Samstag, 11. Dezember 2021

Mira

Nun hab ich alle "Studer" intus, Glausers Kriminalromane. Diverse Dialektausdrücke haben mich nächtelang nicht in Ruhe gelassen. Von wegen "anständiges Deutsch". Es ist dem heutigen Leser, der heutigen Leserin nur schwer erklärbar, warum ein Berner Wachtmeister (Studer eben) mit seinen Verdächtigten und Nichtverdächtigten, sogar mit seiner Gattin immer wieder "in schönstem Hochdeutsch" zu sprechen anhebt. Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen? Oder sich Respekt zu verschaffen? Das Gewicht seines Amtes zu betonen? Mira ...Genau dieses mira hat es mir angetan. Ich kenne es natürlich und verstehe es auch richtig (nein, es ist kein weiblicher Vorname und hat nichts mit russisch мир = Frieden zu tun!). Trotzdem irritiert es mich im Kontext mit Mord und Totschlag. Ich schlage im Idiotikon nach:

Mira = meinetwegen, ein gleichgültiges Nachgeben, oft mit Ungeduld und Unwillen unterfüttert. Kann nur in der 1. Person "stattfinden" (sagt das Idiotikon) in der Modifikation "was mich betrifft, so viel an mir oder meinem Willen liegt". Mira chann er gā - das sagt Studer, wenn er einen Lump nicht in Handschellen abführt, sondern laufen lässt. 

"Krock & Co.", der letzte Studerkrimi, spielt in der Ostschweiz, weil Studers Tochter einen Thurgauer Polizisten geehelicht hat und die Hochzeitsgesellschaft gerade zum Abendessen im Saal eines Hotels im Ausserrhodischen sitzt, als ein Knecht verkündet, im Garten liege ein Toter. Hier brummt Studer erstaunlich oft sein mira - und das Idiotikon weiß zu berichten: "Die Thurgauer machen das Wortspiel, dass wenn A sagt: mira! B antwortet: mira ō  [=auch], denn git's e Tobel  [=Kluft]."  Die Thurgauer deuten nämlich das ungeduldige mira um in mī Rā, womit sie meinen: mein Rain, mein Abhang, my home, my castle. Der Nachsatz, das Tobel, die Kluft trennt diesen Rain klar - wovon auch immer. Vom Rain des Nachbarn oder dem bösen Geschwätz im Dorf. Meins ist meins und Deins ist deins.

Damit, mit dem Wörtchen mira aus dem Mund des Berner Fahnders in Anwesenheit seines Thurgauer Schwiegersohns am Tatort im Appenzell Ausserrhoden und mit einem Toten aus dem Sankt Gallischen hat der Morphinist Glauser sprachlich (anständig!) ein Meisterstück der interkantonalen Interferenzen zur Vorkriegszeit in Helvetien geschaffen. Chapeau!

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen