Der zweite traumhafte Wintertag neigt sich dem Ende zu. Der erste Monat des Jahres auch. Abgesehen vom Wetter ist nichts besser geworden. Ich gehe pro Tag zweimal eine Stunde spazieren. Auch Vitamin D soll gut sein (für alles). Der Kater hat mich noch einmal gebissen, im Vorbeigehen, an der Oberfläche leicht die Haut aufgerissen, wütend über meine streichelnde Hand. Er wollte weder menschliche Zuwendung noch menschliches Blut. Sondern sein Futter. Ich schnauze ihn an. Der Schnee gefällt ihm nicht. Mit seinen kurzen Beinen sinkt er ein bis zum Bauch. So ist das im Winter, sage ich. Und wenn du mich noch einmal beißt, dann ... Ja, was dann?
Sonntag, 31. Januar 2021
Atemmaskenschutz
Samstag, 30. Januar 2021
Atemschutzmaske
Es hat sich gelohnt: Tief Olaf beschert uns am Wattenmeer Schnee und winterliche Gefühle. Mir meine persönliche Morgengymnastik mit Schaufel und Besen. Der Vollmond steht unverdrossen hell am Himmel und die Nachbarn schlafen alle noch. Also arbeite ich ohne Atemschutzmaske und genieße die eiskalte Morgenluft in vollen Zügen. Während die leeren Züge der Marschbahn im Schnee steckenbleiben. Der Schutz in der Atemschutzmaske verdirbt das äthetische Gleichgewicht der Konsonantenhäufungen.
Freitag, 29. Januar 2021
Atemmaske
Ist die Maske für oder gegen den Atem? Unseren Atem? Man würde jetzt nur noch den eigenen Atem riechen, höre ich. Und was ist schlecht daran? An dieser Atemmaske? Dem eigenen Atem? Unter dieser Atemmaske? Wir sind alle gleich und für alles selbst verantwortlich, auch für Mundgeruch! Mich begeistert das Doppel-M in der Mitte dieser Atemmaske.
Nun hat uns auch der Niederschlag erreicht. Schnee fällt. Die Sonne, die den ganzen Tag nicht zu sehen war, geht bald unter. Das ist beruhigend.
Donnerstag, 28. Januar 2021
vollmondatmen
Vollmondatmen und durchstarten. Bei Vollmond kann man vieles machen und heilen. Die SUST hat ihren Abschlussbericht zum Absturz der "Tante Ju" im August 2018 unter dem Martinsloch veröffentlicht. Bei Vollmond kann man auch vieles nicht machen und nicht heilen. Die Schlaflosigkeit zum Beispiel. Oder die Selbstüberschätzung. Aber auch Warzen, Gürtelrosen und Altersflecken. Meist ändert der Vollmond das Wetter radikal. In die eine oder andere Richtung. Eine hochriskante Flugführung der Piloten führte zum Absturz. Sie flogen zu nah am Boden, zu langsam in ein zu enges Tal und verloren dort die Kontrolle über das Flugzeug. Warum und wie wes zum "Strömungsabriss" kam s.u. im Erklärvideo. Sie wollten die Gäste an Bord möglichst nah am Martinsloch vorbeiführen. Geübte Bergesteiger erklimmen es zu Fuß und steigen auf der anderen Seite wieder ab. Uns erreicht die Eiszeit, Dauerfrost, vom scharfen Ostwind getrieben, vor ihm fliehend, trappelnd, trocken, knackig. Vorläufig ohne Niederschlag.
Mittwoch, 27. Januar 2021
Atemstopp
Atemstopp ist so etwas wie Boxenstopp. Oder Wasserstopp. Papierstopp. Papier sei geduldig. Sagt man. Aber wer schreibt noch auf Papier? Nun habe ich gelesen - im Internet, am Bildschirm -, dass diese Redenart auf Cicero zurückgehe (ich liebe die indirekte Rede!). Cicero schreibt nämlich in einem Brief, auf eine Holztafel oder Wachstafel geritzt, denn Papier kannte er kaum: epistula non erubescit - der Brief errötet nicht. Cicero erwähnt mit keinem Wort das Schreibmaterial (Papier) und mit keinem dessen Wesen (Geduld). Cicero schreibt vom Brief (als Kommunikationsmittel) und dessen Scham(esröte). Reine Poesie! Die hohe Kunst der Literatur. Eine ins Bild gebrachte widersinnige Aussage. Der errötende / oder nicht errötende Brief. In der Verneinung steckt versteckt auch das Gegenteil. Der Brief, ein Abstraktum (im Gegensatz zum knisternden Pergamentbogen) kann natürlich keine Gefühle (zB vor Scham erröten) zeigen. Im Gegensatz etwa zum menschlichen Gesicht. Den rosigen Wangen. Es geht wohl um den Gegensatz von geschriebener Sprache zu gesprochener Sprache. Um die Kunst versus Alltag. Um Form versus Unform, das Gezügelte versus das Ungezügelte. Cocero kannte leider noch nicht den Spiegel der Gesellschaft dank social medias.
