Sonntag, 31. Dezember 2023

Die sanfteste Landung

Kommt gut über den peak und achtet immer auf die Kräfte der Natur, zum Beispiel auf Strömungsverhältnisse. Auf- und Abwindbereiche. Les zones de courants rabattans et ascendants. Dann gelingt vielleicht das schier Unmögliche - oder es geschieht ein Wunder:

https://www.youtube.com/watch?v=WXNXSvnCtKA

Samstag, 30. Dezember 2023

Gottlob!

Es geht nichts über Bach! Gottlob! Nun geht das Jahr zu Ende. BWV 28. 

Es geht nichts über die St. Galler Bachstiftung und den unverwüstlichen Rudolf Lutz! Mitschnitte vom 16. Dezember 2022 aus der Kirche St. Mangen (SG).

Hier Werkeinführung und Reflexion.

Freitag, 29. Dezember 2023

Der längste Freitag

Richtig böse werde ich erst heute Mittag. Der Sturm hat wieder zugenommen. Und die Züge fallen reihenweise aus. Mein Schiedskollege berichtet, dass in Tellingstedt zwei neue Schiedsmänner ins Amt gehoben wurden. Happy Tellingstedt! Und weiter: auch ihn habe gestern meine Anruferin angerufen, denn von mir habe sie, wie sie sagte, keine befriedigende Auskunft erhalten. Das ist unverschämt, entfährt es mir ungewohnt heftig. Wo ich doch sonst so beherrscht bin! Wenn man bei der einen nicht weiter kommt, den anderen anzubaggern. Sie habe ihm, sagt mein Kollege, gesagt, ich hätte ihr den Rat gegeben, mit der Nachbarin zu reden. Nachdem er sie eine halbe Stunde angehört habe, habe er ihr erklärt, einen anderen Rat könne er ihr auch nicht geben. Na Gottseidank! Happy Amt Mitteldithmarschen. Die Sonne kommt raus und ich hänge Wäsche in den Wind, auch wenn während der Tage der 12 Raunächte gerade davor gewarnt wird (denn: böse Geister könnten sich in den flatternden Wäschestücken verheddern, hängen bleiben, nicht mehr loslassen wollen, weil es doch so schön ist ... und über den Wäschekorb Einzug ins Haus, in den Kleiderschrank und die Weißwäschetruhe feiern).

Donnerstag, 28. Dezember 2023

Das längste Jahr

Ich plaudere selten aus dem Nähkästchen. Heute ist der letzte Donnerstag des Monats. Und da wir im letzten Monat des Jahres angekommen sind, ist es auch der letzte Donnerstag des Jahres. Trotzdem bin ich im Feiertagsmodus. Ich wurde aber gerade angerufen. Ob ich heute "im Amt" sei. Nein, sagte ich etwas perplex. Denn ich verstehe die Frage nicht. Ich frage nach, und verstehe schließlich. Der Anrufer möchte wissen, ob ich heute meine monatliche Schiedsamtssprechstunde anbiete. Die immer am letzten Donnerstag des Monats stattfindet. Immer im Raum 007 (ja!). Immer im Amt Mitteldithmarschen. Immer in Meldorf. Mit "Amt" meinte er mich in der Funktion als Schiedsfrau sowie das ehemalige Sparkassengebäude an der Roggenstrasse, in dem seit zwei Jahren die Amtsverwaltung sitzt. Sehr komplex! 

Mein Amt ist ein Ehrenamt, ich bin weder an Dienstzeiten noch an Dienstorte gebunden. Ich kann auch zu Hause am Telefon tätig werden. Rund um die Uhr. An 365 Tagen des Jahres. Also höre ich erstmal zu. Der Anrufer übergibt den Hörer sofort seiner Gattin. Sie wisse besser Bescheid. Auf meine wiederholten Zwischenfragen, was sie denn von mir wolle, bzw wie ich ihr denn helfen könne, weiß sie keine Antwort. Der Redeschwall bleibt davon unbeeinflusst. Strömt nach kurzer Pause umso heftiger weiter.

Mittwoch, 27. Dezember 2023

Die längste Mondnacht

Der Vollmond steht am Himmel der Sonne immer genau gegenüber, also da, wo die Sonne ein halbes Jahr später stehen wird oder ein halbes Jahr früher gestanden hat. Heute Nacht leuchtet der an der Stelle, an der die Sonne zu Sommeranfang steht, und zieht so hoch über das Firmament, wie noch nie in diesem Jahr. Damit sorgt er, sagte die gestrige Sternzeit, "für einen Hauch von Hochsommer". 

Aber damit nicht genug: bei uns am Wattenmeer bleibt er fast 20 Stunden am Himmel. Somit ist diese Vollmondnacht über zwei Stunden länger als der längst Tag im Juni zu Sommerbeginn. Das ist der Hauch vom Hochsommer. Der helle Weihnachtsvollmond stieg gestern Nachmittag um 14:52 Uhr über den Nordosthorizont, die blasse Sonne versank erst zwei Stunden später im Südwesten. Jetzt, mitten in der zweiten Raunacht, erreicht der Mond sein Maximum, aber unter geht noch lange nicht. Die Sonne kommt um 08:43 Uhr und der Mond geht um 09:51 Uhr. So leuchtet für einmal die Nacht in den Tag.

Dienstag, 26. Dezember 2023

Aufkommende Trübsal

Sturmböen. Markantes Wetter. Niesel. In Regen übergehend. Zwischendurch Sonne. Aber verschwindend wenig. 

Ich lese Bichsels Kindergeschichten, die natürlich keine Kindergeschichten sind. Bichsel sagt von sich, er sei ein passionierter Pessimist. "Der Mann, der nichts mehr wissen wollte" will ganz viel wissen, sonst würde er nicht, angestachelt von seiner Frau, ausgerechnet Chinesisch lernen. Und nicht Bücher über Tiere und Insekten kaufen. Und lesen. Nur um im Zoo endlich sein wahres Gegenüber im Geist zu finden: das Panzernashorn.

Montag, 25. Dezember 2023

Raunächte

Nun öffnen sich die Himmelstore wieder für 10 Tage und 10 Nächte. Zeit, zu sich zu kommen, innere Schweinehunde zu vertreiben, ein stilles Plätzchen zu finden, Pläne zu schmieden, Träume aufzuschreiben und Dämonen jeglicher Couleur den Garaus zu machen.

Sonntag, 24. Dezember 2023

Fluch oder Segen

Vierter Advent oder Heiligabend? Zeit für den Sonntagsgottesdienst. Kölner Dom, Kirche der Heiligen Jungfrau Maria von Zeitoun, Mexikokirche oder Basilica de San Francisco el Grande? 

Schon bei Bruegel dem Älteren ("Die Anbetung der Könige im Schnee") ist mehr Krieg als Frieden zu sehen, mehr Abend- als Morgenland. Dichtes Schneetreiben, Eiszeit, zerstörte (Gottes-)Häuser, "verstärkte Polizeipräsenz" bzw bewaffnete Soldaten und fliehende Menschen. Das "Wunder zu Bethlehem" drängt der Maler in die untere linke Ecke. Es ist nebensächlich, belanglos. Die Leute haben Anderes, Wichtigeres zu tun. Aber seht selbst.

Samstag, 23. Dezember 2023

Segen oder Fluch

Fragt das Radio und bietet eine Reise in den schweizerischen Sprechalltag an. Einig in der Vielfalt. Ich bin hellhörig und misstrauisch. Hellsichtig. Vieles ist mir vertraut. Von A wie Angge resp. Ä wie Äxgüsi bis W wie Weggli. Tuttswitt ist dasselbe wie subito. Nur eben ... nun ja, in verschiedenen Sprachen. Wie gut, dass niemand weiß, dass ich ... Aber nein, wir sind nicht im Märchen! Wie gut, dass niemand weiß, wie die Wörter geschrieben werden. Wie gut, dass niemand wissen muss, wie die Wörter geschrieben werden wollen. Der Wildwuchs beginnt auf WhatsApp. Aber ich sitze vor dem Radio und lasse mich auf eine Sprechreise mitnehmen. Nicht auf eine Schreibreise und schon gar nicht in eine Schreibschule! Wir hatten in meiner Baselbieter Klasse noch das Fach "Schönschreiben". Und es wurde natürlich im Zeugnis benotet. Bewertet. Die Haare stehen mir aber erst zu Berge (zum Matterhorn oder auf den Everest), als ich die Allerkleinsten im Radio sprechen höre. Kindergartenkinder. Die zu Hause zB Arabisch sprechen, beim Spielen mit den Nachbarskindern Englisch und im Kindergarten Berndeutsch radebrechen. Diese Knirpse sagen tatsächlich einstimmig, dass für sie der Dialekt am schwierigsten sei. Und lehnen ihn logischerweise ab. Bündner, Walliser, Thurgauer oder Zürcher KiTaKindern geht es sicherlich nicht besser als den Emmentaler oder Oberaargauer Bernern. Aber hört selbst!

