Donnerstag, 30. November 2023

Hustle Culture

Der letzte Tag des trübsten Monats des Jahres. Der Schnee von gestern hellt den Morgen auf und die zweistelligen Minusgrade den Geist. Die Biotonne habe ich über Nacht fürsorglich an die Wärme gestellt, in den Schuppen zu meinen beiden Fahrrädern. Trotzdem wird sie nun wohl am Straßenrand festfrieren, ehe das monströse Müllfahrzeug um die Ecke schwankt, wie ein besoffener Hund, sie aufgabelt, durchschüttelt und gegen alle Gesetze der Natur versucht, des gefrorenen Inhalts habhaft zu werden.

Zum allerletzten Mal, ich schwöre es, greife ich in meine Fremdwörterschatztruhe: "Die Hustle Culture beschreibt eine Lebens- und Arbeitsweise, die von einem intensiven unermüdlichen Streben nach beruflichem Erfolg und persönlichem Wachstum geprägt ist."

Also hart arbeiten, sich nicht ablenken, an nichts anderes denken, auf Herumlungern und Blödeleien verzichten, nie noch eine halbe Stunde liegen bleiben, wenn der Wecker schrillt, sich keinen Tag Urlaub gönnen, usw, usf. Sondern unablässig nach Höherem lechzen, nach Ruhm und Ehre, nach Gewinn und Optimierung.

Das Wort "Culture" ähnelt unserer Kultur. Kommt vom lateinischen Substantiv cultura - was soviel bedeutet wie Pflege, Bearbeitung, Bildung - und das geht zurück auf das Verb colere für pflegen oder verehren. Und was bedeutet unsere hochdeutsche Kultur? Wer erinnert sich noch an den Applaus in eiskalter Zugluft, an offenen Fenstern oder auf Balkonen für die Pflegekräfte zu Beginn der Coronazeit? Das ist die schöne, nicht nur deutsche Dankeskultur. Daneben gibt es die nicht nur schöne deutsche Begrüßungs- und Willkommenskultur, konterkariert von einer Politik, die "endlich im großem Stil" abschieben will und gleichzeitig ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz durchboxt. Irgendwie beißt sich hier die Katze in den Schwanz. Fremde werden gegen Fremde abgewogen und ausgespielt.

Der Duden sagt klar und deutlich, die Kultur (ohne Plural!) sei "Ausdruck menschlicher Höherentwicklung" (chapeau!), am Beispiel der abendländischen Kultur, der Kultur der alten Griechen oder Römer, der Kultur des Bierbrauens und Reimeschmiedens et cetera. Die Kulturen mit Plural kennen wir entweder nicht oder beziehen sich auf allzu Bodenständiges wie Bakterienkulturen, Pilzkulturen, Baumkulturen, Weinkulturen, Rosenkulturen ...

"Hustle" ist genau das, wonach es klingt: hasten, hecheln, haspeln (im Sinne von: etwas überstürzt tun oder sagen), und findet genau dort statt, wo es kein Entrinnen mehr gibt. Im altbewährten Hamsterrad. Oder in der Hölle daselbst.

Mittwoch, 29. November 2023

Buzzwords

Noch zwei Tage. Mit diesen fürchterlichen Wörtern. Mit dieser schrecklichen (deutschen) Sprache, die seit neuestem auch noch an allem Elend in diesem Land schuld sein soll. Zum Beispiel am Fachkräftemangel.

Zum Elend mit der Sprache gesellt sich das Elend mit dem Wetter. Über Nacht fiel fast ein halber Meter Schnee über mein Haupt, über mein Dach, über mein Leben. Der Kater ist in einem bemitleidenswerten Zustand. Den Spuren nach, die ich vergeblich suche, hat er die ganze Nacht das Haus nicht verlassen. Nach dem ersten Frühstück wartet er ungeduldig, bis ich ihm eine Bahn freischaufle. Der arme kleine schwarze Kerl versinkt ja vollkommen in der weißen Herrlichkeit! Und ist sich doch zu fein, ausnahmsweise heute mal sein zimmerwarmes Designerklo aufzusuchen.

Perspektivenwechsel. Vom Unappetitlichen zum Appetitlichen. Buzzwords sind Wörter die in aller Munde sind. Modewörter. Eintagesfliegen. Vielleicht auch Regionaltypen. Oder poetisch Honigtau. Heute ist Schnee in aller Munde, jedenfalls bei uns am Wattenmeer. Ich lese, dass Buzzwords "nicht substanzlos" seien. Der Schnee von heute ist nass und schwer. Sie (die Buzzwords oder Buzzwörter) könnten, lese ich weiter, "Visionen" entwickeln, "wichtige Ideen", "klare Identitäten" stiften, und die Gesellschaft zum Denken und Handeln anregen. Nun ja. Wir Nachbarn haben uns gerade alle zum Schneeschaufeln auf den Bürgersteigen vor unseren Häusern versammelt. Jede/r mit einem schalen Scherz auf den Lippen angesichts des grauverhangenen Himmels ... 

