Sonntag, 5. Dezember 2021

blankziehen

Zweiter Advent. Zeit für's Säbelrasseln. Ich bin geschlechternichtneutral aufgewachsen. Oder anders gesagt: nicht geschlechterneutral. Das betraf nicht in erster Linie Farben wie rosarot und himmelblau, sondern in der Hauptsache die Weihnachtsgeschenke. Ich weiß nicht mehr, was meine Brüder von ihren Patenonkeln geschenkt bekamen, ob diese Geschenke auch auf Jahre, Jahrzehnte vorhersehbar waren. Ich jedenfalls wusste bis zu meiner Volljährigkeit - danach hörte die Schenk- und Fürsorgepflicht auf -, was ich von meiner Patentante zu erwarten hatte. Unnütz, langweilig, alle Jahre wieder eine Enttäuschung in Form eines Silbersuppenlöffels oder einer Silberkuchengabel. Dazu kam, dass ich die Teile, wenn ich sie denn überhaupt auspacken und mit leuchtenden Augen bestaunen wollte, sofort wieder Seidenpapierumschlungen in die Originalverpackung versenken musste. Um sie zu schützen vor oxidationsfördernden Stoffen. Wie zum Beispiel Luft. 

Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Brüder in ihrer Kindheit mit Teilen ihrer Aussteuer bedacht wurden. Buben waren frei von jedweden irren Zukunftszwängen. Sie durften unter dem Weihnachtsbaum mit Soldaten, Säbeln oder Schienenfahrzeugen herumfuhrwerken, während meine Schwester und ich vierhändig Klavier spielten.

Nun denn. Als vor einem Jahr meine neue Küche eingebaut wurde, machte ich tabula rasa. Verschenkte oder entsorgte alles, was ich nicht mehr brauchte. Guckte in alle Ecken. Räumte auf. Das Silberbesteck kam zum Vorschein. 6 x 6 Teile, jedes einzeln in Seidenpapier eingewickelt, und trotzdem alle schwarz angelaufen. Ich besorgte ein Silberputzmittel, zog Gummihandschuhe über und machte mich an die Arbeit, ekelte mich vor dem Gestank und der Brühe, die durch mein neues Spülbecken abfloss. Aber seither esse ich mit den Weihnachtsgeschenken aus der Kindheit und stecke Löffel und Gabeln nach Gebrauch in den Besteckkorb der Spülmaschine. Für Messer bietet sie ein eigenes Bett an über den Kaffeetassen. Dort oben werden sie im Liegen, wie Zauberbergpatienten, koscher, ohne Kontakt zu anderen verschmutzten Teilen sauber. Heute, am zweiten Advent, beim Sonntagsfrühstück, ist mir die Klinge eines Frühstücksmessers abgebrochen. Ungefähr anderthalb Zentimeter vor dem Griff. Direkt hinter dem markanten Siegel einer heute noch existierenden, damals börsennotierten Metallwarenfabrik. Ich bin zu Tode erschrocken, wollte ich doch bloß eine Scheibe Joldelunder (wohlgemerkt: mit dem Brotmesser vom Laib geschnitten) mit nicht kühlschrankkalter Butter bestreichen. Die Garantie ist natürlich längst abgelaufen - falls es je eine gab. Und ich bin selber schuld, dass ich das Besteck ein halbes Jahrhundert lang durch die Welt schleppte, ohne es auszupacken. Trotzdem ist meine Empörung über diese Demonstration von Materialermüdung enorm. Und: die Wut über 18 Jahre gestohlener Weihnachtsfreude wächst gerade ins Unermessliche.

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