Die Farbe Zyklamrot ist so undefinierbar wie die Zyklame. Das Alpenveilchen! Es gedeiht nicht (nur) in den Alpen, sondern in allen vorweihnächtlichen Wohnzimmern. Es mag allerdings keine direkte Sonne, aber die Gefahr besteht derzeit nicht. Die Zyklame oder Cyclame blüht in allen Rottönen bis hin zu zartrosa oder weiß, aber auch purpur, karmesin oder karfunkel. Da aber alles an diesem Blümelein giftig ist, nicht nur die Knolle, kommt mein Haus ganz ohne das Zyklamrot aus. Aber meine Schreibtischschublade, in der ich gerade nach etwas anderem grabe, präsentiert mir zu meiner großen Überraschung inmitten aller Bleistifte einen Rotstift, in Versalien zweisprachig beschriftet mit punkt-, strich-, sternengenauer Registriernummer: KADMIUMROT MITTEL, MIDDLE CADMIUMRED 8200-217**
Dienstag, 30. November 2021
Zyklamrot
Montag, 29. November 2021
Zypergras
Zypergras ist die vornehme Umschreibung für das gemeine Katzengras. Herr Caruso ist in dieser Hinsicht selbstgenügsam. Selbstversorger. Er holt sich das Gras in meinem Garten. Nun habe ich den Garten winterfest gemacht. Alles Laub vom Rasen entfernt, alle Regenrinnen von Laub und Moos befreit, ungeplant die Wohnzimmerfenster von aussen geputzt. Aus reiner Faulheit. Um die Leiter aufstellen und zur Dachrinne hocklettern zu können, musste ich Töpfe, Tische und Bänke wegrücken. Da glotzten mich dann die freiliegenden Scheiben erwartungsvoll an. Nicht blind! Nachtblind! Nun denn, seufzen mein armer Rücken, das steife Kreuz, die klammen Finger ... ran an die Arbeit. Vor Sonnenuntergang muss ich noch die letzte Packung Winterrasendünger versprengen. Damit Herr Caruso weiterhin etwas zu knabbern findet draußen.
Sonntag, 28. November 2021
Zyklus Zwo
Erster Advent. Ein neuer Zyklus beginnt. Der erste Sonntag im neuen Kirchenjahr. Wir beginnen mit Warten. Warten auf die Ankunft des Herrn. Adventus Domini. Wir, die wir an diesen Herrn explizit glauben und bis in alle Ewigkeit warten, worauf auch immer. Auf Erlösung, himmlische Heerscharen oder gerechtes Schmoren im Fegefeuer. Oder wir, die wir an diesen Herrn explizit nicht glauben. Auch wir warten bis in alle Ewigkeit, worauf auch immer. Auf irdisches Glück, das Recht auf Selbstverteidigung, den WSV, den nächsten Lockdown, die Après-Skisaison, den Steuerbescheid, den Rentenbescheid, das Todesurteil ...
Was auch immer uns erwartet, bis endlich die Tage wieder länger werden: Ich nutze die Zeit und lerne fleißig. Kritzle an den Buchstaben des griechischen Alphabets. Und frage mich, warum in der gegenwärtigen (vorweihnächtlichen?) Aufregung auf Delta in aller Munde Omikron folgt? Wo sind Epsilon, Zeta, Eta, Theta, Jota, Kappa, Lambda, My, Ny, Xi abgeblieben? Wer unterschlägt sie uns und weshalb?
Samstag, 27. November 2021
Zyklus
Ein Zyklus ist beendet. Die Edelkastanie hat die letzten Blätter abgeworfen. Dauerregen spült alles runter, was sonst noch oben klebt, dann geht er über in Schnee. Die Nistkästen sind beim ersten Sommersturm heruntergefallen. Alle drei. Nur das dürre Taubennest ist resistent. Ich habe schon versucht, es mit der Mistgabel herunterzuholen. Erfolglos. Es hängt zu hoch, wie die Trauben bei Äsop. Ich möchte die Tauben nicht ermutigen, sich in meinem Garten willkommen zu fühlen. Sie tun es trotzdem. Ungefragt. Ungeniert. In jedem Zyklus.