Wir werden also noch busy sein heute. Aber das Buzzword hat etymologisch nichts mit unserer Geschäftigkeit zu tun, es kommt vom englischen buzz. Und buzz ist den Kindern im Vereinigten Königreich das, was den deutschen Kindern August Heinrich Hoffmann von Fallerslebenso seit fast zwei Jahrhunderten so erklärt:

Summ, summ, summ,
Bienchen summ herum!
Ei, wir tun dir nichts zu leide,
Flieg nur aus in Wald und Heide!
Summ, summ, summ,
Bienchen summ herum!

Summ, summ, summ,
Bienchen summ herum!
Such in Blüten, such in Blümchen
Dir ein Tröpfchen, dir ein Krümchen
Summ, summ, summ,
Bienchen summ herum!

Summ, summ, summ,
Bienchen summ herum!
Kehre heim mit reicher Habe,
Bau uns manche volle Wabe,
Summ, summ, summ,
Bienchen summ herum!

Summ, summ, summ,
Bienchen summ herum!
Wollen bei den Christgeschenken
freudig deiner auch gedenken
Summ, summ, summ,
Bienchen summ herum!

Summ, summ, summ,
Bienchen summ herum!
Mit dem Wachsstock dann wir suchen
Pfeffernüss und Honigkuchen
Summ, summ, summ,
Bienchen summ herum!

Text: August Heinrich Hoffmann von Fallersleben 1835, Melodie: österreichische Volksweise

Dienstag, 28. November 2023

rizzen

Mon Dieu! Nicht ritzen - obwohl es wohl genauso ausgesprochen wird! Eher reißen. Aufreißen hätten wir das früher genannt, was heutzutage der Rizz (= Mensch, meist männlich, "mit besonderem Flirtfaktor", wahrscheinlich auch außerordentlichem Flirterfolg) tut. Das Wort (nicht der Mann) gehört zu den Top Ten der Jugendwörter des Jahres 2023, es ist also höchst aktuell und grammatikalisch virelfältig. Es kann als Substantiv verwendet werden: Er hat Rizz. Oder als Verb: Er rizzt. Aber gendermäßig ist es eindeutig diskriminierend.

Montag, 27. November 2023

Huelle

In Hülle und Fülle. Vollmond am Vormittag. Am frühen Nachmittag die knappe Nachricht im polnischen Kanal: Paweł Huelle nie żyje - Paweł Huelle lebt nicht mehr. Ist tot, heute gestorben, fast auf den Tag genau so alt wie ich. Ich habe ihn, wie viele andere, einstige Freunde, Kollegen, Weg- oder Schicksalsgefährten aus den Augen verloren. Ich höre eine kurze Viertelstunde polnisches Radio, höre Stimmen, gebrochene oder feste, die an ihn erinnern und an die ich mich erinnere, obwohl ich auch sie, die Menschen hinter diesen noch lebenden Stimmen aus den Augen verloren habe. Aber sofort wieder vor mir sehe. Pawła zresztą też.

Einst - und das ist lange her und seltsam genug, übersetzte ich das Drehbuch, das Paweł Huelle zusammen mit Klaus Richter und Cezary Harasimowicz für den Film nach der Erzählung "Unkenrufe" von Günter Grass polnisch schrieb - ins Deutsche zurück. So kompliziert wie dieser Satz war das Unterfangen, eine deutschpolnische Kooperation, wie man so schön sagt. Mit Matthias Habich und Krystyna Janda in den Hauptrollen. Eine polnischdeutsche tragische Liebesgeschichte. Wie das Leben und die Fiktion so spielt. Tempi passati. Trzymaj się tam, Pawle!

Sonntag, 26. November 2023

revanchieren

Revanchieren muss nicht negativ sein, obwohl es oft so verstanden und gemeint ist. Und weil lateinisch vindicatio oder vindicta in Richtung der Rache, Strafe oder Notwehr zeigen. Und das Verb vindicare genauso tendenziös ist mit ahnden, gegen jemanden vorgehen, einschreiten, bestrafen, tadeln, rügen. Es ist Sonntag und ich wollte eigentlich vor dem Wintereinbruch noch einmal auf die Leiter. Mich revanchieren - der Regenrinne erkenntlich zeigen. Einen Blick hineinwerfen und notfalls beherzt hineingreifen. Aber es gibt kaum Tageslicht. Es ist feucht und unfröhlich draußen.

Samstag, 25. November 2023

re-strukturieren

Sobald die Sonne scheint, wird der Tag auf den Kopf gestellt. Immer. Das ganze Jahr hindurch. Aber insbesondere in der dunklen Jahreszeit. Werden sofort alle Pläne umgekrempelt. Wird der Tag restrukturiert. Nicht rekonstruiert (er ist ja noch nicht vergangen). Auf Schreibtischarbeit verzichte ich solange es hell ist. Heute also ein letztes Mal Laub fegen. Den ganzen Rasen harken. Für den Rasenmäher ist der Boden bereits zu nass und das Laub zu zerstreut. Es hockt in den Büschen und fordert Handarbeit. Armarbeit. Rückenarbeit. In der Nacht gibt es Frost.

Freitag, 24. November 2023

stigmatisieren

Am Morgen nach der Chorprobe wache ich immer krank auf. Schon am Abend nach der Chorprobe fühle ich mich krank. Eigentlich werde ich regelmäßig während der Chorprobe krank, denn da wird nicht nur gesungen, sondern gehustet und geröchelt wie in einem Lungensanatorium. 

