Donnerstag, 4. Mai 2023

Der Novelle Meister und sein Stück

Der schreibenden Mutter, die mich kürzlich anfauchte, weil ich ihre Novelle kritisierte, sei's gesagt: das Wort "Novelle" auf dem Cover macht den Text noch lange nicht zu einer solchen. Nicht einmal wild kopulierende Protagonisten zwischen den Buchdeckeln erheben das Ganze aufs Pantheon (The Most Excellent and Lamentable Tragedy of Romeo and Juliet). 

Zur Nachhilfe kann Frau Mutter, wenn ihre Kinder endlich Ruhe geben, sich gerade am Abend ein Meisterstück vorlesen und sich vormachen lassen, wie Figuren modelliert und in ein soziales Spannungsfeld gepflanzt werden, in dem das tragische Ende unausweichlich bleibt. So bekommt sie ganz umsonst einerseits ein bisschen schreibtechnisches Rüstzeug und andererseits im allerersten Satz eine Lektion der Demut: "Diese Geschichte zu erzählen, würde eine müßige Nachahmung sein, wenn sie nicht auf einem wirklichen Vorfall beruhte, zum Beweise, wie tief im Menschenleben jede jener Fabeln wurzelt, auf welche die großen alten Fabeln gebaut sind." (Gottfried Keller, Romeo und Julia auf dem Dorfe.  Zitiert aus: Gottfried Keller Werke, Hrsg von Gustav Steiner. Birkhäusers Klassikerausgaben, Band 3: Die Leute von Seldwyla, S. 69)

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