Freitag, 22. Dezember 2023

Zoltan Zwo

Entwarnung. Die schwere Sturmflut kam erst heut früh, aber das Wasser läuft bereits wieder ab. Das Dach und der Holmsbu sind ganz geblieben, nur die letzten dürren Äste fielen vom Baum und ein Vogelnest, das zu dieser Jahreszeit dort oben eh nichts mehr zu suchen hatte.

Um 04:27 erreichte die Sonne ihren südlichsten Punkt und ist nun bereits wieder auf dem Weg nach Norden. Wintersonnenwende!

Einzig Herr Caruso ist unpässlich, wollte kein Frühstück, kein erstes, kein zweites, kein drittes ... schläft vor der Sauna, wo er immer liegt, wenn er in Ruhe gelassen werden will. Kackt das Designerklo voll, obwohl draußen die Sonne hoch am Himmel steht. Er muss sich während Zoltans furchtbaren Treibens in der Nacht den Magen verdorben haben.

Donnerstag, 21. Dezember 2023

Zoltan

Zoltan stakst über mein Dach, als ob es seins wäre. Zoltan klopft gar nicht erst an, sondern kommt von Westen. Zoltan jagt ungefragt und ungebremst über jedes freie und unfreie Feld. Zoltan nimmt an Fahrt auf und beschert uns eine unruhige Nacht. Wörtergewitter. Ständig surrt das Smartphone und gibt die nächste Warnung bekannt. Wetterwarnung, Unwetterwarnung, Strumflutwarnung. Orkanböen. Landunter.

Mittwoch, 20. Dezember 2023

Ball

Der Ball ist rund und rollt. Das erste Literatenländerspiel in jenem altehrwürdigen Wiener Stadion fand am 18. Mai 2006 statt. Die Österreicher Platzhirsche kickten gegen die Ungarische Horde - und mehr brauche ich zum Ausgang des Spiels gar nicht zu sagen. Ich war damals Ateliergast im ULNÖ in Krems, und von dort in den Westen der Metropole, an die Alszeile 19 zu gelangen, den Schafberg zu übersteigen und den Dornbacher Friedhof zu durchqueren, war wirklich ein Kinderspiel.

Später schrieb ich, dazu eingeladen oder aufgefordert, meinen Beitrag für die Anthologie Top 22, Band III. Soviele Gäste beherbergte das Atelier unter dem Dach (the only way is up) schon, dass ungefähr 3x365 Seiten voll wurden. Drei Jahre, für jeden Tag eine Seite. Ich liebe mathematische Bezüge - ließ aber in meinem Text nicht internationale Literaturproduzenten einem runden Ball nachlaufen, sondern machte den Ball zum Textfabrikanten. Zum Icherzähler. Zum Geschichteneinsammler. Ihn trafen nur spitze, rot lackierte Fußnägel. Er war in ein Frauenfreundschaftsspiel geraten und die Spielerinnen verfolgten finstere, subtil eingefädelten Ränke.

Dienstag, 19. Dezember 2023

Punkt

Auch Markus Ramseier wurde in Liestal geboren. Zwei Jahre vor mir. Er hat mich, als Baselbieter Flurnamenforscher, früh über den Sand aufgeklärt, mit dem mein "Handschlag der Tide" anfängt. Sand im Gebirge meint etwas anderes als Sand im Flachland. Geröllhalden, erklärte er mir, enthalten oft das Bestimmungswort Sand. Sand am Meer gibt es in der Schweiz nicht, auch nicht im Halbkanton Basel-Landschaft. Er hat mich, als Leiter des DISTL, zu einer Lesung nach Liestal zurückgeholt. Er wirkte immer am Rande seiner Kräfte, fand aber immer Zeit für wunderbare Formulierungen. "Du bist ein Möglichkeitswesen, sagte der Punkt. Dazu hast du eine Zeit lang Zeit." Zehn Jahre vor seinem Tod, von dem ich erst jetzt durch Zufall - auch wir haben uns aus den Augen und Ohren verloren - erfahre, wünschte er mir "viele Sternstunden an Weihnachten und weit darüber hinaus." Prophetisch?

Und ich habe ihn live miterlebt von der Zuschauertribüne aus beim ersten Länderspiel der Schweizerischen Schriftsteller-Nationalmannschaft gegen die Österreichische Schriftsteller-Nationalmannschaft in Wien am 21. September 2006, wie ein Nachruf berichtet. Die Schweizer Schreibprofis waren den k.u.k.-Nachkommen haushoch unterlegen. Die hatten Heimvorteil und gewannen klar, ungefähr mit 7:4. Sie revanchierten sich für die Schmach gegen die Ungarn. Unter meinem Schreibtisch liegt all die Jahre ein Autorenfußball vom Rotbuchverlag, mit den Welttorhütern des 20. Jahrhunderts, mit Zitaten von Spielern, Reportern, TV- und anderen Größen, wie Grass, Ringelnatz, Dali, u.a. Und besagtem historischen Datum des 21. Jahrhunderts. Auf diesen einst kugelrunden Ball, der im Laufe der Zeit an Luft und Spannung verloren hat und deshalb zum Kicken nicht mehr viel taugt, haben mir damals alle Spieler beider Mannschaften ihr Autogramm gekritzelt, verschwitzt und außer Atem nach dem Abpfiff. Unleserlich! 

Montag, 18. Dezember 2023

Zeichen und Bilder

Astrologie hat nichts mit dem Himmel zu tun, sagen die Astronomen. Astrologie sei keine Wissenschaft, sondern "ein willkürliches System", das ohne jeden Beleg angebliche Einflüsse von angeblichen Positionen der Sterne auf unser irdisches Leben deuten wolle.

Die Deutungshoheít obliegt natürlich denen, die Instrumente wie Teleskope besitzen sowie soviel Grips im Hirn, dass sie in der Lage sind, deren Bilder aus dem Weltraum auch auszuwerten. 

Dirk Lorenzen hat mir eben in seiner Sternzeit (Das tägliche Stück vom Himmel) den Unterschied zwischen Sternbild und Sternzeichen erklärt. Heute Abend, sagte er, bzw sein Sprecher, der Schauspieler Markus Scheumann über dem Klangbett von Maximilian Schönherr, heute Abend also wandert die Sonne aus dem Sternbild Schlangenträger in das Sternbild des Schützen. Und alle Horoskopgläubigen, schiebt er sofort nach, werden aufschreien. Denn bei ihnen, bzw in den Horoskopen der Astrologen, die für die Regenbogenpresse arbeiten, steht die Sonne schon seit vier Wochen im Schützen - aber im Tierkreiszeichen. Im Sternzeichen. Und das ist reiner Humbug. Augenwischerei. Kinderaberglaube.

Die Astronomen nehmen die Ekliptik, also die Sonnenbahn am Himmel, als Grundlage für ihre Berechnungen und unterteilen sie in zwölf gleich lange Segmente. Die Sonne hat aber ihren eigenen Rhythmus. Ihr Lauf durch die menschgemachten Segmente dauert unterschiedlich lange. So verbummelt sie beispielsweise sieben Wochen in der Jungfrau, hält sich aber nur ein paar Tage im Skorpion auf. Die Astrologen hingegen berechnen die Position ihrer Tierkreis- oder Sternzeichen nach dem Punkt, den die Sonne am Frühlingsanfang einnimmt und berücksichtigen nicht, dass er sich im Laufe der Jahrtausende verschoben hat. In der Antike, behauptet Herr Lorenzen im heutigen Stück vom Himmel, und ich vertraue ihm blind, "stimmten astronomische Sternbilder und astrologische Tierkreiszeichen noch halbwegs überein". Mittlerweile seien sie um etwa ein Sternbild "aus dem Takt". Am nächsten Freitag wird in allen Horoskopen der bunten Blättchen das Sternzeichen Steinbock anfangen, am Himmel steht die Sonne aber noch bis zum 20. Januar im Sternbild Schütze. Dann feiern die Astrologen bereits den Wassermann. Und so weiter und so fort. Die meisten Löwen sind Krebse, Widder sind oft Fische.Wer das Sternbild sehen will, in dem die Sonne bei seiner Geburt tatsächlich gestanden hat, muss einen Astronomen aufsuchen.

Sonntag, 17. Dezember 2023

Rumi

Heute ist der 750. Todestag von Dschalal ad-Din Muhammad Rumi (1207-1273). Der persischer Dichter und Denker der Superlative. Der bedeutendste. Der berühmteste. Der meist verkaufteste. Übersetzt in "alle" Sprachen der Welt. Von Spanisch bis Bengalisch. Angeblich hat jeder Taxifahrer in Kabul ihn heute noch im Original auf den Lippen.

Deutsch gerade bei Patmos neu erschienen: Rumi. Du wurdest mit Flügeln geboren. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von  Ahmad Milad Karimi.

lebenslang hast du gelernt zu sein
lerne doch einmal nicht zu sein 

Bei uns Sturm. Frühlingswarm. 3. Advent, Gaudete. Freut Euch! Konzert.