Husten ist das neue Stigma. Wer heute hustet, egal wo, nicht nur im überfüllten Probenraum, auch beim Bäcker oder Fleischer, wird wie ein Aussätziger beäugt. Feindlich. Misstrauisch. Ablehnend. Stigmatisiert eben.

Das Stigma, die Stigmata. Wie das Komma, die Kommata. Soviel zur Konjugation am Freitag.

Donnerstag, 23. November 2023

parasozial

Parasozial ist einseitig, nicht interaktiv, nicht gleichberechtigt. Das Phänomen ist nicht neu. Eine parasoziale Interaktion ist zum Beispiel das Gebet. Zum Lieben Gott. Oder die Zwiesprache einem Verstorbenen. Parasoziale Beziehungen sind auch nicht neu, aber gerade im Trend. Eine einseitige Beziehung zu einer öffentlichen Figur, das kann auch eine KI sein oder ein finsterer, resp. fiktiver Charakter. Künstler, Könner, Kenner. Aber auch die Blender, die Influencer, Podcaster, die Stars und Sternchen. Die Gelikten und Gehypten, die Geschminkten und Gelifteten. Die Gefilterten und die Gebräunten, Verblassten, Gestreckten. Die Verlorenen. Und die Gewonnenen

Interessant ist, dass die parasoziale Beziehung so einseitig ist, dass der/die Angehimmelte, die öffentliche Person, egal ob nur virtuell oder aus Fleisch und Blut, von den Anhimmelnden meist nicht den blassesten Schimmer hat.

Mittwoch, 22. November 2023

perrenieren

Manchmal sind Fremdwörter Glückssache. Perennieren gehört in die Botanik nicht in die Sexualkunde. Perennierende Pflanzen sind mehrjährige Pflanzen. Pflanzen also, die den Winter, die Kälte, den Frost überleben, und immer wieder, sobald die Temperaturen es erlauben, wieder aus dem Boden hervorkommen, wachsen, blühen, spriessen. Lateinisch perennis meint das ganze Jahr hindurch, von per (durch) und annus (Jahr).

Dienstag, 21. November 2023

insinuieren

Ein nebulöses Wort. Es kommt von insinuare wie einflüstern, sich einschmeicheln, sich hinein- oder vordrängen, eindringen. So etwas tun nur unsympathische Zeitgenossen. Und das gilt auch für die Zeitgenossinen. Sie insinuieren nonstop, leben in Andeutungen und Unterstellungen. Lassen etwas durchblicken und etwas anderes galant verschwinden.

Montag, 20. November 2023

Commitment

Nun bin ich also fest entschlossen, die neue Woche anzugehen. Warte auf das Tageslicht, eine längere Regenpause und die Öffnungszeit des Postschalters im Supermarkt. Ich glaube nämlich, sicher bin ich nicht, aber die Logik spricht dafür, dass Briefmarken nicht schon um 6 Uhr in der Früh gekauft werden können, Brot und Butter aber schon.

Ich vertraue dem Seelenplan (ha!). Denn auch das Wort Commitment kommt unverändert aus dem Englischen ins Deutsche marschiert, hat seine Wurzel aber im lateinischen committere (= anvertrauen oder überlassen, etwa zu getreuen Händen). Das Commitment ist wie die Verpflichtung oder die Entschlossenheit, das Engagement, die Hingabe. Mit der festen Absicht, etwas in die Tat umzusetzen.

Sonntag, 19. November 2023

Vibe

Dauerregen. bad vibrations. Wir sprachen früher die Wörter, wenn auch englisch, so doch bis zum Ende aus. Vollständig. Ganz. Das ist in Zeiten des Daumenschreibens nicht mehr zumutbar. Mehr als 4 Buchstaben schaffen zwei Daumen nicht. Mir fallen in diesem Zusammenhang die Daumenschrauben ein, die in der Folterkammer angezogen werden. Zur Wahrheitsfindung! Bei uns gab es auch good vibrations. Es gab sozusagen alles. Oder anders gesagt: alles war möglich. Ein sowohl als auch. Heute ist nur noch entweder oder angesagt. Und dies möglichst kurz und knapp. Mit höchstens 4 Buchstaben.

Die vibes in den Kehlen der Jugendlichen klingen wie die alten Weiber vom Dorfe. In meinen Ohren haben sie wenig mit Vibrationen, Schwingungen, Stimmungen, ach so ausgelassenen Gefühlen oder Schmetterlingen zu tun als eben den Weibern in der Frühmesse. Daran ändern auch ausschmückende Adjektive wie groovig oder chillig wenig. Der Dauerregen hebt die Stimmung nicht, reinigt aber die Luft.

Samstag, 18. November 2023

Othering

Othering klingt zu gut um wahr zu sein. Ein Euphemismus für Ablehnung, Ausgrenzung, Abgrenzung, Diskriminierung, Stigmatisierung, Marginalisierung. Wenn ich wollte und mich anstrengte, könnte ich noch viele drastische deutsche Wörter finden. Aber ich bin gerade auf dem Fremdworttrip. Oder eher auf dem Neuewörtertrip. Lerne täglich, wie das Jungvolk spricht.

Aber das englische Wort other geht tatsächlich auf die germanische Wurzel anþar zurück. Und so anders als anders klingt es in unseren überstrapazierten Ohren gar nicht.

