiogste (eine schwarze Tintenpatrone) und eile zur Chorprobe. Verpasse das Einsingen. Wir geben und nehmen. Ein kleines feines Konzert. Von Schütz bis Hultgren. Zum Abschluss schmettern wir Händels Messiah-Halleluja. Na ja. Wunschkonzert zum runden Geburtstag unsers Dirigenten. Anschließend Feiern open end mit der St. Jürgen Blues Band. Kontraste wie wir sie lieben. Mich hält wie immer der Fahrplan im Zaum.

Freitag, 2. September 2016

Hauwu

Hauwu oder Haubu nennen ihr Dorf die Einwohner von Hallwil. Hooge heißt bei den Friesen auch Huuge. Oder de Huuge. Die Hooge! Gesprochene Sprachen sind unbezähmbar. Hallwil, das Straßendorf im sogenannten Seetal im Schweizer Kanton Aargau liegt mindestens zwei Kilometer vom Hallwilersee entfernt und könnte, denkt man, etymologisch mit der Hallig verbunden sein. Ist doch der Wortstamm, scheint es, das "Hall" - identisch.
Mundart ist aber etwas anderes als die Schriftsprache. Das eine eine Kunst, das andere ein Korsett, der reine Versuch der Reglementierung. Mundart wird nie geschrieben, deshalb auch die Konfusion, ob es nun Haubu oder Hauwu heißt. Jeder spricht, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Und Haubu ist tatsächlich dem Ruf der Nachteule nachgebildet, die den Hallwilern mit ihrem Heu-u den Schlaf raubt.
Oder, da es immer Varianten gibt, überall, sogar in der Erklärungsnot: Oder aber der Name des Dorfes, das oben auf einer Moräne liegt, geht auf gotisch hallus ("Felsen") oder altnordisch hallr ("Stein") zurück.

Donnerstag, 1. September 2016

Das Blaue Wunder

Es gibt ungefähr so viele blaue Wunder wie es blaue Farbtöne gibt. Angeblich gilt Blau als Farbe des Unbestimmten. Man denke nur an die blaue Stunde oder gucke, wenn man sie überlebt, in den Himmel über Hooge! Kobalt galt im Mittelalter als blaues Wunder und wurde in Schneeberg abgebaut. Es sind immer die Gegensätze, die beunruhigen oder faszinieren. Oder die bösen Überraschungen. Angeblich erlebten damals die Färber ihr blaues Wunder, wenn der Rohstoff mit Sauerstoff in Verbindung kam. Und so wurde Blau zum Inbegriff für Täuschung. Noch heute lügt man im Volksmund gerne das Blaue vom Himmel herunter. Und was bleibt dann dort oben übrig?