17 Uhr: Meldorfer Dom
Johann Sebastian Bach, "Nun ist das Heil und die Kraft" (BWV 50) und Weihnachtsoratorium I-III  
Ausführende:
Meldorfer Domchor
Barockorchester L'arco (Hannover)
Solisten: Lena Langenbacher (S), Dorothee Bienert (A), Marc-Eric Schmidt (T), Christian Henneberg (B)
Leitung: Paul Nancekievill

Samstag, 16. Dezember 2023

Generalprobe

Der Dom wird am heute Nachmittag geheizt auf 16 °. Um den Dom herum pfeift ein scharfer Wind. Nordseewind. Böen von West, zunehmend. Nieselwetter. Warm anziehen. Noten schwarz einschlagen. Den Hals wärmen. Die Finger wärmen. Notenblättern. Oder auswendig singen. Es soll "zügig" durchgeprobt werden, verspricht der Boss.

Freitag, 15. Dezember 2023

Austernporträt

Austern, sagt Herr Ammer, seien das widerstandsfähigste, anpassungsfähigste Lebewesen der Schöpfung. Austern gab es immer schon, weiß Herr Ammer und die Menschen haben seit Anbeginn Austern gegessen. Ich nenne diesen Fachmann so gerne beim Namen, weil es einfach der Hammer ist!

Nur an Austern, erklärt er nämlich, kann der Mensch heute noch seinen ursprünglichen Instinkt, den Jagdtrieb befriedigen: die Beute erlegen und bei lebendigem Leib auffressen. Nicht auf die Fleischverarbeitende Ekelindustrie angewiesen sein, nicht auf die Hühnerfarm, nicht auf die Forellenzucht. Sondern ab ins Sternerestaurant, sich Austern auf Eis servieren lassen, die Schalen öffnen, mit einem scharfen Messer den Muskel durchtrennenen und das noch lebende glibbrige Wesen mit dem ersten Biss töten und hinunterschlingen. Oder eleganter ausgedrückt: aus der Schale schlürfen. 

Herr Ammer schreibt: "Sobald der feste Muskel des beim Verzehr noch lebenden Tiers durchtrennt ist, offenbart sich die darin lebende Molluske: Sie hat ein Herz, aber kein Gehirn, dafür Magen, Darm und After." Und mehr (Meer) noch: Dass Austern früher ein Armeleuteessen waren. Dass Austern, je nach Witterung mehrmals im Leben ihr Geschlecht ändern. Dass die invasive Pazifische Felsenauster, vor deren spitzen Schalen sogar bei uns an der Meldorfer Buch gewarnt wird, den Spitznamen "Sylter Royal" trägt. Und last but not least: dass es an der Nordseeküste bereits konkrete Pläne gibt, ein ganzes Austernriff wieder herzustellen und die hier einst heimische, aber ausgerottete Europäische Auster wieder anzusiedeln.

Andreas Ammer: Austern. Ein Portrait. Berlin 2022

Donnerstag, 14. Dezember 2023

Donnerstagsprobe

Es wird immer noch geschnieft und gehustet. Manche zeigen andere Anzeichen von Krankheit. Halskrause. Blaue Augen. Blutige Schrammen. Glatteisfolgen. Es ist drinnen kalt und raußen kalt. Der Dom, sagt der Zeremonienmeister, wird für das Konzert geheizt. Auf dem Heimweg bläst uns ein scharfer Wind ins Gesicht. Wir fahren wieder mit den Fahrrädern, meine Nachbarin und ich. Sie nahm mich während des Wintereinbruchs mit dem Auto mit, da weder zu Fuß noch per Rad ein Vorwärtskommen möglich war. 

Mittwoch, 13. Dezember 2023

Neumond

Ein denkwürdiger Tag. Der 13. Dezember. 1981. 2023. "Jeszcze Polska nie zginęła ... " - wir können es nicht oft genug wiederholen. Noch ist Polen nicht verloren! Tusk von Duda vereidigt (dessen Miene beim Fototermin spricht Bände), Tusk im Parlament von Kaczyński als "Deutscher Agent" beschimpft. Miese Verlierer. Und gestern abend "löschte" Grzegorz Braun (nomen est omen) mit einem Feuerlöscher die Kerzen des Chanukkaleuchters im Parlamentsgebäude. Im Radio bedauert er heute früh, dass es ein Pulverfeuerlöscher war und kein Schaumfeuerlöscher. Seine Parteikollegen sprechen von einem happening, Braun sei Künsterl! Der Mond nimmt seit kurz nach Mitternacht wieder zu. Die Tageslänge noch lange nicht.

Dienstag, 12. Dezember 2023

Windmärchen

Weltweit schmelzen die Gletscher. Das dürfte mittlerweile jedes Kind wissen. Aber die Gletscher des Himalaya schmelzen deutlich weniger schnell als zum Beispiel die noch verbliebenen vier Gletscher in Deutschland. Oder die rund zwei Dutzend in der Schweiz. Experten sagen, die Gletscher in Europa haben in den letzten zwanzig Jahren durchschnittlich doppelt so viel Eis verloren wie die Gletschern im Zentralhimalaya. Grund dafür sind robuste kalte Winde! Katabatische Winde! Die gab es "wahrscheinlich" schon immer, sagen die Glaziologen, aber ihre Intensität, ihre Dauer und damit ihre Wirkung dürfte in den letzten Jahren zugenommen haben. 

Denn auf den Gletscheroberflächen kommt es mittlerweilen zu einem turbulenten Treiben. Der Wärmeaustausch erfährt ungeahnte Kräfte: während die Umgebungsluft über den Gipfeln wärmer wird, bleibt die Luft direkt an der Oberfläche der Eismassen unverändert eiskalt. Diese kälteren und trockenen Luftmassen fliehen, sie sinken, sausen die Hänge hinab und sorgen für eine Abkühlung der unteren Bereiche der Gletscher sowie der angrenzenden Ökosysteme. So bleibt, wie Messungen der letzten Jahrzehnte zeigen, zum Beispiel die am Fusse des Everest durchschnittliche Gesamttemperatur stabil - statt wie überall sonst auf der Welt zu steigen. Cool, nicht? 

Die Katabatischen Winde wirken wie eine Pumpe. Sie transportieren nicht nur die kalte Luft von den Achttausendern in die Lebensnäheren Tiefen, sie bringen auch "atmosphärische Schichten" ins Tal. Sagen die Wetterbeobachtenden. Sie stellten nämlich fest, dass unten nicht nur die Temperatur absinkt, sondern entsprechend auch die Ozonkonzentration ansteigt.

Montag, 11. Dezember 2023

Windgedicht

Rumi (siehe später in diesem blog, 17.12.):

„So wie der Wind in dieser Welt
er bläst und hebt den Rand des Teppichs
und die Matten werden unruhig und bewegen sich.
Er wirbelt Abfall und Strohhälmchen in die Luft,
lässt das Wasser des Teiches wie einen Kettenpanzer aussehen
und Zweige und Bäume und Blätter tanzen und löscht die Lampen.
Er lässt das halb verbrannte Holz aufflackern und schürt das Feuer.
All diese Zustände erscheinen unterschiedlich und verschieden;
doch vom Gesichtspunkt des Objekts und der Wurzel und der Realität sind sie nur eines, denn die Bewegung kommt von einem Wind.“

Sonntag, 10. Dezember 2023

Das Wintermärchen

Das ultimative Wintermärchen. Auch ich habe meinen Liestaler Namen abgelegt. Heute vor 30 Jahren auf dem Standesamt (Pałac Ślubów) in Warszawa-Śródmieście. Direkt neben dem Königsschloss. Es fiel so viel Schnee, dass kein Durchkommen war. Nicht vom Schloßplatz die paar Schritte bis zum Eingang. Nicht von Berlin nach Warschau. Nicht vom Bahnhof (Warszawa Centralna) ins Bristol. Es war überhaupt nicht sicher, dass der Bräutigam  rechtzeitig eintrifft. Die Braut stand bereit mit dem heißen Bügeleisen. Das Hemd musste faltenfrei sein.

Heute am Wattenmeer: Über Nacht ist aller Schnee vom Regen weggespült worden und die Außentemperatur ruckartig um etwa 10° gestiegen. Von Blitzeis sind wir verschont geblieben oder ich habe es verschlafen. Herr Caruso verspätet sich zum Frühstück. Jagt seinen Frühlingsgefühlen nach oder ist auf der Jagd nach zarten Kaninchen.

Samstag, 9. Dezember 2023

Der Lehnappellativ

Noch ein Wintermärchen. Zurück zu Aschenputtel im Einzugsbereich der Basler Zeitung im letzten Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts. Adelheid Duvanel gilt als vergessene Basler Schriftstellerin. Sie ist am 8. Juli 1996 in einem stadtnahen Wald im Alter von 60 Jahren erfroren, wie es in offiziellen Quellen heißt. Mitten im Sommer! Ihr geistiger, literarischer Vater, Robert Walser, wurde im Winter, am ersten Weihnachtstag 1956 tot im Schnee bei Herisau gefunden. Herzschlag. Duvanels leibliche Bruder spricht aber von "Suizid".