Freitag, 17. November 2023

woke

Ohne dem geht gar nichts mehr. Wer nicht woke ist, hat verloren. Gilt als unsensibler sturer Bock oder als unsensible alte Kuh. 

Heute ist der Bundesweite Vorlesetag. Ein Vorlesefest, ein Volksfest, ein Kindergartenhappening. Meine Bücher sind endlich eingetroffen. Aber von meinem Schreibtisch verschwinden immer wieder die seltsamsten Dinge. Auf meinem Schreibtisch passieren immer seltsamere Dinge. Mit einer woke-Ideologie (puh!) hat das wenig zu tun, denke ich. Aufgeweckt war ich schon als Kind. Auch bin ich eine erprobte Brillenträgerin. Aber der Mars verschwindet gerade hinter der Sonne und in den nächsten Tagen ist Funkstille im All.

Donnerstag, 16. November 2023

Sisu

Finnland und die Überlebenskunst. Die Sisu ist keine Susi und erst recht keine Suse. Sondern ein Gesellschaftskonzept. Ein Kollektivwesenszug. Eine Schlüsselqualität der finnischen Tradition, der finnischen Identität, der finnischen Lebensfreude: Ausdauer. Beharrlichkeit. Mut. Innere Stärke. Äußere Stärke. Entschlossenheit. Unerschütterlichkeit. Die Sisu manifestiert sich zB im alljährlich wiederkehrenden Eisbaden. Historisch wird sie gerne am 105 Tage dauernden Winterkrieg 1939/1940 gegen die Sowjetunion festgemacht. 

Sisu nennen die Finnen auch einen ansonsten namenlosen Gipfel auf 4300 m in der Antarktis. Sisu ist von der amtlichen Kartographie der Vereinigten Staaten nie bestätigt worden und wir suchen diesen Namen vergeblich im GNIS (Geographic Names Information System). Eine finnische Träumerei also, wiewohl erstmals 1997 bezwungen und erklommen von Veikka Gustafsson und Patrick Degerman.

Mittwoch, 15. November 2023

Serendip

Serendip ist die alte, wie es heißt, wohl einst im Kreise von Seefahrern und Händlern übliche Bezeichnung für Ceylon, heute Sri Lanka. Die Insel war damals ein strategischer Knotenpunkt zwischen Vorder- und Südostasien. Ihr Name wurde stetig angepasst. Im Sanskrit heißt sie Simhaladvipa, die Inder nannten sie Singhala, Silan oder Sarandib - oder Serendib bzw Serendip, die Portugiesen Ceilão, die Niederländer und Briten Ceylon. 

In die Weltliteratur kam Serendip durch das persische Märchen über die Abenteuer der drei Prinzen von Serendip (erstmals aus dem Persischen - ins Italienische - übersetzt von Cristoforo Armeno Peregrinaggio di tre giovani figliuoli del re di Serendippo, veröffentlicht in Venedig 1557), die durch ihren Scharfsinn ua ein verloren gegangenes Kamel dank seines Wesens wieder finden - es lahmt, ist halbblind, und trägt auf seinem Rücken links Honig, rechts Butter (oder umgekehrt). In den englischen Sprachraum gelangte Serendip bzw dann serendipity dank Horace Walpole, der sich am 28. Januar 1754 in einem Brief an seinen in Florenz lebenden Freund über dieses alberne Märchen ausließ. In den Französischen Sprachraum trug es Voltaire 1747 mit seiner philosophischen Erzählung Zadig ou la destinée - Histoire orientale. In der Wissenschaft intergrierte es der amerikanische Soziologe Robert K. Merton mit seinem 1945 erschienen Werk The Travels and Adventures of Serendipity.  Eine deutsche Übersetzung des "albernen Märchens" gibt es mW nicht, hier steht nur die Serendipität im Fremdwörterbuch und meint so etwas wie die "glückliche und unerwartete Entdeckung von etwas Wertvollem oder Bedeutsamem, während man eigentlich etwas anderes sucht." Korrekter müsste die Definition mE heißen: während man gar nichts sucht. Belohnte Absichtlosigkeit. Als Beispiele werden angeführt: die Entdeckung Amerikas (statt des Seewegs nach Indien), die Entdeckung von Penicillin (durch die Beobachtung von Bakterien abtötenden Schimmelpilzsporen) oder der berühmten gelben Post-it-Zettelchen (durch Schaffung eines nicht ganz klebrigen Klebstoffs ...)

Auf mein Dasein am Wattenmeer übertragen bedeutet dieses kleine Weltreise folgendes: ich wollte heute endlich das Wohnzimmerfenster und die gläserne Terrassentür putzen. Dabei schien es mir vernünftiger, vorher die Regenrinne an der Südseites des Daches zu säubern, denn dabei kleckert es immer ziemlich unappetitlich. Um an die Regenrinne heranzukommen, muss ich auf die Leiter steigen. Um die Leiter aufstellen zu können, müssen Gartenbank, Gartentisch und diverse Pflanztöpfe weichen. Am Ende des sonnigen Mittags (gleich fängt es nämlich wieder an, ohn' Unterlass zu regnen) habe ich eine aufgeräumte Terrasse, abgeerntete unreife Tomaten (die auf dem Fensterbrett hinter der streifenfrei strahlenden Scheibe in der Nachbarschaft einiger Äpfel nachreifen können), entsorgtes Verdorrtes, zusammengekehrtes Staubiges, entleerte Regenrinnen auf der Süd und Nordseite des Daches (wenn ich schon die Leiter bemühe ...), sowie wie gesagt zwei wieder durchsichtige Fenster!