Freitag, 26. November 2021
Zyste
Die Zugriffe der Safaribegeisterten Kontrollgremien ebben ab. Also kann ich das Haus verlassen. Ausflug nach Epenwöhrden. Das liegt ungefähr auf halbem Weg nach Wöhrden, wo ich kürzlich war. Diesmal gelingt es mir auf dem Rückweg, dem Kartoffelautomaten 5 kg Belana zu entreißen. In meiner Tasche finden sich die erforderlichen 2 x 2 Euromünzen. Ich muss meinen Vorratskeller winterfest machen. Sogar das Katzenfutter wird nun knapp und teuer. Ich bin da wählerischer als Herr Caruso, der Allesfresser. Ich kaufe nur ohne Getreide, ohne Zucker, ohne Lockstoffe, ohne Konservierungsstoffe, ohne Ethoxyquin, ohne Verdickungsmittel, ohne Johannisbrotkernmehl, ohne Geschmacksverstärker, ohne Cassia Gum, ohne ... was nicht einfach konsequent durchzuziehen ist, weil die meisten Schadstoffe nicht deklarationspflichtig sind. Im Menschenfutter ist das nicht anders. Auch diesmal fängt es erst an zu regnen, nachdem ich vollbepackt zu Hause angekommen bin. Dem Himmel sei Dank!
Donnerstag, 25. November 2021
Zyniker
Der Zyniker. Friedrich Glauser hat nicht nur wunderbare Kriminalgeschichten geschrieben und uns darin wunderbare Beobachtungen von Mensch und Umwelt präsentiert, sondern auch - herausgefordert von Stephan Brockhoff - Stellung bezogen zu den "Zehn Geboten für den Kriminalroman" von eben diesem Brockhoff, die in der Zürcher Illustrierten am 5. Februar 1937 veröffentlich wurden.
Die Zyniker. Glauser wollte in der ZI eine Art "kleinen Sängerkrieg" austragen, bei dem das Publikum (ZI-Leserinnen und Leser), "die Rolle der Elisabeth" übernehmen sollte, der Dame "für die Wagner den Einzug der Sänger komponiert" habe. Glauser schrieb einen offenen Brief, ausführlich, fast dreimal so umfangreich wie Brockhoffs Gebote, den die ZI aber nie abdruckte. Wir finden ihn im Nachlass, in den diversen gesammelten Ausgaben.
Die Zynikerin. Glauser vermisste in Brockhoffs Zehn Geboten die "anständige Sprache". Ein Kiminalroman müsse, forderte Glauser, in einer anständigen Sprache geschrieben werden, "in unserem Falle", fügte er hinzu, in einem anständigen Deutsch. Gerade dies, das anständige Deutsch bleibe mal dahingestellt. Glausers Figuren um den Wachtmeister Studer sprechen ein fürchterliches Berner Hoch- oder Schriftdeutsch und der Erzähler fühlt sich immer wieder bemüßigt, diese Sprechweise zu kommentieren oder gar zu korrigieren. Patricia Highsmith hingegen war zeitlebens beleidigt, dass man ihre in anständigem Englisch verfassten Romane nicht als Roman bezeichnete, sondern als Kriminalromane.
Mittwoch, 24. November 2021
Zyklon
Oder Willy-Willy. Seit einigen Tagen überschlagen sich die statistischen Daten mein bescheidenes Wattenmeerblog betreffend. Achttausend Aufrufe? Morgens um 5 Uhr bereits über Eintausend? Wer steht so früh auf? Oder geht so spät schlafen? Die meisten kommen vom Browser "Safari", vom Betriebssystem "Macintosh" und von "sonstigen" URLs. Das ist das, was mein Auge abliest aus den bunten Grafiken. Was die Farben und Namen aber wirklich bedeuten, versteht mein Hirn natürlich nicht. Nur Alarmrot. Oder Signalgrün. Punktum.
Dienstag, 23. November 2021
Zwickmühle
Die Zwickmühle ist eine Mühle, die nicht mahlt sondern zwickt. Ungeschoren kommt man meist nicht davon. Also: Geburtstagskaffee. Hingehen oder Wegbleiben? Ich könnte die Zwickmühle auch eine Zweckmühle nennen. Welchen Zweck verfolgt die Feier? Am Hals hängt der Mühlstein, aber ich gerate zwischen die Mahlsteine. Der Geschichten. Und Kuchengabeln. Und sitze in der Zwickmühle. Am Tischende. Immerhin.
