Donnerstag, 31. Dezember 2009

Tatzenabdruck in Marzipan

Wieder zu Hause. Ich dachte, das Jahr sei bereits um. Weihnachten sei um. Keine Geschenke mehr, keine Post. Nur noch letzte Einkäufe kurz vor Ladenschluss. Frische Milch und frisches Brot. Mehr brauchen wir tatsächlich nicht.
Dann klingelte der Briefträger und drückte mir ein Paket vom Ohrenbär in die Hand. Der Ohrenbär kommt allabendlich mit seinen "Radiogeschichten für kleine Leute" aus dem Äther in meine Küche. In Berlin kam er jeweils um 19.20 Uhr. Der RBB schickt seine kleinen Leute rechtzeitig zu Bett. Der NDR ist gnädiger und sendet erst um 19.50 Uhr. Er organisiert auch jedes Jahr den "größten Adventskalender Norddeutschlands", das OHRENBÄR-ADVENTSKALENDER-RÄTSEL. Die kleinen Leute im Norden sammeln 23 Tage lang im Dezember Buchstaben. In diesem Jahr lautete die Rätselfrage: womit verziert der Ohrenbär alle Geschenke für seine Freunde? Die richtige Antwort: mit TATZENABDRUCK IN MARZIPAN.
Ich schickte sie an Weihnachten per mail an die Ohrenbär-Redaktion. Mit dem Zusatz, dass ich mir trotz meines Alters und Geschlechts nicht vorstellen könne, wie der Ohrenbär dies bewerkstellige. Der Ohrenbär hat mir diese alttantenhafte Bemerkung nicht übel genommen. Der Ohrenbär ist fair. Der Ohrenbär hat mich ausgewählt als Gewinnerin meiner Altersklasse. Der Briefträger brachte mir heute den Preis: "Laura und der Silberwolf" von Antonia Michaelis. Ein Buch, wie auf dem Buchdeckel zu lesen ist, das man bis zur letzten Zeile nicht mehr aus der Hand legen möchte.

Mittwoch, 30. Dezember 2009

A Travel Log 3

Schnee in Berlin. Wie in Meldorf auf dem Rathausplatz gibt es auch in Berlin am Potsdamer Platz eine Rodelbahn. Mit Kunstschnee, obwohl Naturschnee gerade unaufhörlich vom Himmel fällt. Wie in Liestal, wo es einen Emma Herwegh-Platz gibt, gibt es auch in Berlin eine Emma Herwegh-Straße. In Liestal befindet sich der Platz vor der neuen Kantonsbibliothek, direkt hinter dem Bahnhof. In Berlin führt die Straße direkt auf den Hauptbahnhof. Wir sind sie heute zweimal mit unserem Gepäck abgeschritten. Beide Male durch tiefen frischen Schnee.
Emma Herwegh war wie ihr Mann eine Reisende und Schreibende. Wie ihr Mann ist Emma Herwegh in Liestal begraben - in Sichtweite meines Vaters.

Hier die Grabplatten-Inschriften sowie andere Informationen zu den beiden Liestaler Ehrenbürgern:
http://www.georgherwegh-edition.de/9.html

Hier eine kurze Info aus Berlin zu Emma Herwegh
http://www.berlin.de/ba-mitte/bezirk/gedenken/emma_herwegh.html

Dienstag, 29. Dezember 2009

A Travel Log 2

Wir benehmen uns wie zu Hause. Umkreisen das Engelbecken, bedauern die Baustelle anstelle des Cafés. Umkreisen unsere ehemalige Wohnung. Licht brennt und Vorhänge hängen. Wir linsen tatsächlich am Klingelschild. Da steht derselbe Name, der auch in der Verkaufsurkunde steht. Wir sind beruhigt, setzen uns in den Kuchenkaiser und halten Hof. Die Männer kommen im Doppelpack: zwei Wolfgangs, zwei Kläuse, zwei Michaels - und der Dritte steht nach wie vor als Erzengel nachts erleuchtet auf dem Glockenturm der Ruine der Michaelkirche am Engelbecken. Die Frauen sind einmalig, unverwechselbar und biblisch: eine Maria, eine Hildegard, eine Sonja, eine Rosita, eine Judith. Auf dem Heimweg - spätnachts wie immer in Berlin, es ist eisigkalt wie immer in Berlin, wir bewegen uns auf einem eingefrorenen Trampelpfad wie immer in Berlin - gehen wir noch zum zweiten Kaiser. In den Laden, in dem wir immer einkauften. Der jetzt, im Gegensatz zu früher, bis Mitternacht geöffnet ist. Wir kaufen lauter Unsinn. Nur um uns heute noch einen allerletzten Moment der Illusion hinzugeben, wir wären nie weggewesen.