Dienstag, 14. November 2023

prosperieren

Prosperieren kann auch in diesen Zeiten nicht verkehrt sein. Sich gut entwickeln, vorankommen, positiv denken, Veränderungen nicht negativ gegenüberstehen. Die Wirtschaft sieht prosperieren nur als Gewinn. Im Sozialismus waren es die Normübererfüllungen. Politik haben nur ein Bestreben: den Erhalt der Nacht, also kein Nachlassen der Wählergunst. Prosperieren auf Kosten der Anderen. Einst waren florierende Landschaften in aller Munde, dann die Biozönose der Streuobstwiesen, heute sind bestenfalls noch ungemähte Ackerränder zu sehen oder in Dithmarschen windresistente Knicks.

Herr Caruso sieht wieder etwas molliger aus. Ein euphemistisches Kompliment für ein zähnefletschendes Raubtier. Hat der Kater zugenommen, ist es Ausdruck seines persönlichen Karriereerfolgs (fette Beute eingeholt, Winterspeck angesetzt) oder einfach das Winterfell, dass er sich nun aus gutem Grunde zulegt?

Montag, 13. November 2023

filibustern

Neumond! Wie nicht anders zu erwarten. Am Himmel herrscht noch Gerechtigkeit. Laut Duden ist der Filibuster jemand, der "in seinen Aktionen einem Freibeuter oder Partisan vergleichbar" ist. Aber das, was er tut, sprachlich meine ich, filibustern nämlich, bedeutet "Zeit schinden". Etwas hinauszögern, gerade in der Politik. Etwa durch "marathonartiges Reden". Oder durch das, was der polnische Präsident gerade der ganzen Welt vorführt: den Regierungsauftrag einer Partei geben, die keine Regierung bilden kann, weil ihr 1. die Mehrheit, 2. die Freunde fehlen. 

Ich wandle nur auf den Wegen der Wörter und verstehe nicht, wie das filibustern von der hohen See in die hohen Hallen der Parlamente moderner Demokratien kommt. Angeblich über den Niederländischen vrijbuiter (= Freibeuter). Der, sagt der Duden, gehe zurück auf den mittelniederdeutschen vrībūter (= "Schiffsführer mit Vollmacht zum Kapern"), aus vrī wie frei und būte wie Beute. 

Ist denn, frage ich mich, auch Zeit eine Beute? 

Die vrībūte soll eine "freigegebene Kriegsbeute" gewesen sein. Im Krieg erbeuten die tapferen Krieger so allerhand, wie wir gerade täglich in den Nachrichten live mitverfolgen können. Aber von Zeit als Beute habe ich noch niemanden sprechen gehört. Nur von Zeit als Spiel. Im Spiel, vor allem im dreckigen, kommt Zeit vor. Als Trumpf. Böse Zungen behaupten, der filibusternde polnische Präsident verschaffe der früher oder später abtretenden Garde Zeit fürs Reinemachen. Nun nimmt der Mond wieder zu!

Sonntag, 12. November 2023

Diwali

Das hinduistische Lichterfest Diwali, Dipavali, Deepavali oder eben Tihar in Nepal ist in vollem Gange. Kathmandu schickt Glückwünsche in die Welt: Wishing You Happy Tihar 2080. Ich reibe mir die Augen und frage nach. Ja, nach Vikram Sambat oder Bikram Sambat (orthographier Variante?) beginnt heute in Nepal das Jahr 2080 und das 21. Jahrhundert. Ich verstehe nichts. Keine Erleuchtung!

Vikram Sambat ist ein reiner Mondkalender und hat gegenüber dem gregorianischen einen Vorsprung von ungefähr 56 Jahren und mehr oder minder 8 Monaten. Zeit ist relativ und Mathematik reine Glückssache.

Nach dem anderen Kalender, dem Nepal Sambat begann aber am 20. Oktober das Jahr 1143 (oder doch 1144?)

Und: Diwali findet immer zu Neumond statt. Immer am 15. Tag des Hindumonats Kartik. Immer 20 Tage nach dem wichtigsten, höchsten religiösen Feiertag Dashahara, in Nepal Dasai oder Dashain.

Auch die Tarotkarten zeigen Licht. Obwohl es draußen längst stockdunkel ist.

Samstag, 11. November 2023

dilettieren

Der Dilettant oder die Dilettantin dilettiert: tut etwas ohne fachliche Qualifikation, stümperhaft aber oft mit beneidenswerter Leidenschaft! Der Filettant oder die Filettantin filettiert: schneidet Filetstücke aus den zarten Lenden von geschlachteten Tieren, natürlich routiniert und ohne Ekel, aus Rindern, Kälbern, Lämmern, Pferden, Hühnern, Fischen uva. Ist aber der Filettant ein Möchtegernsternekoch oder einfach nur Zeitarbeiter resp. Zeitarbeiterin im Schlachthof? Der Duellant oder die Duellantin duelliert, assistiert von einem Sekundanten oder einer Sekundantin. Ein anachronistischer Versuch, die eigene Ehre (nicht das eigene Leben!) zu retten, meist in einer nichtigen Sache.