Dienstag, 26. Januar 2021
Atemschöpfen
Der Duden ist so etwas wie eine Schöpfwerk. Mit der Schöpfkelle hole ich Geschöpftes hervor. Schöpfkeulen.
Schreiben kommt von zeichnen. Und zeichnen von reißen. Im Englischen hat sich das Reißen durchgesetzt (to write), im Deutschen das Schreiben. Lat. scribere bedeutet eigentlich, sagt der Duden, mit dem Griffel eingraben, einzeichnen.
Bemerkenswert, sagt mein Unerschöpfliches Werk, sei die Nähe von Schreiben zu Literatur. Lat. litteratura (Buchstabenschrift, Sprachkunst), abgeleitet von littera oder litera (Buchstabe, Schrift, Aufzeichnung), sei wohl, vermutet das Werk, verwandt mit dem Verb linere (beschmieren). Wer von uns Schreibenden wurden nicht schon als Schmierfink beschimpft?
Litter ist Dreck, Müll und eines der modernen Lieblingswörter Helvetiens. Einschweizergedeutscht lautet das Verb littering - "Verschmutzen des öffentlichen Raums mit Privatmüll", mittlerweile eine Straftat.
Von litter zu letter (Druckbuchstabe) kommen wir über nur einen Vokalwechsel, ein fast unmerkliches Absenken der Zunge. Die Lettern gehörten aber einst den Druckern und ihren Händen. Als es noch Druckerwerkstätten gab und von Hand geschrieben wurde.
Die Bibel übrigens, eines der frühesten Druckerzeugnisse, hält mir für heute in meinem E-Mail-Postfach folgende Tageslosung bereit:
Ist mein Wort nicht wie ein Feuer, spricht der HERR, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt? Jeremia 23,29
Montag, 25. Januar 2021
in Atem halten
Und heute das: Schneegestöber und Sonne im Wechsel. Ich erwache aus meiner siesta, weil ich meine Mutter (gestorben vor etwas über 5 Jahren) höre. In ihrem unangenehmsten timbre, so wie sie immer klang, wenn sie mit ihrem Gatten, meinem Vater (gestorben vor fast einem Vierteljahrhundert) stritt. Sie stritten so gut wie immer und so laut wie möglich. Das Streiten schwoll akustisch an, bis es irgendwo oben im Dach an Sparren oder Ziegel stieß, sich entlud und mit verstärkter Kraft niederprasselte. Auf uns alle. So ein von oben herunterbrechendes Geschrei hat mich eben aus meinem Nachmittagsschlaf geholt.
Rundum ist alles still. Wie seit Wochen, Monaten. Ich bin so verwirrt, dass nicht mehr weiß, wo ich eigentlich bin. Das ist die Strafe aus dem Jenseits für ein paar aufmüpfige Sätze vor ein paar Tagen. Dass jeder Mensch, und vor allem jede Tochter, das Recht habe, ein Stück Leben ohne Mutter zu leben. Eine schallende Ohrfeige für meine stolze Einbildung. Dass ich mich aus "allen Verhängnissen herausgeschält" habe. Ich zitiere mich selbst am liebsten in der indirekten Rede.
Denn: dafür, dass der Streit zwischen den beiden auch drüben weiter geht, und von dort ab und zu die Schallmauer (m)eines Tagtraums durchbricht, dafür haben meine Geschwister gesorgt.
Sonntag, 24. Januar 2021
nach Atem ringen
Vor ein paar Tagen tobte und wütete Orkan Goran über unseren Dächern und Köpfen. Er richtete vergleichsweise wenig bis gar keinen Schaden an, raubte uns nur kurz den Schlaf und erfrischte die Atmosphäre. Fast zeitgleich rezitierte Amanda Gorman vor der Versammelten Welt ihr Gedicht zur Amtseinführung eines neuen Präsidenten. Wer es bis dahin nicht wahrhaben wollte, weiß nun um die Macht der Sprache. Sie erfrischt die Atmosphäre und raubt uns den Schlaf. Für immer.