A Travel Log

Wir benehmen uns wie Touristen. Lassen uns widerstandslos von der Rezeptionistin einen Stadtplan geben, auf dem sie den Dom, die Linden und Checkpoint Charlie mit einem blauen Kugelschreiber einkreist. Wir gehen zu Fuß. Das war früher, als wir noch in Berlin lebten, verpönt. "Man geht nicht zu Fuß und ist nie müde". Meine beiden ersten Berliner Lektionen. Wir frühstücken zum ersten Mal im Leben am Gendarmenmarkt. Der Weihnachtsmarkt ist noch in vollem Gange. Gegenüber vom Stammhaus Lutter & Wegner entdecken wir einen schmächtigen E.T.A. Hoffmann im Gebüsch. W. weiß, warum er hier steht, sieht aber den Winzling auch zum ersten Mal. 1815 rief Hoffmann mit dem Schauspieler Ludwig Devrient im Weinkeller von L&W das Wort "Sekt" ins Leben. Mein Berliner Ehemann weiß noch mehr: Dass sich seither die Berliner in den Haaren liegen, ob der Name von Hoffmanns Saufkumpel Französisch, Deutsch oder Berlinerisch auszusprechen sei. Wir wollen zur Zimmerstraße 90/91. Dazu müssen wir tatsächlich über den Checkpoint. Um in Sun-Jun Kims elektroakustischen Kompositionen und Klanginstallationen den Weg nach Hasla zu finden. Welcome to Hasla heißt das Projekt, an dem der DAAD-Stipendiat in Berlin arbeitet. An der Zimmerstraße präsentiert er noch bis übermorgen vier Klanginstallationen unter dem Titel A Travel Log: From Fwarrheu to Hejning. Damit sucht der koreanische Komponist "Wege nach Hasla", wie es im Begleittext heißt. Hasla sei "eine fiktive Gegend, deren Existenz sich uns einzig durch die Klänge und Artefakte erschließt, die aus diesem imaginären Land mitgebracht wurden, und durch die mitgeteilten Erlebnisse eines Reisenden, der Hasla angeblich durchquert hat." Wir öffnen unsere Seelen diesem verstörenden Ort. Die Ohren zu öffnen, ist fast hoffnungslos. Dieser Ort ist leise, wie kaum etwas anderes in unserer Welt. In meinem Kopf ist "Hasla" der polnische Plural zu "hasło" (=Stichwort, Schlagwort) und gehört als handschriftliche Tinteneinträge in die Holzkarteikästen der Krakauer Jagiellonenbibliothek. Dann besuchen wir den leeren Schlossplatz und verinnerlichen uns Kims Klanginstallationen unter freien Himmel, im freien Feld, mit nie dagewesener freier Sicht auf die Spree: "In tune, out of tune". Kim nennt sie "Ortsbewusstseinserkundung". Er bat 60 Berliner verschiedenen Alters, ihm ein Lied vorzusummen, das sie an die eigene Kindheit erinnert. Entstanden ist daraus eine 17 Minuten lange 8-Kanal-Ton-Komposition, strukturiert mit Glockenklängen zu musikalischen Sätzen - eine wahre Symphonie "versteckten Frohsinns" (O-Ton Folkmar Hein, ehem. Leiter des Elektronischen Instituts der TU Berlin). Sehr empfehlenswert, noch bis zum 31.1.2010, von 8 bis 22 Uhr jeweils zur vollen und halben Stunde, aus 8 Lautsprechern auf der Banklinie zwischen Berliner Dom und Hochschule für Musik Hanns Eisler.

