Ich war bei einer sehr traurigen Lesung. Gewohnheitsgemäß reservierten mir die fürsorglichen Buchhändler den besten Platz. Aber wie peinlich! In einem fast leeren Saal auf den einzigen reservierten Platz zuzusteuern!
Im ersten Teil der Lesung kamen ständig Lippen vor. Oberlippen, Unterlippen, Mundwinkel, Tröpfchen, Speichel, Schweiss oder Teereste. Ständig wurden diese Lippen berührt, gesäubert, getupft. Ständig stach, was auf der Oberlippe wuchs, unangenehm ins Licht der Welt. Der Vorleser las nicht nur vor, sondern führte vor! Vielleicht bemerkte nur ich das auf meinem reservierten Thron. Sämtliche fiktionalen Bewegungen der Lippen seiner Figuren machte er nach! Ständig fuhren seine Finger beim Lesen in die eine oder andere Richtung an diesen sprechenden, tropfenden, schmachtenden Lippen entlang. Anfangs war ich fasziniert, dann ekelte es mich und schließlich fiel mein Augenmerk von den Lippen ab auf die Finger der Hand des Täters. Warum trägt der an jedem Finger beider Hände breite Silberringe?
In der Pause holte ich mir ein Glas Blauburgunder. Ohne Alkohol, gestand ich den Buchhändlern, die immer auch für Getränke sorgen, ist das nicht zu ertragen.
Nach der Pause ging es anders weiter. Anders peinlich. Nun standen die Nasen im Mittelpunkt. Aber ich war besessen von der Frage nach den Fingerringen. Natürlich wurden wir, das elende Häuflein im leeren Saal, zum Schluss aufgefordert, unsere Fragen zu stellen. Ich schämte mich und schwieg, bis die Mikrophone aus waren. Dann eilte ich nach Hause.
Herr Caruso wartet und der letzte Teil von "Am Abend vorgelesen". Werthers Leiden. Das Finale. Die Pistolen! Und die Schuld! Ich sinke auf mein rotes Sofa, der satte Kater gesellt sich schnurrend zu mir und ich atme auf. Der erste Bestseller der deutschen Literatur ist eben der erste Bestseller der deutschen Literatur. Obwohl Briefroman nicht zu vergleichen mit anderen Lippenbekenntnissen. Immer noch erstklassig! Angeblich war er damals nach dem ersten Erscheinen "Mitauslöser" einer sogenannten Lesesucht. Und selbstverständlich Hauptauslöser der bis heute grassierenden Nachahmungssucht.
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