Samstag, 23. Januar 2021
in einem Atem(zug)
Der Briefkasten ist voll wie schon lange nicht mehr. Was aussieht wie Werbung von der Post, erweist sich als "verzögerte Auslieferung". Ein großer Umschlag mit Briefen von sage und schreibe 2017! Die ich, oh Wunder!, zudem nie vermisst hatte. Wieviele solcher "für mich bestimmte" Sendungen irren noch in der Welt der analogen Kommunikation herum? "Während der Beförderung entwendet und nun aufgefunden", schreibt die Post im Begleitschreiben. Fragt sich tatsächlich: Wo? Wo entwendet und wo aufgefunden. Ein zweiter Umschlag mit Rechnungen vom Mai letzten Jahres. Auch nie vermisst. Weil dann eine Mahnung kam und ... In einem Atemzug holt mich alles Versäumte ein und ich hefte es der Ordnung halber ab. Das Überflüssige zu schreddern, bringe ich nicht übers Herz. Aus Mitleid mit einer Post, die bedauert und hofft, meines Vertrauens nicht verlustig gegangen zu sein.
Freitag, 22. Januar 2021
den Atem anhalten
Ich fahre nun also mit einer Medizinmaske zu meinem Hausarzt und hole die Bestätigung ab, dass ich gesund bin. Sogar mein Blutdruck hat sich erholt. Ich lebe wieder! Kaufe in der Apotheke für sündhaftes Geld weitere Masken und besorge im Futterhaus Biofutter für meinen Kater. Das Futter für mich wird im Laufe des Vormittags in der Biokiste an die Haustür geliefert. Der Tag verspricht pure Freude: Sonne, den Garten ausmisten, mit den Nachbarn plaudern, Nistkästen aufhängen.
Donnerstag, 21. Januar 2021
entgegenatmen
Dieses Verb habe ich bei Kafka wiedergefunden. Ich habe gerade viel Zeit, in alten Truhen zu wühlen. Entgegenatmen. Und zwar: in Tierhaltung! In der Erzählung "Auf der Galerie", die aus nur zwei Sätzen besteht. Aus einem langen. Und einem überlangen. Aus dem überlangen zitiere ich folgende Sentenz:
"... der Direktor, hingebungsvoll ihre Augen suchend, in Tierhaltung ihr entgegenatmet; vorsorglich sie auf den Apfelschimmel hebt, als wäre sie seine über alles geliebte Enkelin, die sich auf gefährliche Fahrt begibt ... " (Franz Kafka, Sämtliche Erzählungen, Fischer tb Ausgabe 1976, S. 129)
Mittwoch, 20. Januar 2021
B-Atmen
Es muss einer und einem doch vergönnt sein, ein Stück des Lebens allein, ohne die Eltern, ohne die Mutter, ohne die ständige Überwachung, neudeutsch Helikoptern, ohne fortwährende Konfrontation, ohne nervigen Wettlauf um Runzeln und anderes zu gehen. Ich habe gut reden. Ich habe mich mit Erfolg aus allen Verhängnissen herausgeschält. Zum Preis dessen, was wir nun alle mehr oder weniger un-freiwillig erleben: splendid selfisolation.
Ich stelle mir das entsetzlich vor. Zum Beispiel: wie Kafka im Grab des Vaters beigesetzt zu werden. Oder wie Highsmith nach dem Tod der Mutter nur gerade drei Jahre durchatmen zu können.
Dienstag, 19. Januar 2021
A-Atmen
Patricia Highsmith lebte von 1982 bis zu ihrem Tod in Tegna im Tessin. Für die Nordwestschweizer gilt das Tessin als Sonnenstube. Sie aber ließ sich ihr Haus an einem Schattenhang bauen, nach eigenen Plänen. Von außen sah es aus wie ein Bunker, sagen die Nachbarn. Innen aber soll es "cosy" gewesen sein. Die Sonne traf das Haus so gut wie nie, auch im Sommer nicht.
Patricia Highsmith überlebte ihre Mutter, von der sie sich ab Geburt "verraten" fühlte, nur um 3 Jahre.