Montag, 22. November 2021
Zwölf
Die einen sagen, es sei fünf vor zwölf, die andern fünf nach. Neustens sogar schon zehn nach. Der Logik der Uhr folgend ist nun das Viertel an die Reihe. Viertel nach Zwölf. Und immer noch Sonne, die Frostfresserin, am Himmel!
Sonntag, 21. November 2021
Zwitschern
Und schon zwitschern sie wieder aufgeregt. Meine Meisen, Spatzen, Amseln. Hausrotschwänze (ja!), Fitisse und wie sie alle heißen. Sonne pur. Lichtexplosionen. Herr Caruso lässt die Zwitschernden gewähren. Noch pennt er. Aber später, da wird er abzwitschern. Ich muss die letzten Tomaten ernten, Rosmarin schneiden, den Oleander reinholen, die Regentonne leeren. Tatsächlich steht uns nun endlich die erste Frostnacht bevor.
Samstag, 20. November 2021
Zweirad
Ein fürchterliches Wetter. Viel zu warm. Viel zu nass. Viel zu stürmisch. Ich mache noch einen Besuch, bevor der Advent beginnt. Bevor der erste Frost kommt. Bevor die nächste Hiobsbotschaft verkündet wird. Boostern so oder anders. Das Wort soll aus der lifting-Industrie kommen. Frauen boostern gewisse Gesichtspartien. Straffen. Füllen, frischen Faltentäler auf. Ein mir vollkommen unbekanntes Feld. Aber bloß nicht ärgern, bloss jetzt nicht noch blöd stürzen, ausrutschen auf glitschigem Laub oder vom Fahrrad fallen. Bloß nicht!
Freitag, 19. November 2021
zweifellos
Vollmond, also Aufstehen! Gleich beginnt das Spektakel am Himmel, das für kurze Zeit auch hier in Meldorf zu sehen ist - sofern die Wolken mitspielen und sich vom Sturm vertreiben lassen. Der Mond wird voll um 09:57, geht bei uns aber schon unter um 7:57, ab 07:02 tritt er in den Kernschatten der Erde. Halbschattenbeginn, partielle Mondfinsternis. Nach Acht passiert von uns aus gesehen alles unter dem Horizont und ist so oder so um 13:03 zu Ende!
Übrigens: eine Finsternis kommt selten allen. Immer vor oder nach der Mondfinsternis gibt es eine Sonnenfinsternis. Die zweite Finsternis in der heute beginnenden Serie findet am 4. Dezember statt, eine totale Sonnenfinsternis! Aber bei uns wird nichts davon zu sehen sein.
Donnerstag, 18. November 2021
Zwerchfell
Ja, auch mein Schutzbefohlener hat ein Zwerchfell und ab und zu Schluckauf, Hitzgi, Gluxi oder Singultus. Wenn auch selten und dann sozusagen lautlos, so dass ich gar nichts davon mitbekomme. Seit er im strengen 4-Stunden-Rhythmus kleine Portionen zu fressen bekommt, schlingt er nicht mehr so arg und frisst dafür seinen Napf jeweils sauber leer.
Heute Mittag kam mehr als ein Aufstoßen aus Herrn Carusos goldener Kehle. Die ganze letzte Portion, durchsetzt von schlingenden Fäden. Spulwürmer! Herr Caruso hat zuviele Mäuse gefressen und ist kooperativ. Er zeigt mir, wenn er Hilfe braucht, indem er seinen Magen vor meine Füße entleert. Ich entferne das Unappetitliche und fahre durch den Regen zum Tierarzt. Wurmkur ist angesagt. Chemiekeule. Rosskur. Was bleibt mir und ihm anderes übrig? Herr Caruso ist auch so anständig, Medikamente widerstandslos zu sich zu nehmen. Danach schläft er drei Stunden tief und fest, traumlos und ohne Schluckauf auf dem Sofa. Und wacht auf, wie neugeboren, gefräßig wie immer.