Adelheid Duvanel wurde als Adelheid Feigenwinter in Pratteln geboren und ist in Liestal aufgewachsen. Zuerst in einem Haus unten an der Ergolz, auf der Schleifenbergseite, dann im Rotacker auf der anderen Talseite, unter der Sichtern. Eine ähnlich "geteilte" Jugend verbrachte auch ich in Liestal. Aber natürlich später. Man kannte die Feigenwinters, wenn auch nicht unbedingt persönlich. Adelheids Vater war ein einflussreicher Mann: Straf- und Jugendgerichtspräsident, im Vorstand der römisch-katholischen Landeskirche, Mitglied der Kantonsbibliothekskommission und der Primar- und Realschulpflege sowie - last but not least - der Schützengesellschaft Liestal, für die ich, kaum des Zehnfingersystems mächtig, den einen oder anderen Jahresbericht gegen ein Taschengeld, was bei uns Sackgeld hieß, ins Reine tippte. Weil mein Vater dort als Sekretär amtete. Auch ist der Name Feigenwinter kein Widerspruch in sich, sondern gehört der basellandschaftlichen Fasnachtsgesellschaft: ursprünglich als Fegenwinter bezeichnete er die Person, die das Fasnachtsfeuer anzündete, um die Winterdämonen zu vertreiben. Adelheid legte den Namen aber nach der Eheschließung mit dem exzentrischen Maler Joe Duvanel ab. Und ihre ersten Texte veröffentlichte sie unter dem Pseudonym Judith Januar. Also alle Zeichen auf Winter! Und irgendwie auf mich.

Pratteln heißt schweizerdeutsch Brattele und gehört zum Bezirk Liestal. Eine kleine heile Auenwelt! Der Ortsname geht auf galloromanisch *pradella (= kleine Wiese) zurück, Diminutiv zu lateinisch prātum (= Wiese) und weist entweder auf eine romanische Sprachinsel inmitten der eingewanderten Alemannen hin, oder ist ein Lehnappellativ (ein Lehnwort, das auch als Name verwendet wird).

Freitag, 8. Dezember 2023

Der Nachttopf Karls des Großen

Ende des Versepos. Ende des Wintermärchens. Ende der Eiszeit am Wattenmeer. Herr Caruso hat sich verzogen, holt alle verpassten Spaziergänge der letzten Tage und Nächte nach. Ende aller Geschichten.

Caput XXI-XXVII Hamburg, die weltoffene Hafenstadt nach dem Brand. Menschen sind noch mehr verwandelt als die Stadt ("Gar manche, die ich als Kälber verließ, fand ich als Ochsen wieder."; "Am besten konserviert hat sich der Papierverkäufer"), Loblied auf den Verleger und das Essen und Trinken, weinselige Vision von Hammonia, "Hamburgs beschützender Göttin". Hammonias Zauberkessel (s.o.) lüftet die Zukunft Deutschlands, aber der Erzähler musste Stillschweigen geloben, ehe er sie mit allen Sinnen empfangen durfte. Zweisamkeit bei Tee mit Rum mit der Göttin, die Rum ohne Tee trinkt. Afterparty: Lob auf die toten Dichter und die toten Götter mit einer expliziten Warnung an die Leser vor der Hölle des Dante: "Nimm dich in Acht, dass wir dich nicht zu solcher Hölle verdammen!"

Ende aller Heimatgeschichten.

Donnerstag, 7. Dezember 2023

Sonne, du klagende Flamme

Aus Rücksicht auf das Weihnachtsoratorium (Liveübertragung aus der Elbphilharmonie, Probe mit dem Meldorfer Domchor) beginnt das Deutsche Wintermärchen heute erst spät in der Nacht. Wir sind eh alle um den Schlaf gebracht.  

Caput XIII - XX. Von Paderborn bis Hamburg. Von den Märchen seiner Amme, dem Regen wie Nähnadelspüitzen, der Zwietracht mit dem Fabelkaiser Rotbart über das guillotinieren ("Wir brauchen gar keinen Kaiser") und der Bitte um Verzeihung für den nächtlichen Zwist ("Komme du bald, oh Kaiser"). Von den verfluchten Quasten in Minden und dem Geburtshaus des Großvaters in Bückeburg. Über Hannover endlich in Hamburg, am Abend bei der "Frau Mutter"! ("Mein liebes Kind ..."). Zu Tisch mit  Fisch, Gänsefleich und schönen Apfelsinen.

Mittwoch, 6. Dezember 2023

Die Nibelungenstrophe

Mittwoch. In der Nach fiel noch einmal viel Schnee. Am Morgen noch einmal Gymnastik mit Schneeschaufel. Am Nachmittag Beginn des Tauwetters. Am Abend Fortsetzung des Wintermärchens. Caput V-XII. Von Köln bis in den tiefsten Teutoburger Wald. Mit Liktor ("Ich bin dein Liktor."; "Was du unternommen im Geist, das führ ich aus."; "Du bist der Richter, ich der Vollstrecker."; "Ich bin die Tat von deinen Gedanken"), dem Lob auf deutsche Federbetten ("hier fühlt sich die deutsche Seele frei ..."; "... im Luftraum des Traums"), auf die altgermanische Küche in Hagen ("Sei mir gegrüsst mein Sauerkraut ...") und den heißen Punsch im Wirtshaus, auf Westfalen sowie, bei mitternächtlicher Panne (Radbruch) mitten im dunklen Walde, der Dankesrede an die Wölfe ("Ich bin kein Schaf, ich bin kein Hund, ich bin ein Wolf und werde stets heulen mit den Wölfen").

Dienstag, 5. Dezember 2023

Ein Wintermährchen

Dienstag. Unverdrossen fällt weiterhin Schnee am Wattenmeer. Am Abend wird Heinrich Heines satirisches Versepos "Deutschland. Ein Wintermährchen" (sic!) vorgelesen. Heute die Vorrede sowie der erste Teil seiner Reise von Paris nach Hamburg. Die einsetzt im traurigen Monat November, die Augen "begunnen zu tropfen"und das Herz "recht angenehm zu verbluten". Caput I-IV: Rührung an der Grenze des "zersplitterten Vaterlandes", Kofferrevision - "für die äussere Einheit sorgt der Zollverein, für die geisitge Einheit, die wahrhaft ideele, die Zensur". Preussisches Militär im langweiligen Nest Aachen und schließlich "deutsche" Luft in Köln, Eierkuchen mit Schinken und Rheinwein, der ewig unvollendete Dom, die Hochburg des konservativen Katholizismus.

"Denk ich an Deutschland in der Nacht ..." - dann ist Heine, der "unerbittlichste" Richter Deutschlands um den Schlaf gebracht.

Montag, 4. Dezember 2023

Meldorf

Montag in Meldorf. Noch mehr Schnee. Ich bin zu vorweihnachtlichem Kaffee und Kuchen eingeladen. Ich mache mich zu Fuß auf und erledige auf dem Heimweg noch das eine und andere. Laufe zur Post und besorge Ziegenrollen. Was man so braucht, in einem Wintermärchen. Stapfe den Eescher Weg hoch und erreiche so erschöpft meine Haustür, dass ich mich dahinter sofort aufs Bett fallen lassen muss. Statt Berge auf- und abzutragen. Der Kater lebt auch nur noch indoor, was mir zusätzliches Bücken und Lüften aufbürdet.

Sonntag, 3. Dezember 2023

Haugesund

Sonntag. Immer noch Schnee. Weiter im Text. Weiter nach Norden, aber nach Westen. An die norwegische Nordseeküste: Haugesund ist der Geburtsort des diesjährigen Literaturnobelpreisträgers. Jon Fosse! Der Name der Stadt hat leider nichts mit der Gesundheit zu tun, sondern mit dem Sund, der Meerenge. Und Haug ist der Hügel, so ein bisschen wie Hooge oder Högel. Das erhobene (nicht erhabene) Land. Über dem Wasser. Immer vor Sonnenuntergang errichte ich in meinem Garten Schneeberge. Nach Sonnenuntergang trage ich unter meinem Dach Papierberge ab. Damit ist das Auf und Ab, die Harmonie im Universum und das Gleichgewicht auf dem Boden der Tatsachen aufs Beste bewahrt.

Samstag, 2. Dezember 2023

Holmsbu

Samstag und ausnahmsweise ein buntes Foto. Schnee. Tiefschnee. Trotzdem waren gestern die Gärtner da und behoben den Sturmschaden vom Sommer. Früher ging es nicht. Angesagt hatten sie sich erst für übernächste Woche. Vorgestern schaufelte ich in weiser Voraussicht die Auffahrt frei. Ich hatte keine Ahnung, dass aufgrund des Wetters die Gärtner sich bereits in Stellung gebracht hatten. Ehrenwort! Bei Dauerfrost können sie nur über der Erde arbeiten. Sie brachten zwei Teile Holmsbu - Naturzaun Haselnuss. Schraubten sie fest. Nahmen die windzerzausten Bambusstäbe mit. Der neue Name führt noch weiter nach Norden. Nach Südnorwegen. In den Westen der Halbinsel Hurumlandet am Drammensfjord. In meinem Garten! Schön, nicht wahr? Mit blitzeblanken nagelneuen tibetischen Gebetsfahnen.