Montag, 28. Dezember 2009

The Limits of Control

Wir sind in Berlin. Es gibt einen Film, der hier auf uns gewartet hat. Sagt W. und führt mich, als es längst stockfinster ist und das bucklige Pflaster gefährlich zu überfrieren beginnt, an die Kastanienallee in den Lichtblick.


Donnerstag, 17. Dezember 2009

Schneeschaufeln

Es hat geschneit in der Nacht und W. schaufelt in der Früh die Zugänge zu unseren Haustüren sowie einen Gehweg rund um unsere Häuser frei. Am Mittag ist alles wieder zugeschneit.
Eigentlich gibt es keinen Grund, den Schnee wegzuputzen. Er ist schneeweiß und unschuldig.

Mittwoch, 16. Dezember 2009

Selbstreinigungsmechanismen

Es ist Winter geworden an der Nordsee. Kalt und Klar. Heute mit eisigem Westwind. Also auflandig. Trocken. Gutes Wetter für ausgedehnte Spaziergänge, solange es hell ist. Soll die Selbstreinigungskraft des Hirns stärken.

Ich nehme, wie gesagt, die Wörter dort, wo sie mir zufallen. Oder auffallen. Gestern las ich den Satz "Herr Priklopil war sehr auf Hygiene bedacht." Mich verblüffte dieser Satz. Ich kenne diesen Mann nicht. Wahrscheinlich kennt ihn niemand. Aber dass jemand, der ein zehnjähriges Mädchen entführt und über acht Jahre lang im Keller seines eigenen Hauses gefangen hält, an Waschzwang und Putzwut leidet, seinem Opfer angeblich nicht erlaubte zu weinen, weil Tränen Salzränder hinterlassen (wo, bitte? möchte ich an dieser Stelle fragen - musste Herr Priklopil auch die Wangen seines Opfers unablässig reinigen?), es aber gleichzeitig in einem, wie es heißt "feuchten, kalten ekelhaften" Verlies einsperrte, klingt seltsam widersprüchlich.

Heute lese ich den Satz "Die fehlende Hygiene wird die Schweiz bitter büssen." Da bleibt jedem aufrechten Helvetier die Spucke weg. Ausgerechnet die Saubermänner sollen sich so etwas sagen lassen müssen! Die UBS würde "aus Staatsräson" geschont, schreibt der Kommentator des Tagesanzeigers (und ich gebe ihm in Klammern vollkommen Recht).

Aber hauptsächlich frage ich mich nun, aus rein lexikalischen Gründen, was ein Herr Ospel mit einem Herrn Priklopil gemeinsam haben könnte, denn beide Namen tigern plötzlich durch die Weltpresse in Gesellschaft dieses Wörtchens "Hygiene".

Es ist nicht wichtig, was gesagt oder geschrieben wird. Wichtig ist einzig und allein, in welchem Kontext etwas gesagt oder geschrieben wird.

http://www.tagesanzeiger.ch/meinungen/dossier/kolumnen--kommentare/UBS-wird-aus-Staatsraeson-geschont/story/14125133,

Montag, 14. Dezember 2009

Hühnerhautwörter

Die Gänsehaut gibt es auch als Hühnerhaut. Nicht nur in den Dialekten der Deutschen Schweiz, auch in Frankreich (chair de poule) oder Spanien (carne de gallina oder piel de gallina). In abgelegenen Bergregionen wie im Bündnerland, im Vorarlberg, vom Allgäu bis zum Chiemgau zieht man für das Phänomen die Bezeichnung Hennenhaut vor. Und die Wiener machen aus der Gänsehaut freundlicherweise die Ganselhaut. Die weltgewandten Berliner hingegen umschreiben mit Erpelpelle oder Putenpickel Gefühlssensationen, die nur im Fußballstadion auftreten. In der Fachsprache heißt es Piloarrektion oder Piloerrektion und meint das sich Aufrichten von Körperhaaren. Es kann sogar, sagen die Mediziner, bei manchen epileptischen Anfällen als Begleitsymptom auftreten. Oder bei vegetativen Anfällen als Hauptsymptom vorkommen.