Mittwoch, 17. November 2021
Zwiebel
Die Zwiebel ist ein abgehalftertes Motiv in der Literatur. Bei mir hat sie ihren festen Platz in der Küche. Die Speisezwiebel. Die Blumenzwiebeln hingegen sind unabhängig von uns Menschen. Sie kennen das Leben aus einer anderen Perspektive und ziehen sich immer wieder tief in die Erde zurück. Regen ist angesagt. Viel Regen! Und Wind. Viel Wind. Laub ohne Ende.
Dienstag, 16. November 2021
Zweifel
Zweifel und Fröhlich. Zwei Figuren aus meiner gut gefüllten Schreibtischschublade. Werbeträgerinnen, die außer mir kein Mensch kennt. Auch die Produkte, für die sie stehen, kennt kaum noch ein Mensch. Die Namen haben nichts mit dem Charakter der Figuren zu tun, es sind keine omen-nomen oder nomen-omen. So viel kann ich aber verraten: es sind blutsverwandte weibliche Figuren. Da gibt es nicht allzuviele Varianten, neben Mutter-Tochter oder Tante-Nichte bleiben noch die Schwestern, nicht aber die Schwägerinnen. Wahrscheinlich werde ich die beiden nun im Rahmen meines persönlichen Themenmonats ummodellieren zu eineiigen Zwillingsschwestern. Diese engste aller möglichen verwandtschaftlichen Beziehungen würde nämlich den Gegensatz von "zweifeln" und "fröhlichsein" aufs vortrefflichste kontrastieren und den eigentlichen Sinn des Textes - Ankurbeln eines ungehemmten Konsums durch unterschwellig sexistische Werbung - auf einen Schlag zunichte machen.
Montag, 15. November 2021
Zwergel
Nun setzt wieder die Chorlose Zeit ein. Unser Chorleiter ist seit heute im Vaterschaftsurlaub. Es gibt, wie bereits hin und wieder gesagt, auch anderes Widriges und Wunderbares, was sich uns in allerschönster Regelmäßigkeit in den Weg stellt. Corona beherrscht überhaupt nicht die Welt, auch wir Menschen nicht. Sondern allerhand Gekreuch und Gefleuch wie zum Beispiel der Zwergel, der nichts mit dem Zwerg zu tun hat und in Helvetien Halbteufel genannt wird, in Österreich G'schwer: Die Gemeine Maulwurfsgrille! Sie imponiert (mir) mit ihrem Paarungsgesang, der leider erst wieder nach dem langen langen Winter zu vernehmen sein wird. Nur die Männchen haben in der Mitte der Flügel eine "stimmgabelförmige Adergabelung" - die Weibchen nicht. Also sind die Männchen verantwortlich für den sauberen Ton bei den Stridulationen (langanhaltende surrende rrrrrrrrrrrrr-Laute), ohne die es keine Kommunikation mit der Angebeteten gibt, geschweige denn eine Vereinigung.
Manchmal versuchen wir beim Einsingen (um 9 oder zu jeder anderen Tageszeit) Zwergel und anderes Getier nachzuahmen.
Sonntag, 14. November 2021
Zwingt
Volkstrauertag. Wir treten nach 20 Monaten zum ersten Mal öffentlich auf. Da es sich um eine liturgische Veranstaltung (Chor-Vesper) handelt, gibt es gar keine G-Regeln. Wir proben seit Wochen unter 3-G - in der Praxis 2-G. Heute nachmittag in St. Nicolai verpflichtet nur Abstand. Zwingt mich nun die göttliche Vorsehung zur ungeschützten Teilnahme oder befreit sie mich?
„Verleih‘ uns Frieden gnädiglich“. Die Heider Kantorei singt Chorwerke von Heinrich Schütz und Felix Mendelssohn. An der Orgel spielt der Herforder Kirchenmusiker Dieter Andreas Pabst zwei Werke von Johann Heinrich Rinck und Jan Peterzoon Sweelinck.