Freitag, 1. Dezember 2023

Das Aschenputtel

Ein Wintermärchen. Beim Aufräumen ist mir ein winziger Zeitungsausschnitt in die Hand gefallen. Wenn ich den gesucht hätte, hätte ich ihn nie und nimmer gefunden. Wie die Stecknadel im Heuhaufen. Ich habe ihn aber nicht gesucht und gar nicht suchen können, da ich längst vergessen hatte, dass es ihn gibt. Genau deshalb aber hab ich ihn nun gefunden. Ein klassischer Fall von Serendip: Belohnte Absichtslosigkeit. Oder Absichtsloses Belohntsein. Gefunden habe ich eine Annonce mit eindeutigen Avancen. Vielleicht die verpasste Chance meines Lebens? Ich zitiere aus der Basler Zeitung vom 6. August 1992: "Bis heute habe ich immer nur den Schuh bekommen! Wann bekomme ich endlich das Aschenputtel?" (sic, fett gedruckt).

Ich war damals ganz am Anfang meiner Schuhaffinität. In der Chemie bedeutet Affinität etwa soviel wie die Präferenz von Atomen oder Atomgruppen, sich miteinander zu verbinden. In der Bekleidungsindustrie mag das ähnlich sein.

Der Königssohn interessierte mich wohl nicht, trotz seiner ausgesprochen literarischen Intelligenz. Sonst hätte ich sicher auf die Chiffre E 004-38967 geantwortet. Sicher ist aber heute nur, dass ich die Annonce ausgeschnitten und mit einer Büroklammer zusammen mit der Todesanzeige eines aus dem Fenster Gesprungenen in die erste Augustwoche besagten Jahres geheftet hatte - und dass ich meinen Müll gewissenhaft trenne. Nach Möglichkeit ziehe ich Büroklammern aus dem Papier heraus, das ich der blauen Tonne übergebe. Dabei fällt schon mal das eine oder andere Zettelchen daneben.

Donnerstag, 30. November 2023

Hustle Culture

Der letzte Tag des trübsten Monats des Jahres. Der Schnee von gestern hellt den Morgen auf und die zweistelligen Minusgrade den Geist. Die Biotonne habe ich über Nacht fürsorglich an die Wärme gestellt, in den Schuppen zu meinen beiden Fahrrädern. Trotzdem wird sie nun wohl am Straßenrand festfrieren, ehe das monströse Müllfahrzeug um die Ecke schwankt, wie ein besoffener Hund, sie aufgabelt, durchschüttelt und gegen alle Gesetze der Natur versucht, des gefrorenen Inhalts habhaft zu werden.

Zum allerletzten Mal, ich schwöre es, greife ich in meine Fremdwörterschatztruhe: "Die Hustle Culture beschreibt eine Lebens- und Arbeitsweise, die von einem intensiven unermüdlichen Streben nach beruflichem Erfolg und persönlichem Wachstum geprägt ist."

Also hart arbeiten, sich nicht ablenken, an nichts anderes denken, auf Herumlungern und Blödeleien verzichten, nie noch eine halbe Stunde liegen bleiben, wenn der Wecker schrillt, sich keinen Tag Urlaub gönnen, usw, usf. Sondern unablässig nach Höherem lechzen, nach Ruhm und Ehre, nach Gewinn und Optimierung.

Das Wort "Culture" ähnelt unserer Kultur. Kommt vom lateinischen Substantiv cultura - was soviel bedeutet wie Pflege, Bearbeitung, Bildung - und das geht zurück auf das Verb colere für pflegen oder verehren. Und was bedeutet unsere hochdeutsche Kultur? Wer erinnert sich noch an den Applaus in eiskalter Zugluft, an offenen Fenstern oder auf Balkonen für die Pflegekräfte zu Beginn der Coronazeit? Das ist die schöne, nicht nur deutsche Dankeskultur. Daneben gibt es die nicht nur schöne deutsche Begrüßungs- und Willkommenskultur, konterkariert von einer Politik, die "endlich im großem Stil" abschieben will und gleichzeitig ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz durchboxt. Irgendwie beißt sich hier die Katze in den Schwanz. Fremde werden gegen Fremde abgewogen und ausgespielt.

Der Duden sagt klar und deutlich, die Kultur (ohne Plural!) sei "Ausdruck menschlicher Höherentwicklung" (chapeau!), am Beispiel der abendländischen Kultur, der Kultur der alten Griechen oder Römer, der Kultur des Bierbrauens und Reimeschmiedens et cetera. Die Kulturen mit Plural kennen wir entweder nicht oder beziehen sich auf allzu Bodenständiges wie Bakterienkulturen, Pilzkulturen, Baumkulturen, Weinkulturen, Rosenkulturen ...

"Hustle" ist genau das, wonach es klingt: hasten, hecheln, haspeln (im Sinne von: etwas überstürzt tun oder sagen), und findet genau dort statt, wo es kein Entrinnen mehr gibt. Im altbewährten Hamsterrad. Oder in der Hölle daselbst.

Mittwoch, 29. November 2023

Buzzwords

Noch zwei Tage. Mit diesen fürchterlichen Wörtern. Mit dieser schrecklichen (deutschen) Sprache, die seit neuestem auch noch an allem Elend in diesem Land schuld sein soll. Zum Beispiel am Fachkräftemangel.

Zum Elend mit der Sprache gesellt sich das Elend mit dem Wetter. Über Nacht fiel fast ein halber Meter Schnee über mein Haupt, über mein Dach, über mein Leben. Der Kater ist in einem bemitleidenswerten Zustand. Den Spuren nach, die ich vergeblich suche, hat er die ganze Nacht das Haus nicht verlassen. Nach dem ersten Frühstück wartet er ungeduldig, bis ich ihm eine Bahn freischaufle. Der arme kleine schwarze Kerl versinkt ja vollkommen in der weißen Herrlichkeit! Und ist sich doch zu fein, ausnahmsweise heute mal sein zimmerwarmes Designerklo aufzusuchen.

Perspektivenwechsel. Vom Unappetitlichen zum Appetitlichen. Buzzwords sind Wörter die in aller Munde sind. Modewörter. Eintagesfliegen. Vielleicht auch Regionaltypen. Oder poetisch Honigtau. Heute ist Schnee in aller Munde, jedenfalls bei uns am Wattenmeer. Ich lese, dass Buzzwords "nicht substanzlos" seien. Der Schnee von heute ist nass und schwer. Sie (die Buzzwords oder Buzzwörter) könnten, lese ich weiter, "Visionen" entwickeln, "wichtige Ideen", "klare Identitäten" stiften, und die Gesellschaft zum Denken und Handeln anregen. Nun ja. Wir Nachbarn haben uns gerade alle zum Schneeschaufeln auf den Bürgersteigen vor unseren Häusern versammelt. Jede/r mit einem schalen Scherz auf den Lippen angesichts des grauverhangenen Himmels ... 

Wir werden also noch busy sein heute. Aber das Buzzword hat etymologisch nichts mit unserer Geschäftigkeit zu tun, es kommt vom englischen buzz. Und buzz ist den Kindern im Vereinigten Königreich das, was den deutschen Kindern August Heinrich Hoffmann von Fallerslebenso seit fast zwei Jahrhunderten so erklärt:

Summ, summ, summ,
Bienchen summ herum!
Ei, wir tun dir nichts zu leide,
Flieg nur aus in Wald und Heide!
Summ, summ, summ,
Bienchen summ herum!

Summ, summ, summ,
Bienchen summ herum!
Such in Blüten, such in Blümchen
Dir ein Tröpfchen, dir ein Krümchen
Summ, summ, summ,
Bienchen summ herum!

Summ, summ, summ,
Bienchen summ herum!
Kehre heim mit reicher Habe,
Bau uns manche volle Wabe,
Summ, summ, summ,
Bienchen summ herum!

Summ, summ, summ,
Bienchen summ herum!
Wollen bei den Christgeschenken
freudig deiner auch gedenken
Summ, summ, summ,
Bienchen summ herum!

Summ, summ, summ,
Bienchen summ herum!
Mit dem Wachsstock dann wir suchen
Pfeffernüss und Honigkuchen
Summ, summ, summ,
Bienchen summ herum!

Text: August Heinrich Hoffmann von Fallersleben 1835, Melodie: österreichische Volksweise

Dienstag, 28. November 2023

rizzen

Mon Dieu! Nicht ritzen - obwohl es wohl genauso ausgesprochen wird! Eher reißen. Aufreißen hätten wir das früher genannt, was heutzutage der Rizz (= Mensch, meist männlich, "mit besonderem Flirtfaktor", wahrscheinlich auch außerordentlichem Flirterfolg) tut. Das Wort (nicht der Mann) gehört zu den Top Ten der Jugendwörter des Jahres 2023, es ist also höchst aktuell und grammatikalisch virelfältig. Es kann als Substantiv verwendet werden: Er hat Rizz. Oder als Verb: Er rizzt. Aber gendermäßig ist es eindeutig diskriminierend.