Patricia Highsmith liebte (wenn ich das so sagen darf) an der Schweiz das Geordnete, Verlässliche. Für die Nordostschweizer ist das Tessin transmontan, jenseits der Berge, südländisch, laut und wirr, voller Tschinggeli, ungeordnet und unzuverlässig.
Montag, 18. Januar 2021
Atmen
Ich stolpere immer wieder über diverse Heils- oder Hiobsbotschaften im Netz. Nun habe ich einen vietnamesischen Qi Gong Lehrer entdeckt und mich daran erinnert, dass ich nicht zu den Fitness-Typen gehöre, die ihre täglichen Schritte zählen (und dann die Anzahl in ihrer community des Vertrauens öffentlich machen), Tracker am Handgelenk tragen oder um die Brust. Ich hüpfe meine tägliche halbe Stunde auf dem Trampolin nicht, um Fett zu verbrennen, sondern um den Lymphfluss anzuregen sowie die Glückshormone in mein Wohnzimmer einzuladen. Nun also: einfach atmen. Und erstmal stillstehen.
Sonntag, 17. Januar 2021
Atempause
4 Monate lebt nun der angriffslustige, elegant schwarzgewandete, (un-)musikalische Herr Caruso unter meinem Dach, bzw. vor meiner Küchentür. Er singt in den höchsten und klarsten Tönen, wenn er nach Futter verlangt. Gebissen hat er mich seit dem letzten Mal nicht mehr - nur einmal höflich angefaucht, so dass ich meine Hand rechtzeitig in gebührenden Abstand zu seinem wütend aufgerissenen Maul bringen konnte. Was ihn wieder derart aufgebracht hat, ist mir nach wie vor ein Rätsel. Gestern abend sassen wir friedlich nebeneinander auf dem roten Sofa, wie ein altes Ehepaar. Er hörte so aufmerksam und fasziniert zu wie ich. Aus dem Radio erklang eine elektro-akustische Komposition. Töne, die vier Unterwassermikrofone des Alfred-Wegener-Instituts im Weddellmeer aufzeichnen, in gebührendem Abstand kommentiert von der Stimme der Praktikantin: "Orca-Angriff. Seeleoparden,
Krabbenfresserrobbe und die absteigenden ,Chirps‘ der Weddellrobbe.
Plötzlich von fern das leise, hohe Klicken mehrerer Orcas, die mit
Echoortung jagen. Irgendwann peilt ein Orca eines unserer Mikrophone an.“ (Quelle: Dlf / In darkness let me dwell – Lieder aus der Finsternis)
Samstag, 16. Januar 2021
Atemzentrum
Michael Ernst von Essen. 1742 bis 1776 Kantor in Husum. Komponist. Theologe. Pädagoge. Musiklehrer. Organist. Dirigent. Von ihm ist eine einzige Komposition vollständig überliefert. Er muss viel mehr geschaffen haben. In Husum kam ein einzelnes Notenblatt, wahrscheinlich aus seiner Hand, zum Vorschein. Im "Einbandmaterial" eines Buches. Die Staatsbibliothek zu Berlin, Preussischer Kulturbesitz, Musikabteilung, bewahrt die "Partitur Reinschrift eines unbekannten Schreibers" auf, die nun Michael Ernst von Essen zugeordnet werden konnte. Eine Glückwunschkantate von 1738, entstanden also vor der Husumer Kantorenzeit des Musikers. "Schalle nur, beliebter Ton" für Sopransolo, zwei Violinen und Generalbass. Ich habe gerade die Erst-Uraufführung im Morgenradio gehört. Eingespielt vom Concertino Schleswig Holstein mit der Sopranistin Amelie Müller. Irritiert hat mich das Intro eines Musikwissenschaftlers des Nordens. Der sprach vom Glück, "einen jungen koloraturfähigen Sopran" für das Werk gefunden zu haben. Warum ist der Sopran männlich? Meines Wissens singen immer Frauen den Sopranpart und gibt es für sie vielfältige, einfache, ungekünstelte und korrekte sprachliche Bezeichnungen wie die Sopranistin, die Solistin, die Sopran-Solo-Sängerin ...