Liturgische Leitung Pastorin Astrid Buchin
Musikalische Leitung Franz Spenn
St. Nicolai-Kirche, Wöhrden
Beginn: 16 Uhr, Eintritt frei
Samstag, 13. November 2021
Zwischenruf
Generalprobe in Wöhrden. Im letzten Moment sagt meine Mitfahrgelegenheit ab. Der Bass, der dringend auch im Bass benötigt würde, ist krank. Also steige ich auf mein Fahrrad. 14 Kilometer hin, sagt googlemaps und 14 Kilometer zurück. Eine Kleinigkeit. Auf dem Hinweg ist es noch hell, wenn auch farblos. Neblig. Trübe. Feucht. Gut für die Haut. Ich habe eine neue Hochsteckfrisur ausprobiert. Ich muss ja irgendetwas mit meinen Haaren und meinem neuen Gesicht machen. Der Coronazopf taugt nur zu Hause. Das kunstvolle Gebilde am unteren Hinterkopf wird leider zerdrückt von Mütze, Schal und Kapuze. Aber es hält! Viel schlimmer ist die Rückfahrt in stockfinsterer Nacht der Hauptstraße entlang. Durch Wackenhusen. Ketelsbüttel. An etlichen Querwegen vorbei, die ins schwarze Loch zu führen scheinen. Sogar eine beleuchtete Haltestelle steht am Straßenrand, aber hier fährt bis Montag früh kein Bus. Harmswöhrden. Ohne jede Straßenbeleuchtung. Mit entgegenkommenden Autos, die mich erbarmungslos blenden. Auf einem holprigen Fahrradweg, über glitschiges Laub und herabgefallene Äste. Nordermeldorf. Thalingburen. Hafenchaussee. Zahnarzt. Kartoffelautomat. Kurzer Stop, leider kein passendes Kleingeld - das wäre die Krönung meines Ausflugs gewesen: 5 kg Belana im Gepäck. Endlich Licht! Ich bin ja nicht zimperlich. Aber es gibt erhellenderes als Radfahren im November in Dithmarschen.
Freitag, 12. November 2021
Zwenken
Zwenken sind Süßgräser. Wenige sind Horstbildend. Die meisten verbreiten sich über Rhizome, wie mein Bambus, über kilometerlange unterirdische Ausläufer. Wer die Zwenken einmal im Garten hat, kriegt sie so schnell nicht mehr los. Deshalb ist mein Bambus eingesperrt. Damit er sich nicht bei allen Nachbarn neugierig aus dem Boden guckt. Ich beschäftige mich mit Laub. Perfektioniere das Entfernen von der Rasenfläche. Vor dem Regen. Kurz vor Sonnenuntergang, wenn der Himmel im Westen glüht. Danach beschäftige ich mich weiterhin mit meiner Nase. Ich dachte immer, ich hätte sie wie den Rest des Gesichts, des Haaransatzes, der Ohren, der Stirnfalten, des schmalen Kinns, des Oberlippenbarts usw. von meiner Mutter bekommen. Nun erkenne ich im hohen Alter, dass das nicht stimmt.
Donnerstag, 11. November 2021
Zwanglos
Aber nicht zweifellos. Dostojewskij wurde heute vor 200. Jahren geboren. Nach gregeorianischem Kalender. Alle sind plötzlich Dostojewskij-Fans und schwärmen von щи, der russischen Kohlsuppe. Die gibt es frisch (aus Weißkohl) oder sauer (aus Sauerkohl). Was im russischen schlank und bescheiden daherkommt, sieht in westlichen Kochbüchern unaussprechlich aus: Schtschi. Die Polen haben für die sauere Variante den Sauerampfer, szczaw, obwohl es ihnen an kapusta (Kohl) keinesfalls fehlt. Aus szczaw brauen sie żur oder żurek, eine zu deutsch saure Mehlsuppe. Darüber hat die spätere Nobelpreisträgerin Olga T. ein kurzes Frühwerk verfasst. So findet die Suppe Eingang in die Literatur und Leser lernen ohne Zwang, sie auszulöffeln.