Samstag, 12. Dezember 2009

Gänsehautwörter

Ich sammle die Wörter dort ein, wo sie mir zufallen. Lesen tu ich nur noch unwillig. Hören kann ich nur noch unregelmäßig. Das hat mit meinen inneren Stimmen zu tun. Schreiben ist so etwas wie Durchdrehen. Fleischwolf. Etwas spaltet sich ab oder auf oder beides. Entzweit sich und mich.

Gerade eben aber spitzte ich meine beiden Ohren bis hoch unters Dach. So elektrisiert war ich plötzlich. Der Musikphysiologe und Neurologe Eckart Altenmüller sprach im Radio von Gänsehauttheorien und Gänsehautforschern, vom Gänsehautgefühl, von Gänsehauterlebnissen, von Gänsehautstellen, von der Gänsehautwahrscheinlichkeit, von Gänsehautmusik. Von starken Gänsehäutlern und schwachen Gänsehäutlern. Von der Gänsehautmessbarkeit. Davon, was gänsehautverdächtig sein kann und es dann doch nicht ist. Davon, wie die Gänsehaut mit unserem Gedächtnis zusammenhängt. Davon, wie die Gänsehaut verbessert werden kann. Davon, wie die musikalische (es gibt auch andere) Gänsehaut von unserer Hörbiographie oder Instrumentenerfahrung abhängt. Davon, dass Gänsehaut privat ist und beglückt, wir sie aber dennoch weder steuern noch kontrollieren können. Davon, dass Leute in sozialen Berufen wie etwa Ärzte und Krankenschwestern viel stärkere Gänsehäutler sind, als Leute in technischen Berufen, Ingenieure oder Physiker. Davon, dass die Gänsehautwahrscheinlichkeit in einer Gruppe rapide ansteigen kann, zB in unserem konditionierten Kulturkreis in einer vollen kalten Kirche während des Weihnachtoratoriums. Dass dabei gigantische Gänsehäute entstehen können, regelrechte Gänsehautstürme.

Höchst gänsehautanregend. Zum Nachhören hier: http://www.ndrkultur.de/media/audio22762.html

Donnerstag, 10. Dezember 2009

Dessin

Aus Anlass des heutigen Tages kaufen wir einen zweiten Pinguinklodeckel. In unseren beiden Haushälften gibt es insgesamt 4 Toiletten. Eine, die von uns am meisten benützte in unserem Bad, besitzt schon seit unserem Einzug eine Pinguinbrille und einen Pinguindeckel. Das ganze Bad ist von Pinguinen besetzt. Damit keiner von seiner Eisscholle abrutscht oder von einem heißen Wasserstrahl verbrüht wird, ist hier Vorsicht geboten. Besonders beim Haaretrocknen. Aber auch beim Zähneputzen oder Händewaschen. Das zweite Klo im Haus, unten in der Sauna, bekommt Deckel und Brille im Pinguindessin morgen, sobald die Haushandwerkerin ausgeschlafen hat und das aseptisch Reinweiße abmontiert ist. Denn heute feiern wir unseren Hochzeitstag. Da er auf einen Donnerstag fällt, tun wir das in Hamburg, kaufen auf dem Rückweg in der Lidl-Filiale im Untergeschoss des Bahnhofs Altona unser Geschenk und bringen es gegen Mitternacht nach Hause.
Auf der Verpackung steht, was schon der Prospekt versprochen hatte: "WC-Sitz mit dekorativem Dessin". Zuerst glaubte ich an einen Übersetzungsfehler. Oder an ein Übersetzungsversehen. Ein vergessen gegangenes und deshalb unübersetztes (etwa aus dem Niederländischen?) Wort. Unsere Verpackungen sind mittlerweile mit den verschiedensten Sprachen übersät. Wir scheuen weder fremde Wörter noch fremde Menschen noch fremde Sitz- oder Betsitten, aber oft verstehen wir den Text nicht einmal in der Sprache, die wir meinen selber einigermaßen flüssig zu sprechen.
Der Duden belehrt mich schließlich eines besseren. Das französische Wort Dessin wird gleichberechtigt mit dem englischen Wort Design im Deutschen verwendet. Und mein Berliner Ehemann weiß sogar, wie es richtig ausgesprochen wird. Was für eine Überraschung nach 16 Jahren Ehe!