... und sehr hörenswert! https://calygram.com/project/concertino-schleswig-holstein/
Freitag, 15. Januar 2021
Atemschutz
Ich habe eine Anfrage bekommen. Jemand, den ich nicht kenne - nennen wir zur besseren Unterscheidung exemplarisch Autohändler - sammelt Autogrammkarten von Menschen aus dem ("im weitesten Sinne") öffentlichen Leben. Hmm. Es dürften, schreibt der Autohändler, auch Fotos sein, Visitenkarten, eine herausgerissene Tagebuchseite oder ein Buch mit Widmung ...
Auf meine Nachfrage verrät mir der Autohändler, er habe meine Kontaktdaten vom "Verein Autorinnen und Autoren der Schweiz". Hmm.
Der AdS ist ein Berufsverband von Schriftstellerinnen und Schriftstellern, literarischen Übersetzerinnen und Übersetzer. Er versteht sich als Interessenvertreter für die Sprache und das Schaffen von über 1000 Mitgliedern.
Hmmmmmmm ... Wenn der Autohändler von allen Mitgliedern des Ads, des VS, des PEN und und und ... ein Buch mit Widmung erbettelt, kann er sein Autohaus mit einer stattlichen Bibliothek aufputzen.
Würde es mir je in den Sinn kommen, einen Autohändler um ein Auto anzubetteln?
Donnerstag, 14. Januar 2021
Atem(ab)weg
Auf dem Wege des Atems. Herr Caruso ist für mich immer noch ein Mysterium. Manchmal, wenn er gefressen hat, liegt er schwer und matt an seinem Lieblingsplatz, weiterhin vor der Küchentür, in seinem warm ausgepolsterten Nest. Und atmet so laut und so tief, dass ich mich schon erschreckt habe. Ein Brummen, ein Stöhnen, ein Murren und Wälzen von wunderlichsten Tönen oder Steinen auf und ab der Abwege des Atems. Dabei scheint er vollkommen wohlauf zu sein. Sein Appetit ist ungebrochen. Wirklich satt ist er wahrscheinlich nur in dem Moment, in dem er seine Portion vertilgt hat und anfängt, sich zu putzen, eh er sich zum Schlafen hinlegt und sein Atem seltsame Abwege in das Innere der Seele oder des Magens nimmt.
Mittwoch, 13. Januar 2021
Atemlähmung
Neumond. Der erste des Jahres. In den letzten Nächten wurde es in der Tat immer dunkler, während sich die Tage nur zögerlich in die Länge ziehen. Ich lese in stockdunkler Nacht, dass Forscher bei der Braunen Nachtbaumnatter eine neue Fortbewegungsart entdeckt haben. Bislang sind Biologen davon ausgegangen, dass Schlangen - im Gegensatz zu Menschen - vier Arten der Fortbewegung beherrschen: kriechen, schlängeln, seitlich winden und über die Ziehharmonikatechnik vorwärts oder aufwärts kommen. Nun gibt es die fünfte: die Lassobewegung. Das ist schon erstaunlich - und wohl auch anstrengend: den eigenen Körper zu einem Lasso zusammenbinden und ihn aus eigener Kraft an einem Hindernis hochschwingen. Wie so oft fanden die Wissenschaftler, was sie gar nicht suchten. Sie wollten nämlich Vögel auf Guam vor dem Aussterben schützen, befestigten Nistkästen auf Metallröhren und stellten das Ganze mittels Kameras unter Rundumbeobachtung. Auf den Videos ist zu erkennen, wie es der Braunen Nachtbaumnatter gelingt, die Eier oder bereits geschlüpfte Küken trotzdem zu erreichen. Haben die Röhren einen Durchmesser von weniger als 15 Zentimeter, überwinden sie die Schlangen mit der Ziehharmonikatechnik. Mit dem vorderen Körperteil suchen sie Halt und ziehen den Rest nach. Sind die Pfähle dicker, umspannt sie die Schlange mit ihrem Körper, bindet Hinter- und Vorderteil zu einer Schleife zusammen, wie der Mensch den Bändel an seinem Schuh, und ruckelt sich dann, gebunden und geschliffen Millimeter um Millimeter hoch. Der Hunger muss groß sein, denn die Schlange verbraucht mehr Energie beim Ergreifen der Beute als die Beute selbst ihr zurückgibt.
Auch Strommasten erklimmen die Braunen Nachtbaumnattern. Sehr zum Leidwesen der Inselbewohner. Denn es kommt immer wieder zu Kurzschlüssen und Stromausfällen. Aber dann sind auch die invasiven und gefräßigen Nattern tot. Vom Stromschlag getroffen, an Atemlähmung krepiert.