Sprachgeschichtlich interessaant ist einzig die Bedeutungsverschiebung beim Verb dilettieren, das auf ital. dilettarsi (= sich erfreuen) resp. lat. delectare (= erfreuen, amüsieren - was uns wiederum in die Küche zu den Tanten führt: der Feinschmeckerneffe delektiert dort gerade ein saftiges Filet Mignon) zurückgeht.

Freitag, 10. November 2023

Kaag Tihar

Ab heute wird in Nepal Tihar gefeiert, das Fest der Lichter, der Sieg des Guten über das Böse, der Triumph der Erkenntnis über die Unwissenheit. 5 Tage lang. Der 1. Tag, also heute: Kaag Tihar - ist der Krähe geweiht. Der 2., morgen: Kuku Tihar - dem Hund, der 3., übermorgen: Gai Tihar - der Kuh und der Göttin Lakshmi, der Göttin des Wohlstands, des Glücks, der Liebe uva, der 4., überübermorgen: Goru Tihar -  dem heiligen Ochsen sowie den Bergen und der Reinigung unserer Seelen. Der 5. und letzte Tag, Bhai Tika - ist der Beziehung unter Geschwistern geweiht und so endet das Fest überüberübermorgen. In der Harmonie der Familie.

Donnerstag, 9. November 2023

arrivieren

Eine arrivierte Person hat es, vulgo, "geschafft". Was auch immer. Emporzukommen. Aufzusteigen. Finanziell. Gesellschaftlich. Politisch. Auch ein Gauner kann, in seiner Schicht, arriviert sein. Oder der Staatsfeind Nummer Eins. Beispiele gefällig?

Dabei bedeutet arriver französisch einfach ankommen. Zum Beispiel mit dem Zug, oder aber auch zu Fuß, per Flugzeug oder Raumsonde, von A nach B reisen und dort ankommen. Aussteigen. Die frische Luft oder die Milchstraße geniessen, den Blick auf den blauen Planeten. Oder romantisch die Liebste in den Arm schließen. 

Wer arriviert ist, wissen oft die anderen besser als die arrivierte Person selbst. Seltener wird nach den geografischen Koordinaten gefrat.Wo oder wohin die Person arriviert ist. Ob Lina Bögli 1914 in Herzogenbuchsee (im Volksmund: Buchsi) angekommen, heimgekehrt, zurückgekommen also arriviert ist, oder doch eher 1897, genau in der Mitte ihrer 10-jährigen selbstauferlegten Verbannung aus Europa auf Hawaii, wo sie zur ersten Lehrerin für moderne Sprachen am einzigen Gymnasium der ganzen Inselgruppe ernannt wurde?

Laut Duden gelangte das französische Wort arriver über das vulgärlateinische arrīpāre (aus*adrīpāre), das seine Wurzel im lateinischen rīpa (= Ufer) hat ins Deutsche. Gut deutsch arrivieren oder arriviert meint eigentlich ans andere Ufer gelangen resp. am anderen Ufer angekommen sein.

Mittwoch, 8. November 2023

inspirieren

Auch inspirieren hat etwas von einem Hauch, vom göttlichen oder ungöttlichen, engels- oder teufelsgleichen, wohlriechenden oder durch Umweltgifte verpesteten. In jedem Fall aber geheimnisvollen. Woher die Inspiration wirklich kommt, wenn sie als Sache wahr und wahrhaftig wird, vermag wahrscheinlich kaum jemand sicher zu sagen. Etymologisch kommt sie natürlich aus dem Lateinischen, inspiratio = die Einhauchung.

Die Oschwanderin Lina Bögli brach am 12.7.1892, im zarten Alter von 34 Jahren, im "österreichischen" Krakau zu ihrer zehnjährigen Weltreise auf. Im Bericht über diese Reise, der als Buch vorliegt, schreibt sie, Anlass zur Reise sei "eine Fügung des Schicksals" bzw die Einsicht gewesen, dass "das Leben oft furchtbar leer und farblos" sei. 1914, am 1. Oktober - kurz nach Ausbruch des ersten Weltkriegs, Lina Bögli war bereits für immer in die Schweiz zurückgekehrt und lebte in Herzogenbuchsee im "Kreuz" in dem Zimmer, in dem ich kürzlich übernachtete - vertraut sie ihrem Tagebuch an, dass die "Fügung des Schichsals" Männergestalt hatte und in der Uniform der k.u.k.-Armee steckte. Lina Böglis Schicksal war in der Tat ein polnischer Offizier im Dienst des österreichischen Kaisers, der angeblich in den ersten Kriegstagen gefallen war, tatsächlich aber den Krieg in russischer Gefangenschaft überlebte, den sie, die Schweizer Lina "aus lauter Liebe nicht heiraten wollte, um seine Karriere nicht zu zerstören, der sozusagem mein Schicksal wurde, weil ich, ohne ihn gekannt und geliebt zu haben, nie an eine Weltreise gedacht hätte, da ich ja nur fort ging, um mich vor ihm und mir selber zu flüchten." 

Also nix von einem Leben, das "furchtbar leer und farblos" war. Sondern das glatte Gegenteil. Emotionales Achterbahnfahren!