Montag, 7. Dezember 2009

Kartoffelglück

Von außen sieht der Meldorfer Kartoffelautomat so aus. Erfunden und konstruiert hat ihn der Kartoffel-Landwirt Herbert Weerts aus der Gemeinde Dingen in Dithmarschen.
Das Foto entstand im August.


Mittlerweile ist der Kartoffelpreis gefallen, ein Fünfkilo-Sack kostet 3, ein Zehnkilo-Sack 5 Euro. Wer Glück hat, findet außerdem in seinem Sack ein Weihnachtsgeschenk - in jeden zwanzigsten Sack steckt Weerts in der Adventszeit zehn Euro. Wolfgang hatte kürzlich Glück. Er ist eben ein Sonntagskind.

Heute hatte er kein Glück. Aber ich hatte unglaubliches Glück. Er ist und bleibt ein Sonntagskind. Wir wollten an den Strand fahren, aber hinter Mannheim fuhr er über einen spitzen Stein und hörte ein unangenehmes Geräusch. Der Weg von Meldorf ans Meer führt auch im Winter über Mannheim. Aus dem Hinterreifen entwich pfeifend alle Luft. Seufzend schoben wir die Räder auf der Hafenchaussee zurück. Die Schafe blickten uns kopfschüttelnd nach. Pumpe oder Werkzeug hatte die Mechanikerin nicht bei sich. Der Professor hatte keinen Fotoapparat bei sich. Wir wollten bloß einen Ausflug ans Wasser machen. An der Ecke Jungfernstieg stand der Lieferwagen von Weerts. Der Kartoffelautomat war offen. Der Kartoffelbauer füllte seinen Kartoffelautomaten mit Fünf- und Zehnkilo-Kartoffelsäcken auf und erklärte uns den Mechanismus.

Alain de Botton beschrieb einmal seine Faszination von Brücken- oder Viaduktunterseiten. Es ist ein leichtes, etwas zu beschreiben, das man jederzeit wieder angucken kann.
Ich werde, sobald W.'s Fahrrad repariert ist, meine Faszination des Meldorfer Kartoffelautomateninnern beschreiben.

Donnerstag, 3. Dezember 2009

Winterregen

Das Staatssekretariat für Wirtschaft SECO (http://www.seco.admin.ch/) gibt für das Jahr 2008 Ausfuhren von Kriegsmaterial in folgende Länder bekannt (nur Ausfuhren von über einer Million Franken aufgeführt)

Land sowie Wert CHF

Pakistan 109'844'910
Dänemark 83'688'920
Deutschland 80'907'794
Belgien 79'363'228
Großbritannien 47'408'735
Niederlande 39'583'423
Rumänien 38'769'558
Saudi-Arabien 32'108'081
Finnland 30'560'764
U.S.A. 28'791'931
Spanien 17'431'391
Frankreich 17'231'818
Schweden 14'751'775
Malaysia 13'002'218
Kanada 9'878'149
Italien 7'968'692
Norwegen 7'202'864
Türkei 6'611'635
Irland 5'855'395
Australien 5'526'460
Polen 4'678'488
Österreich 4'381'702
Korea (Süd) 4'093'882
Griechenland 4'058'098
Brasilien 4'011'498
Slowenien 3'698'329
Singapur 3'060'206
Indien 2'686'226
Estland 2'571'242
Bahrein 1'746'250
Israel 1'711'118
Arabische Emirate 1'304'809
Jordanien 1'236'218

Diverse 6'242'626

Total Ausfuhr von Kriegsmaterial 2008: in 72 Länder, im Wert von 721'968'433 Schweizer Franken.