Dienstag, 12. Januar 2021
Atemluft
Heute ein bisschen Sonne. Aber keine Klarheit. Ich schneide endlich die jedes Jahr wildwuchernde Clematis von der Hauswand. Sie ist längst ausgedorrt, dachte ich,jedesmal, wenn ich die Haustür aufschloss. Nun, bei näherer Betrachtung mit der Gartenschere saehe ich aber, dass sie im trockenen Inneren überall schon zu sprießen anfängt. Anfang Januar! Trotz Kälte und Wind! Verwöhnt von der Nähe zum Haus, geschützt vom üppigen Rhododendron. Es tut mir ein bisschen leid um die hoffnungsfrohen, frischen, jungen, grünen Triebe. Aber das Letztjährige muss einmal radikal weg und an die kahle Wand will ich einen kleinen Nistkasten nageln, der schon lange bereit steht. Für die Zaunkönige! Diese Vögel sind mindestens so klug wie ich und wissen, dass die Clematis sie schnell überwuchern und ihren Nachwuchs schützen wird. Nur muss ich einmal den richtigen Moment an der frischen Luft erwischen und in einer Sturm- und Drangpause mit Bohrer auf die Leiter steigen, zwei Löcher in die Wand bohren, zwei Schrauben eindrehen und den Königspalast in luftiger Höhe (nicht höher als 2 Meter) freigeben.
Montag, 11. Januar 2021
kurzatmig
Wir können einen kurzen oder langen Atem haben. Viel oder wenig aushalten. Zufällig und absichtslos bin ich im Netz - wo denn sonst, heutzutage? - auf die wohl seltsamste Todesanzeige gestoßen, die ich je gelesen. Der Verstorbene lebt seit fast 7 Jahren nicht mehr, er wird es mir verzeihen, dass ich in meiner Bestürztheit zitiere: "Leider holten ihn die Nöte seiner Kindheit ein und verdüsterten seine letzten Jahre." Was heißt das? Warum schreiben Kinder so etwas über ihren toten Vater? Oder hat er es selbst geschrieben?
Ich weiß, dass er Asthmatiker war. Viel mehr weiß ich nicht. Ich habe ihn vielleicht ein Vierteljahrhundert vor seinem Tod das letzte Mal gesehen. Ich weiß, dass er immer eher kurzatmig war, langsam, nie abgehetzt, schon mal keuchend oder pfeifend.
Das Netz, übrigens, ist auch ein seltsames Wort. Voller Löcher. Voller Luft. Voller Leere.Sonntag, 10. Januar 2021
atemverschlagen
Wenn es mir den Atem verschlägt, bin ich noch lange nicht atemlos oder leblos. Sondern nur ("nur"?!) sprachlos. Vor Begeisterung oder Entsetzen. Freude oder Trauer. Gut und Bös. Auch die Sprache lebt vom Atem. Meine Sprache lebt von meinem Atem. Poetischer ausgedrückt: vom Odem. Von der küssenden Muse.
Wenn ich (mit meiner Sprache?) jemandem den Atem verschlage, heißt das nicht, dass ich sie oder ihn töte. Es bedeutet nicht einmal, dass ich handgreiflich werde, zuschlage oder zudrücke.
Dürrenmatt sagt, eine Geschichte sei erst dann vollendet, wenn sie ihre schlechtest mögliche Wendung genommen habe. Das Leben ist auch eine Geschichte.
Samstag, 9. Januar 2021
Atemzug
Der Atemzug führt in die Tiefe. Immer ins Innere. Immer weiter. In den Tunnel. Auf der Einbahn des Atemweges.
Ich wusste nicht, dass Dürrenmatt seine erste Frau in den Selbstmord (misslungen) getrieben hat. In die Alkohol- und Nikotinabhängigkeit. In die Sucht. Bis zum letzten Atemzug.
Jetzt weiß ich es.
Freitag, 8. Januar 2021
Atemholen
Am 8. Januar 1967 um 04:20 Uhr starb Zbigniew Cybulski am Hauptbahnhof in Wrocław. Gerade erst 39 geworden, am Bahnsteig 3, eingeklemmt zwischen Bahnsteinkante und Fahrwerk des bereits ausfahrenden Zuges nach Osten, in die stolica (Hauptstadt). Diesen Zug wollte er im letzten Moment seines Lebens besteigen. Ganz außer Atem. Er war zu spät. Die Züge fuhren damals pünktlich los.