Montag, 27. November 2023

Huelle

In Hülle und Fülle. Vollmond am Vormittag. Am frühen Nachmittag die knappe Nachricht im polnischen Kanal: Paweł Huelle nie żyje - Paweł Huelle lebt nicht mehr. Ist tot, heute gestorben, fast auf den Tag genau so alt wie ich. Ich habe ihn, wie viele andere, einstige Freunde, Kollegen, Weg- oder Schicksalsgefährten aus den Augen verloren. Ich höre eine kurze Viertelstunde polnisches Radio, höre Stimmen, gebrochene oder feste, die an ihn erinnern und an die ich mich erinnere, obwohl ich auch sie, die Menschen hinter diesen noch lebenden Stimmen aus den Augen verloren habe. Aber sofort wieder vor mir sehe. Pawła zresztą też.

Einst - und das ist lange her und seltsam genug, übersetzte ich das Drehbuch, das Paweł Huelle zusammen mit Klaus Richter und Cezary Harasimowicz für den Film nach der Erzählung "Unkenrufe" von Günter Grass polnisch schrieb - ins Deutsche zurück. So kompliziert wie dieser Satz war das Unterfangen, eine deutschpolnische Kooperation, wie man so schön sagt. Mit Matthias Habich und Krystyna Janda in den Hauptrollen. Eine polnischdeutsche tragische Liebesgeschichte. Wie das Leben und die Fiktion so spielt. Tempi passati. Trzymaj się tam, Pawle!

Sonntag, 26. November 2023

revanchieren

Revanchieren muss nicht negativ sein, obwohl es oft so verstanden und gemeint ist. Und weil lateinisch vindicatio oder vindicta in Richtung der Rache, Strafe oder Notwehr zeigen. Und das Verb vindicare genauso tendenziös ist mit ahnden, gegen jemanden vorgehen, einschreiten, bestrafen, tadeln, rügen. Es ist Sonntag und ich wollte eigentlich vor dem Wintereinbruch noch einmal auf die Leiter. Mich revanchieren - der Regenrinne erkenntlich zeigen. Einen Blick hineinwerfen und notfalls beherzt hineingreifen. Aber es gibt kaum Tageslicht. Es ist feucht und unfröhlich draußen.

Samstag, 25. November 2023

re-strukturieren

Sobald die Sonne scheint, wird der Tag auf den Kopf gestellt. Immer. Das ganze Jahr hindurch. Aber insbesondere in der dunklen Jahreszeit. Werden sofort alle Pläne umgekrempelt. Wird der Tag restrukturiert. Nicht rekonstruiert (er ist ja noch nicht vergangen). Auf Schreibtischarbeit verzichte ich solange es hell ist. Heute also ein letztes Mal Laub fegen. Den ganzen Rasen harken. Für den Rasenmäher ist der Boden bereits zu nass und das Laub zu zerstreut. Es hockt in den Büschen und fordert Handarbeit. Armarbeit. Rückenarbeit. In der Nacht gibt es Frost.

Freitag, 24. November 2023

stigmatisieren

Am Morgen nach der Chorprobe wache ich immer krank auf. Schon am Abend nach der Chorprobe fühle ich mich krank. Eigentlich werde ich regelmäßig während der Chorprobe krank, denn da wird nicht nur gesungen, sondern gehustet und geröchelt wie in einem Lungensanatorium. 

Husten ist das neue Stigma. Wer heute hustet, egal wo, nicht nur im überfüllten Probenraum, auch beim Bäcker oder Fleischer, wird wie ein Aussätziger beäugt. Feindlich. Misstrauisch. Ablehnend. Stigmatisiert eben.

Das Stigma, die Stigmata. Wie das Komma, die Kommata. Soviel zur Konjugation am Freitag.

Donnerstag, 23. November 2023

parasozial

Parasozial ist einseitig, nicht interaktiv, nicht gleichberechtigt. Das Phänomen ist nicht neu. Eine parasoziale Interaktion ist zum Beispiel das Gebet. Zum Lieben Gott. Oder die Zwiesprache einem Verstorbenen. Parasoziale Beziehungen sind auch nicht neu, aber gerade im Trend. Eine einseitige Beziehung zu einer öffentlichen Figur, das kann auch eine KI sein oder ein finsterer, resp. fiktiver Charakter. Künstler, Könner, Kenner. Aber auch die Blender, die Influencer, Podcaster, die Stars und Sternchen. Die Gelikten und Gehypten, die Geschminkten und Gelifteten. Die Gefilterten und die Gebräunten, Verblassten, Gestreckten. Die Verlorenen. Und die Gewonnenen

Interessant ist, dass die parasoziale Beziehung so einseitig ist, dass der/die Angehimmelte, die öffentliche Person, egal ob nur virtuell oder aus Fleisch und Blut, von den Anhimmelnden meist nicht den blassesten Schimmer hat.

Mittwoch, 22. November 2023

perrenieren

Manchmal sind Fremdwörter Glückssache. Perennieren gehört in die Botanik nicht in die Sexualkunde. Perennierende Pflanzen sind mehrjährige Pflanzen. Pflanzen also, die den Winter, die Kälte, den Frost überleben, und immer wieder, sobald die Temperaturen es erlauben, wieder aus dem Boden hervorkommen, wachsen, blühen, spriessen. Lateinisch perennis meint das ganze Jahr hindurch, von per (durch) und annus (Jahr).

Dienstag, 21. November 2023

insinuieren

Ein nebulöses Wort. Es kommt von insinuare wie einflüstern, sich einschmeicheln, sich hinein- oder vordrängen, eindringen. So etwas tun nur unsympathische Zeitgenossen. Und das gilt auch für die Zeitgenossinen. Sie insinuieren nonstop, leben in Andeutungen und Unterstellungen. Lassen etwas durchblicken und etwas anderes galant verschwinden.

Montag, 20. November 2023

Commitment

Nun bin ich also fest entschlossen, die neue Woche anzugehen. Warte auf das Tageslicht, eine längere Regenpause und die Öffnungszeit des Postschalters im Supermarkt. Ich glaube nämlich, sicher bin ich nicht, aber die Logik spricht dafür, dass Briefmarken nicht schon um 6 Uhr in der Früh gekauft werden können, Brot und Butter aber schon.

Ich vertraue dem Seelenplan (ha!). Denn auch das Wort Commitment kommt unverändert aus dem Englischen ins Deutsche marschiert, hat seine Wurzel aber im lateinischen committere (= anvertrauen oder überlassen, etwa zu getreuen Händen). Das Commitment ist wie die Verpflichtung oder die Entschlossenheit, das Engagement, die Hingabe. Mit der festen Absicht, etwas in die Tat umzusetzen.

Sonntag, 19. November 2023

Vibe

Dauerregen. bad vibrations. Wir sprachen früher die Wörter, wenn auch englisch, so doch bis zum Ende aus. Vollständig. Ganz. Das ist in Zeiten des Daumenschreibens nicht mehr zumutbar. Mehr als 4 Buchstaben schaffen zwei Daumen nicht. Mir fallen in diesem Zusammenhang die Daumenschrauben ein, die in der Folterkammer angezogen werden. Zur Wahrheitsfindung! Bei uns gab es auch good vibrations. Es gab sozusagen alles. Oder anders gesagt: alles war möglich. Ein sowohl als auch. Heute ist nur noch entweder oder angesagt. Und dies möglichst kurz und knapp. Mit höchstens 4 Buchstaben.

Die vibes in den Kehlen der Jugendlichen klingen wie die alten Weiber vom Dorfe. In meinen Ohren haben sie wenig mit Vibrationen, Schwingungen, Stimmungen, ach so ausgelassenen Gefühlen oder Schmetterlingen zu tun als eben den Weibern in der Frühmesse. Daran ändern auch ausschmückende Adjektive wie groovig oder chillig wenig. Der Dauerregen hebt die Stimmung nicht, reinigt aber die Luft.

Samstag, 18. November 2023

Othering

Othering klingt zu gut um wahr zu sein. Ein Euphemismus für Ablehnung, Ausgrenzung, Abgrenzung, Diskriminierung, Stigmatisierung, Marginalisierung. Wenn ich wollte und mich anstrengte, könnte ich noch viele drastische deutsche Wörter finden. Aber ich bin gerade auf dem Fremdworttrip. Oder eher auf dem Neuewörtertrip. Lerne täglich, wie das Jungvolk spricht.

Aber das englische Wort other geht tatsächlich auf die germanische Wurzel anþar zurück. Und so anders als anders klingt es in unseren überstrapazierten Ohren gar nicht.

Freitag, 17. November 2023

woke

Ohne dem geht gar nichts mehr. Wer nicht woke ist, hat verloren. Gilt als unsensibler sturer Bock oder als unsensible alte Kuh. 