Im Dezember 2008 wurde die Verordnung über den Kriegsmaterialexport revidiert, seither sind Waffenlieferungen in Staaten, die in einen bewaffneten Konflikt verwickelt sind oder Menschenrechte schwerwiegend verletzen, verboten.
Die Ausfuhrstatistik der Eidgenössischen Zollverwaltung bestätigt die Aussage von 70 Schweizer Rechtsprofessoren, die Schweiz widersetze sich ihrem eigenen Gesetz: "Ein beträchtlicher Teil des im ersten Halbjahr 2009 exportierten Kriegsmaterials wurde in Staaten geliefert, welche in die internen bewaffneten Konflikte in Afghanistan und im Irak verwickelt sind". Größter Waffenabnehmer der Schweiz im ersten Halbjahr 2009 war Deutschland, drittgrößter Saudi-Arabien, viertgrößter die USA.

Mittwoch, 2. Dezember 2009

Winterwind

Ich fahre an den Strand und denke über die Stille nach. Raureif bedeckt die Sanddornstäucher, die dürren Schilfgräser, den behaarten Strandwermut. Nur Wildgänse schreien ekstatisch. Und eine Schar Raben hackt gierig auf einen toten Hasen mitten auf der Straße ein. Er kann sich nicht mehr wehren, geschweige denn weglaufen.
Ich fahre an den Strand und denke über den Wind nach. Auf dem Rückweg bläst er mir eisig ins Gesicht.
Ich fahre an den Strand und sehe das Ende der Welt. Jenny Holzers Buchstaben brennen rund um den Erdball. Leuchtend gelb und unerbittlich gelb. Ich zitiere und übersetze aus dem Gedächtnis: töten ist unvermeidlich, aber es gibt keinen Grund, stolz darauf zu sein.

Dienstag, 1. Dezember 2009

Milch für Kinder

Die ganze Welt kommentiert das von den Schweizern abgesegnete Minarettverbot. Die Rechten jubeln und loben die Helvetier als Vorreiter - was sie tatsächlich sind, in Sachen Rassismus, was aber wiederum kein Grund zum Jubeln ist. Alle andern reiben sich ungläubig die Augen.

Leider geht in diesem Medienrummel vollkommen unter, was die stimmberechtigte Bevölkerung der Schweiz am letzten Wochenende noch entschieden hat: dass weiterhin Kriegsmaterial exportiert wird. Eine Mehrheit gibt nach wie vor lieber Kindersoldaten (wie zB in der indischen Krisenregion Chhattisgarh) Gewehre in die Hand, als Milch in den Mund. "Einheimische Profitinteressen", heißt es in einer Pressemitteilung, "werden höher gewichtet als ausländische Menschenleben." Dem Bundesrat wird "Faktenresistenz" vorgeworfen. Die Wirtschaftministerin teilt mit: „Weil der Heimmarkt für eine wirtschaftliche Produktion zu klein ist, ist die Schweizer Rüstungsindustrie auf den Zugang zu ausländischen Märkten und damit auf Exporte angewiesen."

Laut offiziellen Statistiken des Bundes exportierte die Schweiz von 1975-2008 für insgesamt 12,7 Milliarden Franken Kriegsmaterial, dazu ein paar neuere Zahlen:
  • 2006 segnete der Bundesrat Kriegsmaterialexporte für 397,6 Millionen Franken ab.
  • 2007 segnete der Bundesrat Kriegsmaterialexporte für 464,5 Millionen Franken ab.
  • 2008 segnete der Bundesrat Kriegsmaterialexporte für 722 Millionen Franken ab.

Das bedeutet:

  • Im letzten Jahr nahm der Export von Kriegsmaterial um 55,4 % gegenüber dem Vorjahr zu.
  • Innerhalb von zwei Jahren nahmen der Export von Kriegsmaterial um 106,7 Prozent zu.
Die Wirtschaftministerin - ich wiederhole es, denn manche Dinge können nicht oft genug wiederholt werden - teilt mit: „Weil der Heimmarkt für eine wirtschaftliche Produktion zu klein ist, ist die Schweizer Rüstungsindustrie auf den Zugang zu ausländischen Märkten und damit auf Exporte angewiesen."
Im Vorfeld der Abstimmung verwies die Wirtschaftministerin wiederholt darauf hin, dass gemäß Art. 22 des Kriegsmaterialgesetzes die Herstellung, die Vermittlung, die Ausfuhr und die Durchfuhr von Kriegsmaterial für Empfänger im Ausland bewilligt werden, "wenn dies dem Völkerrecht, den internationalen Verpflichtungen und den Grundsätzen der schweizerischen Außenpolitik nicht widerspricht."