Cybulski war einer der ungewöhnlichsten Schauspieler Polens. 1965 spielte er in "Salto" (Regie + Drehbuch Tadeusz Konwicki) den Unbekannten, die Hauptfigur, die zu Beginn des Films irgendwo in der Provinz aus einem fahrenden Zug springt (s.u. - ein herrlich anachronistisches Video!) und anschließend ein ganzes Dorf in Aufruhr bringt.
Sie waren alle kleine Teufel zu jener Zeit. Mein Meister Konwicki. Seine literarischen Figuren. Die Verkörperungen seiner irren Phantasie auf der Leinwand. Am Set. Cybulski spielte (fast) immer mit Sonnenbrille, war immer in körperlicher und seelischer Unruhe, tänzelte, wirbelte, sprach in Halb- und Ganzsätzen, in atemberaubenden Tempo. Seine Augen sieht der Zuschauer selten, und wenn, dann verschattet. Die Filme waren schwarzweiß. Aber die Macher, diese kleinen und großen Teufel vor oder hinter der Kamera leuchteten die letzten finsteren Ecken der menschlichen Existenz aus. Ja, so war das damals.
Und heute? Heute erst ist mir bewusst geworden, dass der Todestag Konwickis (7.1.2015) nahtlos übergeht in den Todestag Cybulskis (8.1.1967). Es trennen die beiden tatsächlich nur ein paar Stunden. Eine kleine Verschnaufpause zwischen Mitternacht und Morgengrauen im atemlosen Lauf zum Bahnhof. Zum letzten (oder ersten) Zug in die Hauptstadt.
Donnerstag, 7. Januar 2021
Atemfrequenz
Am Ende des Lebens flacht der Atem ab. Die Frequenz nimmt ab. Der Mensch macht oder braucht weniger Atemzüge pro Minute. Bis er ganz auf das Atmen verzichten kann.
Die Tochter meines Meisters machte sich lange Zeit Vorwürfe, dass sie die Atemnot des sterbenden Vaters auf Anraten des Arztes mit einer geringen Gabe Morphium zu lindern versuchte. Der Sterbende beruhigte sich in der Tat sofort, erlöst von verschiedenen Reizen der Atemwege (wie Husten), den Druck auf der Brust loswerden zu müssen, um freier atmen zu können. Er beruhigte sich, der Körper hörte auf zu kämpfen, der Geist verlor bald das Bewusstsein und er schlief schließlich selig ein. In der Vollmondnacht. Am späten Abend des orthodoxen Weihnachtsfestes 2015. Die Tochter meines Meisters machte sich lange Zeit Vorwürfe, dass sie der Seele des Vaters nicht erlaubt hatte, clean in die Ewigkeit einzutreten.
Seither enden meine privaten Raunächte erst in der Nacht vom 7. Januar, kurz vor Mitternacht. Mit einer zusätzlichen, alle Not abwerfenden Meditation.
Mittwoch, 6. Januar 2021
Atemführung
Gleich schließen die Himmelstore. Sie öffnen sich erst Ende des Jahres wieder. Wie immer ziehe ich in der letzten Raunacht meine höchstpersönliche Jahreslosung. Denn ich selbst habe meine 13 Wünsche auf 13 Zettel geschrieben, deren letzter ich heute öffne. Die anderen 12, die ich in den letzen 12 Tagen gezogen und jeweils mit einer Nummer versehen habe, bleiben vorläufig unter Verschluss. Ende Januar öffne ich den zusammengefalteten Zettel mit der Nummer 1, Ende Februar den mit der 2 und so weiter durch das ganze Jahr hindurch. Ich überprüfe meine eigenen (Zukunfts-)Wünsche an der Wirklichkeit. So einfach ist das.
Oh nein! Die Jahreslosung haut mich jedesmal um. Es ist immer gleich: Ich öffne den letzten Zettel und schreie: "Oh nein!" Entsetzt. Das wollte ich doch gar nicht! Obwohl es mein eigener Wunsch ist, meine eigene Formulierung, mein eigenes innigstes Ich. Oh nein! Ein leichtes Stocken, Aussetzen des Atems ... und dann tief Luft holen. Und alles kommt wieder in die richtige Führung.
