Sonntag, 6. März 2022

Kiewer Rus

Als ich vor einer gefühlten Ewigkeit auf einem gefühlt anderen Stern Slavistik zu studieren begann, hat man uns als erstes mit dem Kirchenslavischen geplagt. Die Texte, über denen wir damals schwitzend saßen, stammten allesamt aus der Kiewer Rus, aus dem Kiewer Höhlenkloster. Ursprung der Sprache, der Literatur, des Glaubens war und ist - nicht nur im unschuldig naiven Beginn meines Studiums - nicht Moskau sondern Kiew. Die Taufe Russlands fand am Dnepr in Kiew statt und nicht an der Moskwa in Moskau und nicht auf der Krim! Moskau war damals, zur Hochblüte der Kiewer Rus, als Dichtungen wie das Igorlied entstanden, höchstens eine Ansammlung von Holzhütten, die der Goldenen Horde wenig entgegensetzen konnte und schon mal im Vorbeigehen abgefackelt wurde. Und Moskau war damals, als ich in Basel zu studieren anfing, das Machtzentrum der Sowjetunion, das mir über Jahre ein Austauschstipendium verweigerte! So what?

Der Kreml war immer ein politisches Zentrum, kein spirituelles. Heute sitzt dort der Herr der langen Tische und versucht mit langen Messern Unsterblichkeit zu erlangen. Der Patriarch der Russisch Orthodoxen Kirche sprach es heute in seiner Sonntagspredigt aus: dieser Krieg (er nennt das blutige Geschehen natürlich anders) habe keine physische, sondern eine metaphysische Bedeutung. 

Ja - denn in irgendeinem hoffentlich gut geschützten Keller in Kiew sitzt im Militärhemd ein kreativer Kopf, ein  Mann der Sprache, der Kultur, des Witzes, des intellektuellen und historischen Anstands und Weitblicks.

Die symbolische Botschaft hinter diesen Bildern stimmt. Darüber rollt nun eine leider nicht mehr aufzuhaltene Feuerwalze. Aber die Seele kann man weder verkaufen noch verbrennen noch versetzen noch umbenennen. Die Kiewer Rus bleibt die Kiewer Rus.

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