Mit Schweizer Kriegsmaterial wird immer wieder in Kriegen getötet. Unter anderem mit Granaten und Munition, die von der bundeseigenen Rüstungsbetrieben RUAG Nato Staaten, die im Irak und in Afghanistan im Kampf sind, geliefert werden, oder mit Pilatus Flugzeugen. Im Tschad wurde mit einer Pilatus Maschine Clusterbomben auf Flüchtlingslager im sudanischen Darfur abgeworfen; im Irak wurden Giftgasbomben aus Pilatus Maschinen abgeworfen, in Burma bombardiert das diktatorische Regime die eigene Bevölkerung mit Pilatus Maschinen.

Die Bewilligung für die Ausfuhr von Kriegsmaterial, wurde am 27. August 2008 vom Bundesrat dahingehend präzisiert, dass die „Ausfuhr von Kriegsmaterial ausgeschlossen ist", „wenn im Bestimmungsland ein hohes Risiko für einen Einsatz der ausführenden Waffen gegen die Zivilbevölkerung besteht".

Am 25. März 2009 bewilligte der Bundesrat folgende Exporte:
  • 400 Maschinenpistolen des Typs MP9 PDW (Kaliber 9 Millimeter) im Wert von 824'000 Franken sowie 400 Sturmgewehren SG 553 (Kaliber 5,56 Millimeter) im Wert von 910'000 Franken an die Polizeikräfte des indischen Teilstaats Jharkhand
  • 10 Maschinenpistolen des Typs MP9 PDW an die Polizei im Bundesstaat Chhattisgarh, hergestellt von der Thuner Rüstungsfirma Brügger & Thomet AG, im Wert von 20'000 Franken.
Im indischen Bundesstaat Chhattisgarh, weiß die Presse zu berichten, kämpfe die hinduistisch-nationalistische Regierung seit Jahren gegen maoistische Rebellen. Gemäß einem 58-seitigen Bericht der internationalen Menschenrechtsorganisation "Human Rights Watch" vom 4. September 2008 werden dort sowohl von der staatlichen Polizei als auch von den Rebellen Kinder unter 18 Jahren für bewaffnete Operationen ausgebildet. Aus Kindern werden "Special Police Officers". Bei der Polizei, die mit dem "Segen des Bundesrats Schweizer Waffen erhält", kämen die Kinder als "Special Police Officers" zum Einsatz. Sie kämpfen somit an der Front.
Das Staatssekretariat für Wirtschaft bestätigt die Exporterlaubnis von Kriegsmaterial in das Krisengebiet: "Der Bundesrat hat Waffenlieferungen in den indischen Teilstaat Chhattisgarh bewilligt." Das Thema Kindersoldaten müsse bei der Prüfung von Waffenexportgesuchen zwar "berücksichtigt" werden, entscheidendes Kriterium für Bewilligungen sei aber, "ob im Bestimmungsland die Menschenreche systematisch und schwerwiegend verletzt werden." Dies ist in Chhattisgarh trotz Berichten über Kinder als Soldaten nicht der Fall: "Nach unserer Beurteilung liegen keine Gründe vor, die eine Ausfuhr verbieten würden."

Wie ließ die zuständige Bundesrätin verlauten? „Weil der Heimmarkt für eine wirtschaftliche Produktion zu klein ist, ist die Schweizer Rüstungsindustrie auf den Zugang zu ausländischen Märkten und damit auf Exporte angewiesen."

Die "ausländischen Märkte", auf welche die Schweizer Rüstungsindustrie "angewiesen" ist, sind Plätze, auf denen geschossen, getötet und gemordet wird.