Wer Glück hat, guckt durch die Webcam auf den bröckelnden Hang über Brienz / Brinzauls und hört die Kirchenglocken. Entweder ihren Schlag zur vollen Stunde. Oder Angelusläuten. Betzeitläuten. Mittagsläuten. Aufstehläuten. Wetterläuten. Feuerläuten. Totenläuten. Mich mutet das etwas gespenstisch an. Natürlich läuft die Zeit auch in einem menschenleeren Dorf weiter. Sie schlägt die Stunde vom Kirchturm herab, unabhängig davon, ob in den Küche noch Suppe gekocht wird oder nicht. Aufgrund der Unruhe im Gelände steht auch dieser Kirchturm schon lange schief. Die Turmuhr wird seit 1933 elektrisch betrieben. Solange also Strom durchs Dorf fließt, schlägt uns Calixtus die Stunde.
Die Kirche St. Calixtus / Son Tgalester in Brienz / Brinzauls. Nur der wertvolle spätgotische Altar wurde kürzlich evakuiert und zusammen mit Mensch und Tier aus dem Dorf in Sicherheit gebracht. Den Flügelaltar zerlegten Studierende und Dozenten der Hochschule für Künste Bern gut vorbereitet sorgsam in Hunderte Einzelteile, verpackten sie stoßsicher in Kisten und transportierten diese ins Tal. Die Evakuierung des Altars dauerte drei Tage, so lange wie die von Mensch und Tier. Die Turmuhr zählte jede Stunde. Vorher und nachher. Der Altar soll nun umfassend restauriert werden.
Ein karolingisches Gotteshaus ist urkundlich aus dem Jahr 831 in Brienz nachgewiesen, lese ich. Schon damals rollten vielleicht ab und zu Steine vom Berg herunter. 1513 gab der Bischof von Chur die Erlaubnis, die alte (wohl baufällig gewordene) Kirche vollständig abzutragen und an ihrer Stelle eine neue Kirche mit quadratischem Turm zu errichten. Die wurde am 15. September 1519 durch den Predigermönch und Churer Weihbischof Stephan Tschuggli konsekriert. Wer auf die Idee kam, sie dem Papst und Märtyrer Callistus I zu weihen, weiß ich nicht.
Brienz brannte am 31.3.1874 fast vollständig ab. Es war der Montag nach dem weißen Sonntag. Die Brienzer Bauern löschten in Ermangelung von Löschwasser das Feuer mit Milch. Auch Sankt Calixtus brannte ab und die Glocken fielen vom Turm. Der Altar wurde beschädigt, konnte aber auch damals gerettet werden. 1878 wurden Rutschungen am Hang registriert. Die Felskappe oberhalb Brienz ist in Bewegung geraten und wird nicht mehr zur Ruhe kommen, bis sie abbricht. Trotzdem bauten die Brienzer ihr Dorf wieder in der Mulde der sonnigen Hangterrasse am Fusse des Piz Linard auf. Auch St. Calixtus / Son Tgalester. Die Kirche steht allerdings auf einem Felssporn. Immer schon. Und die Brinzaulser vertrauen auf Gottes - oder des Patrons - Gnade. 1912 fiel bei einem Totengeläut die große Glocke vom Turm. Der damals amtierende Pfarrer schickte erschrocken sein Stoßgebet gen Himmel und ließ es in Latein auf die neu gegossene Glocke einbrennen: «Lubrica saxa manu retine caliste potenti! Atque tuere tuum sancte patrone locum.» (Durch Deine mächtige Hand, Calixtus, halte zurück die schlüpfrigen Felsen und beschütze, heiliger Patron, diesen Ort).
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