Heute ist der Bundesweite Vorlesetag. Ein Vorlesefest, ein Volksfest, ein Kindergartenhappening. Meine Bücher sind endlich eingetroffen. Aber von meinem Schreibtisch verschwinden immer wieder die seltsamsten Dinge. Auf meinem Schreibtisch passieren immer seltsamere Dinge. Mit einer woke-Ideologie (puh!) hat das wenig zu tun, denke ich. Aufgeweckt war ich schon als Kind. Auch bin ich eine erprobte Brillenträgerin. Aber der Mars verschwindet gerade hinter der Sonne und in den nächsten Tagen ist Funkstille im All.

Donnerstag, 16. November 2023

Sisu

Finnland und die Überlebenskunst. Die Sisu ist keine Susi und erst recht keine Suse. Sondern ein Gesellschaftskonzept. Ein Kollektivwesenszug. Eine Schlüsselqualität der finnischen Tradition, der finnischen Identität, der finnischen Lebensfreude: Ausdauer. Beharrlichkeit. Mut. Innere Stärke. Äußere Stärke. Entschlossenheit. Unerschütterlichkeit. Die Sisu manifestiert sich zB im alljährlich wiederkehrenden Eisbaden. Historisch wird sie gerne am 105 Tage dauernden Winterkrieg 1939/1940 gegen die Sowjetunion festgemacht. 

Sisu nennen die Finnen auch einen ansonsten namenlosen Gipfel auf 4300 m in der Antarktis. Sisu ist von der amtlichen Kartographie der Vereinigten Staaten nie bestätigt worden und wir suchen diesen Namen vergeblich im GNIS (Geographic Names Information System). Eine finnische Träumerei also, wiewohl erstmals 1997 bezwungen und erklommen von Veikka Gustafsson und Patrick Degerman.

Mittwoch, 15. November 2023

Serendip

Serendip ist die alte, wie es heißt, wohl einst im Kreise von Seefahrern und Händlern übliche Bezeichnung für Ceylon, heute Sri Lanka. Die Insel war damals ein strategischer Knotenpunkt zwischen Vorder- und Südostasien. Ihr Name wurde stetig angepasst. Im Sanskrit heißt sie Simhaladvipa, die Inder nannten sie Singhala, Silan oder Sarandib - oder Serendib bzw Serendip, die Portugiesen Ceilão, die Niederländer und Briten Ceylon. 

In die Weltliteratur kam Serendip durch das persische Märchen über die Abenteuer der drei Prinzen von Serendip (erstmals aus dem Persischen - ins Italienische - übersetzt von Cristoforo Armeno Peregrinaggio di tre giovani figliuoli del re di Serendippo, veröffentlicht in Venedig 1557), die durch ihren Scharfsinn ua ein verloren gegangenes Kamel dank seines Wesens wieder finden - es lahmt, ist halbblind, und trägt auf seinem Rücken links Honig, rechts Butter (oder umgekehrt). In den englischen Sprachraum gelangte Serendip bzw dann serendipity dank Horace Walpole, der sich am 28. Januar 1754 in einem Brief an seinen in Florenz lebenden Freund über dieses alberne Märchen ausließ. In den Französischen Sprachraum trug es Voltaire 1747 mit seiner philosophischen Erzählung Zadig ou la destinée - Histoire orientale. In der Wissenschaft intergrierte es der amerikanische Soziologe Robert K. Merton mit seinem 1945 erschienen Werk The Travels and Adventures of Serendipity.  Eine deutsche Übersetzung des "albernen Märchens" gibt es mW nicht, hier steht nur die Serendipität im Fremdwörterbuch und meint so etwas wie die "glückliche und unerwartete Entdeckung von etwas Wertvollem oder Bedeutsamem, während man eigentlich etwas anderes sucht." Korrekter müsste die Definition mE heißen: während man gar nichts sucht. Belohnte Absichtlosigkeit. Als Beispiele werden angeführt: die Entdeckung Amerikas (statt des Seewegs nach Indien), die Entdeckung von Penicillin (durch die Beobachtung von Bakterien abtötenden Schimmelpilzsporen) oder der berühmten gelben Post-it-Zettelchen (durch Schaffung eines nicht ganz klebrigen Klebstoffs ...)

Auf mein Dasein am Wattenmeer übertragen bedeutet dieses kleine Weltreise folgendes: ich wollte heute endlich das Wohnzimmerfenster und die gläserne Terrassentür putzen. Dabei schien es mir vernünftiger, vorher die Regenrinne an der Südseites des Daches zu säubern, denn dabei kleckert es immer ziemlich unappetitlich. Um an die Regenrinne heranzukommen, muss ich auf die Leiter steigen. Um die Leiter aufstellen zu können, müssen Gartenbank, Gartentisch und diverse Pflanztöpfe weichen. Am Ende des sonnigen Mittags (gleich fängt es nämlich wieder an, ohn' Unterlass zu regnen) habe ich eine aufgeräumte Terrasse, abgeerntete unreife Tomaten (die auf dem Fensterbrett hinter der streifenfrei strahlenden Scheibe in der Nachbarschaft einiger Äpfel nachreifen können), entsorgtes Verdorrtes, zusammengekehrtes Staubiges, entleerte Regenrinnen auf der Süd und Nordseite des Daches (wenn ich schon die Leiter bemühe ...), sowie wie gesagt zwei wieder durchsichtige Fenster!

Dienstag, 14. November 2023

prosperieren

Prosperieren kann auch in diesen Zeiten nicht verkehrt sein. Sich gut entwickeln, vorankommen, positiv denken, Veränderungen nicht negativ gegenüberstehen. Die Wirtschaft sieht prosperieren nur als Gewinn. Im Sozialismus waren es die Normübererfüllungen. Politik haben nur ein Bestreben: den Erhalt der Nacht, also kein Nachlassen der Wählergunst. Prosperieren auf Kosten der Anderen. Einst waren florierende Landschaften in aller Munde, dann die Biozönose der Streuobstwiesen, heute sind bestenfalls noch ungemähte Ackerränder zu sehen oder in Dithmarschen windresistente Knicks.

Herr Caruso sieht wieder etwas molliger aus. Ein euphemistisches Kompliment für ein zähnefletschendes Raubtier. Hat der Kater zugenommen, ist es Ausdruck seines persönlichen Karriereerfolgs (fette Beute eingeholt, Winterspeck angesetzt) oder einfach das Winterfell, dass er sich nun aus gutem Grunde zulegt?

Montag, 13. November 2023

filibustern

Neumond! Wie nicht anders zu erwarten. Am Himmel herrscht noch Gerechtigkeit. Laut Duden ist der Filibuster jemand, der "in seinen Aktionen einem Freibeuter oder Partisan vergleichbar" ist. Aber das, was er tut, sprachlich meine ich, filibustern nämlich, bedeutet "Zeit schinden". Etwas hinauszögern, gerade in der Politik. Etwa durch "marathonartiges Reden". Oder durch das, was der polnische Präsident gerade der ganzen Welt vorführt: den Regierungsauftrag einer Partei geben, die keine Regierung bilden kann, weil ihr 1. die Mehrheit, 2. die Freunde fehlen. 

Ich wandle nur auf den Wegen der Wörter und verstehe nicht, wie das filibustern von der hohen See in die hohen Hallen der Parlamente moderner Demokratien kommt. Angeblich über den Niederländischen vrijbuiter (= Freibeuter). Der, sagt der Duden, gehe zurück auf den mittelniederdeutschen vrībūter (= "Schiffsführer mit Vollmacht zum Kapern"), aus vrī wie frei und būte wie Beute. 

Ist denn, frage ich mich, auch Zeit eine Beute? 

Die vrībūte soll eine "freigegebene Kriegsbeute" gewesen sein. Im Krieg erbeuten die tapferen Krieger so allerhand, wie wir gerade täglich in den Nachrichten live mitverfolgen können. Aber von Zeit als Beute habe ich noch niemanden sprechen gehört. Nur von Zeit als Spiel. Im Spiel, vor allem im dreckigen, kommt Zeit vor. Als Trumpf. Böse Zungen behaupten, der filibusternde polnische Präsident verschaffe der früher oder später abtretenden Garde Zeit fürs Reinemachen. Nun nimmt der Mond wieder zu!

Sonntag, 12. November 2023

Diwali

Das hinduistische Lichterfest Diwali, Dipavali, Deepavali oder eben Tihar in Nepal ist in vollem Gange. Kathmandu schickt Glückwünsche in die Welt: Wishing You Happy Tihar 2080. Ich reibe mir die Augen und frage nach. Ja, nach Vikram Sambat oder Bikram Sambat (orthographier Variante?) beginnt heute in Nepal das Jahr 2080 und das 21. Jahrhundert. Ich verstehe nichts. Keine Erleuchtung!

Vikram Sambat ist ein reiner Mondkalender und hat gegenüber dem gregorianischen einen Vorsprung von ungefähr 56 Jahren und mehr oder minder 8 Monaten. Zeit ist relativ und Mathematik reine Glückssache.

Nach dem anderen Kalender, dem Nepal Sambat begann aber am 20. Oktober das Jahr 1143 (oder doch 1144?)