Oh ja! Natürlich! Es ist kein weiterer Wunsch da. Verfügbar. Nichts ist austauschbar oder ersetzbar. Es gibt keine Erstattung. Kein Rückgaberecht. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als meine eigene Jahreslosung anzunehmen. Oh ja.
Dienstag, 5. Januar 2021
Atemgymnastik
Wir können das Atmen auch üben, wie alles andere. Fit werden im Geist und im Körper. Mit oder ohne Luftholen. Das, was uns den Atem raubt oder verschlägt, ist nicht eindeutig todbringend. Ein Wunder, das Staunen, die Verblüffung, Überraschung. Oder der Knoten in den Lungenbläschen. Oder eine Schwäche des Herzmuskels. Letzterer kann durch Gymnastik wieder gestärkt werden.
Ich stärke mich mit einer Scheibe Joldelunder und streiche eine dicke Schicht des zähen Süderooger Halliggolds über die Butter. Wie Holger kürzlich berichtete, konnte das Celler Institut für Bienenkunde in seiner Analyse den größten Anteil der im Hallighonig enthaltenen Pollen NICHT bestimmen! Der Nektar bestehe zum Hauptteil von den Halligfliederpflanzen der Salzwiesen, welche die robusten Heidebienen auf Süderoog anfliegen können. Holger erklärt: "Pflanzen, die viel Pollen liefern, müssen nicht zwangsläufig viel Nektar bieten und umgekehrt." Die Pollen stammen nicht vom Halligflieder. Sondern von einem Nachtschattengewächs, aber von welchem? Über ein Jahr dauerte das Rätselraten und die Spurensuche über intensiven Mailverkehr von Imkern und Analysten. Bis Holger den Zaubertrick anwandte und einen Ausflug auf dem Rücken einer seiner Bienen machte ... mit dem Handy natürlich, um die Pflanze fotografieren und seine App befragen zu können: Es ist die Bocksdorne!
Die kurbelt nun meinen Atem auf Normalbetrieb runter. Oder hoch.
Montag, 4. Januar 2021
a tempo
Im gewohnten Laufschritt. Wir hören heute, was morgen beschlossen werden soll. Ach was. Wir hören schon seit einer Woche, was in einer Woche beschlossen werden soll. Mich betrifft das nicht, denn ich sitze sowieso zu Hause. In meinem von unten bis oben sauber geputzten, neu gestrichenen Haus. Mit ein bisschen Rückenschmerzen. Aber die rechte Hand trifft wieder die Linke hinter dem Rücken, wenn die Linke von oben zugreift und die Rechte von unten. Umgekehrt ging das immer. Dies sind die kleinen Erfolge im Leben einer alten Frau, die im Wohnzimmer statt eines Flachbildschirms mit garantiertem "Kinofeeling" ein Trampolin stehen hat.
Sonntag, 3. Januar 2021
Atemberaubend
Sonntag. Regen. Kein Licht. Was aber alles zum Vorschein kommt. Wenn einmal die Wände gestrichen sind und alles wieder an seinen Platz zurück finden will. Ich fülle die blaue Tonne (Papier!) und dränge andere Stapel unbesehen in die Ecken zurück, aus denen ich sie hervorgeholt habe. Ich höre im Hintergrund noch einmal Dürrenmatts Panne (die Radiomacher haben keine neuen Ideen mehr) und anschließend eine Sendung über den und mit dem Schweizer (zwei Stunden vorwiegend kommentarlos zusammengeschnipselte uralte Tondokumente), der übermorgen 100 Jahre alt geworden wäre. Ich wundere mich über die Schwerfälligkeit seiner Ausdrucksweise. Aber ein Satz setzt sich in meinem Hirn fest (aus dem Gedächtnis zitiert): die Literatur soll sich nicht mit der Literatur beschäftigen, sondern mit der Welt.
Samstag, 2. Januar 2021
Atemlos
Atemlos geht das Leben weiter. Ich streiche die Wände des Schlafzimmers und - da der Farbeimer immer noch nicht leer ist - seufzend auch das Arbeitszimmer. Ein Zimmer ist immer das letzte. Im Bad gibt es keine Wände zu streichen. Und im Arbeitszimmer hat sich am meisten Staub angesammelt. Seine Wände sind tatsächlich am schwierigsten zu erreichen. Trotzdem gelingt mein einziges Vorhaben für den Jahreswechsel: diesen verfluchten Farbeimer leerzukriegen ...