Mittwoch, 10. November 2021
Zweisprachig
Die Fratzen, die Bilder, die Zwillinge lassen mich nicht los. Nein, wir kommen nicht zwangsläufig zwei- oder nochmehrsprachig auf die Welt in einem Land, das offiziell vier Sprachen sein eigen nennt, in dem aber die meiste Zeit ein Vielfaches an nicht amtlichen Sprachen gesprochen wird. Ich habe noch nie so oft in den Spiegel geschaut wie in den letzten 24 Stunden. Ständig suche ich etwas und finde nichts in meinem Gesicht bzw. in dem seitenverkehrten Bild, das mir der Spiegel entgegenwirft. Weder eine Erklärung. Noch eine Antwort. Wer bin ich und warum? Seit die Haare wieder länger geworden sind (Stichwort: Coronazopf), sehe ich im Spiegel nicht mehr meine Mutter. Daran habe ich mich gewöhnt. Aber als ich kürzlich - einer gänzlich irrationalen Eingebung folgend - online einen neuen Erst-Pass beantragen wollte und mich nicht an den zweiten Vornamen meines Vaters erinnern konnte, erschrak ich. Wer bin ich und wozu? Ich blätterte in alten Papieren und fand heraus, dass mein Vater dieselben Vornamen trug wie sein Vater, in derselben Reihenfolge. Ich kannte diesen Großvater nicht. Den anderen übrigens auch nicht. Beide waren vor meiner Geburt gestorben. Der Vater des Vaters in jungen Jahren, lange bevor sich meine Erzeuger überhaupt zum ersten mal trafen, bei einem Verkehrsunfall. Das war für die damalige Zeit ungewöhnlich und umso tragischer, da es kaum Straßenverkehr gab. Außer den Namen fiel mir auch ein Bild dieses Großvaters in die Hand. Ein Trauerbild, mit einem Trauerrand und einem Trauerspruch. ... das ewige Licht leuchte ihm ... und ich erschrak ein zweites Mal. Dieser so junge Großvater guckt so überraschend lebensfroh in die Kamera, hat ein so sanftes, schmales Gesicht und trägt ein so verschmitzt-unverstecktes Lächeln auf den Lippen! Dieses Bild passt so gar nicht zu meinen Erinnerungen. Aber es passt plötzlich in meinen Spiegel. Wer bin ich und woher?
Dienstag, 9. November 2021
Zwischentief
Wie gesagt, Madame Beauval - the Hawaiian girl in Berlin - is incredibly young. Sowohl geistig wie psychisch, physisch, ästhetisch. Sie tanzt und singt Hula, ein blühendes Blumenmädchen. Ein schmerzendes Bein nach einem Sturz auf der U-Bahntreppe zwingt sie gerade stillzusitzen. Never mind. It will be over soon. Nun hab ich zufällig auf youtube ein Gesicht gesehen, eine Fratze, ein personifiziertes Teratom sozusagen. Sorry, wenn ich wenig zimperlich bin in der Wortwahl. Meine Kommilitonin, Mutter von Zwillingen, wir promovierten zusammen, sie gerade hochschwanger und bereits zum zweiten Mal verheiratet. Als ich endlich auch heiratete, schenkte sie uns, dem Brautpaar, einen schwarzen Teufel. Die Fratze! Wir entsorgten das Geschenk am Tag danach in einem fließenden Gewässer, ich zog nach Berlin und brach mit der Vergangenheit.
Nun tritt sie mir plötzlich entgegen in einem gar nicht aktuellen, sondern etwa 15 Monate alten Interview, das pandemiebedingt im Kuhglockenland nicht analog geführt wurde. Ich erkenne sie nicht, stolpere nur über den Namen und den prominent präsentierten Doktor-Titel. Rechtmäßig erworben. Den Namen des zweiten Gatten hat sie wohl wieder abgelegt, vielleicht sogar den Gatten selbst. Denke ich und recherchiere. Oberflächlich. Ihre eigene Website is under construction. Die der Organisation, der sie gemäß Interview vorsteht, auch. Mich irritiert das Greisinnengesicht. Die Fratze! Sie ist 2 Jahre jünger als ich. Zur Erinnerung: the hawaiian girl in Berlin is older than me, 23 years! Ich renne ins Bad, starre in den Spiegel. Renne die Treppe hinunter, der Briefträger klingelt und will eine Unterschrift. Ich reiße den Umschlag auf und betrachte mein neues Ausweisgesicht. Das Passfoto hat eine perfekte Maschine in der Schweizer Botschaft letzten Donnerstag von mir geschossen. Herrgottnochmal! Was ist Alter? Was Altern? Was sagt unser Gesicht über unser Leben? Was sagen die Hände, der Hals? Die Kamera, der ungünstige Winkel, der schlechte Einfall. Ihr Mund ist schwarz geschminkt. Viel zu fett in den fehlenden (Lach-)Fältchen. Was zeigt der Spiegel? Was zweigt er ab? Die Maschine in der Botschaft meckerte über meine Brillengläser und der Konsularbeamte fragte, ob sie nicht entspiegelt seien. Doch, antwortete ich wahrheitsgemäß. Was speichern Himmel, Sterne und die Ewigkeit? Ist ihr Aussehen die Strafe für einen schwarzen Plüschteufel? Oder das Gegenteil. Das Gegenlicht eines Lebenslaufs, eines Flusslaufs, einer Karriere, das irisierende Geflacker von Intrigen, Kämpfen und Boxweltmeisterschaften? Oder einfach Pech (und Schwefel)? Schlechte Gene? Schlechte Luft? Zu wenig Bewegung. Vererbtes. Infiziertes. Unheilbares.