Am 2.7.1916 notiert sie im Tagebuch: "Heute sind es 24 Jahre her, dass ich die Inspiration zu m. Weltreise empfing, und den ersten Schritt dazu tat." Zehn Tage später, am 12.7.1916: "Heute vor 24 Jahren habe ich meine Weltreise angetreten." Und am 17.7.: "Heute vor 24 Jahren segelte ich auf dem Ballarat von Europa ab." Kein Wort mehr von dem Mann und der Liebe, dafür aber die Inspiration, die sie "empfangen" habe.

Damit überträgt sie die Verantwortung für ihr Tun vom Bekannten (dem Geliebten, der bereits eingestandenen Flucht vor ihm und sich selbst) auf ein Unbekanntes (Gott? das Universum? die Vorsehung?) und verklärt es. Überhöht es in geradezu ikonografischem Übermut, in einer manieristischen Anspielung auf die unbefleckte Empfängnis.

Eine interessante Wendung im fürsprechenden und fortschreitenden eigenen Erinnern.

Dienstag, 7. November 2023

manierieren

Die Tücken der Mittagsstunde oder der Kochshows. Manieriert ist nicht mariniert. Der Manierismus ist ein Kunststil. Groteske Ornamentik. Überfülle an Metaphern. Künstliche Einheit von Ungleichartigem usw. Eine Kunstepoche am Übergang von Renaissance zu Barock. Die Marinade ist das glatte Gegenteil davon, trotz eines vornehmen Hauchs der haute cuisine. Bei uns liegt die Marinade meist im Kühlregal des Supermarkts. Ich meide sie wie der Teufel das Weihwasser. Sie lullt Fleisch oder Fisch ein, verleiht Saft, Duft und Farbe, versaut aber nicht selten die Einkaufstasche, den heimischen Gartengrill sowie das Verhältnis zu den Nachbarn. Wiewohl die französische Marinade natürlich viel vornehmer klingt als die bäuerische Beize.

Der Manierismus hingegen kommt aus dem Lateinischen, wie alles Gelehrte und hat eigentlich mit manus (= die Hand) zu tun. Das Handgemachte bzw in die Hand passende. Die manière (da sind wir wieder vornehm) in Richtung Manie. Das Manierierte hat heute einen ähnlich schalen Nachgeschmack wie manche Marinade. Und das Verb manierieren gibt es gar nicht. Aktiv kann diese Kunstform nicht (mehr) betrieben werden. Das scheint irgendwie sogar logisch im 21. Jahrhundert. Sie bleibt ein Resultat der passiven (abwertenden: verächtlichen, spöttischen) Betrachtung. Seltsam, nicht? Letztlich hat das eine - der Manierismus - wie das andere - die Marinade - wenig mit Handwerk oder Kunst zu tun. Lest mal die Zutatenliste und versucht sie zu verstehen!

Montag, 6. November 2023

up and skirt

Das Upskirting. Novembertage am Wattenmeer sind wahrlich nicht dazu gemacht. Niesel und Sturm. Wir verlassen unsere Häuser nur gut eingepackt. In Daunen und Wolle, Watte und Stiefel, Mütze und Hose. Upskirting hat bei uns nichts zu suchen. Obwohl der Wind unser ständiger Begleiter ist. Auch ohne Abluftgitter, ohne U-Bahnschächte, ohne Hochhausschluchten treibt er seine Faxen mit uns. 

Die ganze Welt kennt den sogenannten Monroe-Effekt. Marilyn Monroe hob es vor aller Augen bei den Dreharbeiten zum Film The Seven Year Itch an der Lexington Avenue, zwischen der 52nd und 53nd Street in NYC ihren - natürlich! - schneeweißen Rock. Es geschah vor etwa 70 Jahren und einer, Sam Shaw, knipste, obwohl die Kamera lief. Wegen der überlauten Hintergrundgeräusche war die Aufnahme für den Filmn unbrauchbar und musste im Studio nachgedreht werden. Shit happens.

Heute ist Upskirting illegal. Ein Straftatbestand. Damals in NY war es höchstens anzüglich und gemacht. Inszeniert. Ein PR-Gag. Wohl soll darüber die Ehe der Monroe mit einem Baseballspieler zerbrochen sein, aber niemand wurde vor Gericht gestellt. Heute gilt es als "sexuelle Belästigung, wenn Bilder unter dem Rock oder unter dem Kleid einer Person (sprich: einer Frau) - ohne deren Zustimmung! - gemacht werden.

Up and skirt - ein Unding. Ein Unwort. Aber eine Straftat, obwohl Undeutsch.

Sonntag, 5. November 2023

konfligieren

Konfligieren - mit etwas in Konflikt geraten. Mit sich selbst, mit dem Gesetz, dem Gesetzgeber, mit dem Gegenüber, einem Fremden, Freunden oder wem oder was auch immer. 