Und: Diwali findet immer zu Neumond statt. Immer am 15. Tag des Hindumonats Kartik. Immer 20 Tage nach dem wichtigsten, höchsten religiösen Feiertag Dashahara, in Nepal Dasai oder Dashain.

Auch die Tarotkarten zeigen Licht. Obwohl es draußen längst stockdunkel ist.

Samstag, 11. November 2023

dilettieren

Der Dilettant oder die Dilettantin dilettiert: tut etwas ohne fachliche Qualifikation, stümperhaft aber oft mit beneidenswerter Leidenschaft! Der Filettant oder die Filettantin filettiert: schneidet Filetstücke aus den zarten Lenden von geschlachteten Tieren, natürlich routiniert und ohne Ekel, aus Rindern, Kälbern, Lämmern, Pferden, Hühnern, Fischen uva. Ist aber der Filettant ein Möchtegernsternekoch oder einfach nur Zeitarbeiter resp. Zeitarbeiterin im Schlachthof? Der Duellant oder die Duellantin duelliert, assistiert von einem Sekundanten oder einer Sekundantin. Ein anachronistischer Versuch, die eigene Ehre (nicht das eigene Leben!) zu retten, meist in einer nichtigen Sache.

Sprachgeschichtlich interessaant ist einzig die Bedeutungsverschiebung beim Verb dilettieren, das auf ital. dilettarsi (= sich erfreuen) resp. lat. delectare (= erfreuen, amüsieren - was uns wiederum in die Küche zu den Tanten führt: der Feinschmeckerneffe delektiert dort gerade ein saftiges Filet Mignon) zurückgeht.

Freitag, 10. November 2023

Kaag Tihar

Ab heute wird in Nepal Tihar gefeiert, das Fest der Lichter, der Sieg des Guten über das Böse, der Triumph der Erkenntnis über die Unwissenheit. 5 Tage lang. Der 1. Tag, also heute: Kaag Tihar - ist der Krähe geweiht. Der 2., morgen: Kuku Tihar - dem Hund, der 3., übermorgen: Gai Tihar - der Kuh und der Göttin Lakshmi, der Göttin des Wohlstands, des Glücks, der Liebe uva, der 4., überübermorgen: Goru Tihar -  dem heiligen Ochsen sowie den Bergen und der Reinigung unserer Seelen. Der 5. und letzte Tag, Bhai Tika - ist der Beziehung unter Geschwistern geweiht und so endet das Fest überüberübermorgen. In der Harmonie der Familie.

Donnerstag, 9. November 2023

arrivieren

Eine arrivierte Person hat es, vulgo, "geschafft". Was auch immer. Emporzukommen. Aufzusteigen. Finanziell. Gesellschaftlich. Politisch. Auch ein Gauner kann, in seiner Schicht, arriviert sein. Oder der Staatsfeind Nummer Eins. Beispiele gefällig?

Dabei bedeutet arriver französisch einfach ankommen. Zum Beispiel mit dem Zug, oder aber auch zu Fuß, per Flugzeug oder Raumsonde, von A nach B reisen und dort ankommen. Aussteigen. Die frische Luft oder die Milchstraße geniessen, den Blick auf den blauen Planeten. Oder romantisch die Liebste in den Arm schließen. 

Wer arriviert ist, wissen oft die anderen besser als die arrivierte Person selbst. Seltener wird nach den geografischen Koordinaten gefrat.Wo oder wohin die Person arriviert ist. Ob Lina Bögli 1914 in Herzogenbuchsee (im Volksmund: Buchsi) angekommen, heimgekehrt, zurückgekommen also arriviert ist, oder doch eher 1897, genau in der Mitte ihrer 10-jährigen selbstauferlegten Verbannung aus Europa auf Hawaii, wo sie zur ersten Lehrerin für moderne Sprachen am einzigen Gymnasium der ganzen Inselgruppe ernannt wurde?

Laut Duden gelangte das französische Wort arriver über das vulgärlateinische arrīpāre (aus*adrīpāre), das seine Wurzel im lateinischen rīpa (= Ufer) hat ins Deutsche. Gut deutsch arrivieren oder arriviert meint eigentlich ans andere Ufer gelangen resp. am anderen Ufer angekommen sein.

Mittwoch, 8. November 2023

inspirieren

Auch inspirieren hat etwas von einem Hauch, vom göttlichen oder ungöttlichen, engels- oder teufelsgleichen, wohlriechenden oder durch Umweltgifte verpesteten. In jedem Fall aber geheimnisvollen. Woher die Inspiration wirklich kommt, wenn sie als Sache wahr und wahrhaftig wird, vermag wahrscheinlich kaum jemand sicher zu sagen. Etymologisch kommt sie natürlich aus dem Lateinischen, inspiratio = die Einhauchung.

Die Oschwanderin Lina Bögli brach am 12.7.1892, im zarten Alter von 34 Jahren, im "österreichischen" Krakau zu ihrer zehnjährigen Weltreise auf. Im Bericht über diese Reise, der als Buch vorliegt, schreibt sie, Anlass zur Reise sei "eine Fügung des Schicksals" bzw die Einsicht gewesen, dass "das Leben oft furchtbar leer und farblos" sei. 1914, am 1. Oktober - kurz nach Ausbruch des ersten Weltkriegs, Lina Bögli war bereits für immer in die Schweiz zurückgekehrt und lebte in Herzogenbuchsee im "Kreuz" in dem Zimmer, in dem ich kürzlich übernachtete - vertraut sie ihrem Tagebuch an, dass die "Fügung des Schichsals" Männergestalt hatte und in der Uniform der k.u.k.-Armee steckte. Lina Böglis Schicksal war in der Tat ein polnischer Offizier im Dienst des österreichischen Kaisers, der angeblich in den ersten Kriegstagen gefallen war, tatsächlich aber den Krieg in russischer Gefangenschaft überlebte, den sie, die Schweizer Lina "aus lauter Liebe nicht heiraten wollte, um seine Karriere nicht zu zerstören, der sozusagem mein Schicksal wurde, weil ich, ohne ihn gekannt und geliebt zu haben, nie an eine Weltreise gedacht hätte, da ich ja nur fort ging, um mich vor ihm und mir selber zu flüchten." 

Also nix von einem Leben, das "furchtbar leer und farblos" war. Sondern das glatte Gegenteil. Emotionales Achterbahnfahren!

Am 2.7.1916 notiert sie im Tagebuch: "Heute sind es 24 Jahre her, dass ich die Inspiration zu m. Weltreise empfing, und den ersten Schritt dazu tat." Zehn Tage später, am 12.7.1916: "Heute vor 24 Jahren habe ich meine Weltreise angetreten." Und am 17.7.: "Heute vor 24 Jahren segelte ich auf dem Ballarat von Europa ab." Kein Wort mehr von dem Mann und der Liebe, dafür aber die Inspiration, die sie "empfangen" habe.

Damit überträgt sie die Verantwortung für ihr Tun vom Bekannten (dem Geliebten, der bereits eingestandenen Flucht vor ihm und sich selbst) auf ein Unbekanntes (Gott? das Universum? die Vorsehung?) und verklärt es. Überhöht es in geradezu ikonografischem Übermut, in einer manieristischen Anspielung auf die unbefleckte Empfängnis.

Eine interessante Wendung im fürsprechenden und fortschreitenden eigenen Erinnern.

Dienstag, 7. November 2023

manierieren

Die Tücken der Mittagsstunde oder der Kochshows. Manieriert ist nicht mariniert. Der Manierismus ist ein Kunststil. Groteske Ornamentik. Überfülle an Metaphern. Künstliche Einheit von Ungleichartigem usw. Eine Kunstepoche am Übergang von Renaissance zu Barock. Die Marinade ist das glatte Gegenteil davon, trotz eines vornehmen Hauchs der haute cuisine. Bei uns liegt die Marinade meist im Kühlregal des Supermarkts. Ich meide sie wie der Teufel das Weihwasser. Sie lullt Fleisch oder Fisch ein, verleiht Saft, Duft und Farbe, versaut aber nicht selten die Einkaufstasche, den heimischen Gartengrill sowie das Verhältnis zu den Nachbarn. Wiewohl die französische Marinade natürlich viel vornehmer klingt als die bäuerische Beize.

Der Manierismus hingegen kommt aus dem Lateinischen, wie alles Gelehrte und hat eigentlich mit manus (= die Hand) zu tun. Das Handgemachte bzw in die Hand passende. Die manière (da sind wir wieder vornehm) in Richtung Manie. Das Manierierte hat heute einen ähnlich schalen Nachgeschmack wie manche Marinade. Und das Verb manierieren gibt es gar nicht. Aktiv kann diese Kunstform nicht (mehr) betrieben werden. Das scheint irgendwie sogar logisch im 21. Jahrhundert. Sie bleibt ein Resultat der passiven (abwertenden: verächtlichen, spöttischen) Betrachtung. Seltsam, nicht? Letztlich hat das eine - der Manierismus - wie das andere - die Marinade - wenig mit Handwerk oder Kunst zu tun. Lest mal die Zutatenliste und versucht sie zu verstehen!