Auch Dinge können aneinander geraten. Mit sich selbst im Widerspruch stehen. Werte können konfligieren. Causae confliguent inter se. Lateinisch confligere bedeutet zusammenschlagen (aber nicht im Sinne von verprügeln sonder eher von Auffahrunfall), zusammenstoßen, kollidieren, verschiedene Meinungen oder Vorstellungen haben, verschiedener Ansicht sein, in Kampf - oder eben Konflikt geraten, kämpfen. Sich reiben aneinander. Sich auseinandersetzen. Aber nicht: sich entfernen. Nicht auf Distanz gehen und weiter weg voneinander sitzen. Nein, im Gegenteil: aufeinanderprallen. In Widerstreit stehen. Oder im Widerspruch oder Gegensatz. Aber ganz nah beieinander. Den heißen Atem des anderen spüren und seinen Mundgeruch.

Samstag, 4. November 2023

volvere

volvere - rollen, wälzen. Was derzeit auf dem Rollfeld des Hamburger Flughafens passiert, ist das Gegenteil davon. Stillstand. Sperrung. Starts und Landungen seien derzeit "nicht möglich" teilt der Flughafen auf seiner Website mit. Tausende Reisewillige werden zum Dableiben gezwungen und in ein nahe gelegenes Hotel "evakuiert". Und das alles, weil ein Vater mit einer Mutter um das Sorgerecht eines gemeinsamen Kindes kämpft. Offenbar mit Gewalt und unter den Augen der Weltöffentlichkeit.  

Das Substantiv dazu, die Volte wäre die Drehung, ein unerwarteter Schachzug. Die glückliche Wende (zum Guten oder Besseren). Sie kann aber auch ein Manöver bedeuten, ein geschickter Schachzug mit Hintersinn oder Hinterlist. Ein Ausweichmanöver, die Täuschung des Gegenübers.

Wir werden sehen.

Freitag, 3. November 2023

up and down

Back to deutsche Sprache! In Jajartkot bebt die Erde. Himalaya by night. Nepal by night. Die meisten Menschen reißt das Beben aus dem Schlaf. Und viele in den Tod. 23:47 Uhr Ortszeit, ca 19:02 Uhr am Wattenmeer. Bis die Meldungen bei uns eintreffen, kommt für viele in den unwegsamen Gebieten jede Hilfe zu spät. Straßen sind verschüttet, aber in die meisten Bergdörfer gelangt man auch an normalen Tagen nur zu Fuß.

Morgen, oder übermorgen werden offizielle Zahlen genannt: 157 Menschen sind in den Trümmern umgekommen, Hunderte verletzt worden, 910 Häuser ganz zerstört, 2861 nur zum Teil, was aber weder Trost noch Sicherheit bringt. Die Wanderarbeiter waren gerade rechtzeitig zu den Vorbereitungen für Tihar (= die Reihen der erleuchteten Lampen, Lichterkette), das hinduistische Lichterfest, zu Hause bei ihren Familien eingetroffen.

Donnerstag, 2. November 2023

explere

Noch einmal ein bisschen Latein. explere = ausfüllen, beendigen, vollenden. Promissum explere = sein Versprechen erfüllen, famem explere = den Hunger stillen, opus explere = seine Arbeit verrichten. Oder sortem explere = den Spruch des Orakels erfüllen. Also das Schicksal in die Hand nehmen. Wieder: sein Werk vollenden. Und supremum diem explere = sterben. Den letzten Tag beendigen. Formvollendet.

Das Substantiv dazu aber, das Expletiv ist in der deutschen Grammatik ein "für den Sinn des Satzes entbehrliches Füllwort". Also Überflüssiges. Staubaufwirbelndes. Luftnummern. Nebelkerzen. Früher Abtönungspartikel. Was er (der der Sprache Mächtige) - oder sie (die Grammatik) sich wohl dabei gedacht hat?

Sturm zieht auf von Süd. Emir. Oder Ciaràn. Und dann ganz einfach Fred. Von nebenan.

Mittwoch, 1. November 2023

tribalisieren

Allerheiligen in Dithmarschen. Der Duden kennt das Verb tribalisieren nicht, aber ich sehe nicht ein, warum Tribalisierung (eigentlich so etwas wie Stammesbildung von Bevölkerungsgruppen in einem Mehrvölkerstaat) nicht auch als Verb funktionieren soll. Subgesellschaften bilden - durch politische, moralische oder weltanschauliche Ansichten. Fern oder nah aller Logik. Oder Subkulturen durch spezifische Klamotten, Umgangsformen oder Musikvorlieben. Fern oder nah aller Moden. Zum Beispiel. Der Duden nennt das "[oft nur kurzfristiges] Sichzusammenschließen in Gemeinschaften mit gleichen gruppenspezifischen Verhaltensnormen, eigenen Zeichen- und Sprachcodes, eigener Kleiderordnung u. Ä. (als Ersatz für andere fehlende soziale Gefüge)." In den Klammern steht meist das Wichtigste.

Ich habe im Radio einen Bericht darüber gehört, wie kurzlebig unser Gedächtnis ist - am Beispiel der Corona-Pandemie. Dass viele Vertreter und Vertreterinnen der damals sich so extrem verfeindet gegenüberstehenden Gruppen heute nicht mehr sagen können, was sie damals und vor allem früher, also vor der Pandemie, eigentlich dachten. Und warum. 

Ob Verb oder Substantiv: Tribalisierung stammt (!) etymologisch von lat. tribus (Stamm, Sippe) ab, was sich dort, wo lateinisch gesprochen wurde, immer auf Untergruppen des römischen Reiches bezog. Interessant, nicht?