Montag, 8. November 2021
Zweige
Seit zwei Tagen ist es hell in meiner Küche. Die Zweige der Edelkastanie haben schon fast alle Blätter abgeworfen - das stimmt natürlich nicht. Dieser Eindruck ist meinem allherbstlichen Wunschdenken geschuldet. Ich werde noch Stunden, Tage, Wochen mit Laub zu tun haben. Im Sommer ist mein Nordgarten dunkel, verschattet, kühl, undurchdringlich grün, belebt, laut, bewohnt von Tausenden Staren, Tauben, Amseln, Spatzen, Meisen, Eichhörnchen und Abertausenden Kriechtieren wie Würmern, Insekten, Flöhen, Spinnen und weiss der Himmel was noch. Auch Wespen und Bienen. Im Winter beruhigt sich alles und die Welt vor meinem Küchenfenster ist leise, leicht und licht.
Sonntag, 7. November 2021
Zwerg
Ein verkümmerter Zwilling ist weniger als ein Zwerg, nicht lebensfähig, wird weder geboren noch gezeugt. Entsteht nicht aus Eizelle und Spermium, sondern ist eine "versehentliche Ablagerung der Embryozellen". Also gar kein Zwilling. Sondern doch eher ein Zwerg. FiF - fetus in fetus oder foetus in foeto. Meist meldet der sich irgendwann im Leben eines ausgewachsenen Menschen als Teratom. Als Fratze. Als bös- oder gutartiger Tumor. In Natascha Wodins neuestem Roman "Nastjas Tränen" wuchert der Tumor in den Innereien des ungeliebten deutschen Ehemanns der Protagonistin, der ukrainischen Putzfrau Nastja, die diesem Mann, Achim mit Namen, zuerst ihre Aufenthaltsgenehmigung in Berlin verdankt, dann ihren deutschen Pass und schließlich die deutsche Witwenrente. Das Teratom verhilft Achim zu einem schnellen Tod, in bereits fortgeschrittenem Alter, denn das Personal des Romans ist seiner überdrüssig gworden! Also musste eine originelle Wendung her. Im wirklichen Leben ist es meist anders. Der Zwerg, die Fratze, das Teratom zu griechisch τέρας = Monster, Scheusal, Unmensch - bestehe aus "fötalen Stammzellen", erklären Mediziner, zeige manchmal Zähne, Zehennägel, Haare, Knochen, wandere aber selten über den Lendenbereich hinaus, zb in den Hals oder ins Gehirn. Die Stammzellenforscher erklären weiter, dass Stammzellen Vorläufer der Ei- oder Samenzellen sind und üblicherweise dort bleiben, wo sie beim erwachsenen Menschen auch sind: im Bereich der Eierstöcke, Hoden oder des Steißbeins. Aber diese Zellen sind "pluripotent" und können sich in jedes Gewebe verwandeln. Also in Haut, Hautanhangsgebilde wie Talgdrüsen oder Schweißdrüsen oder zu Nervenzellen, Knochen, Knorpel. Teratome sind der Stammzellenforscher liebste Studienobjekte, eine Art bislang leider noch vollkommen ungenutzte "Ersatzteillagerfabrik" des Menschen.
Meinen jüngeren Bruder zwickte einst so ein Ersatztteillagergnom in den Hintern, wurde deshalb entdeckt und kurzerhand mit dem Skalpell herausgeschnitten. Mein älterer Bruder zeugte dann, als er alt genug war, richtige, eineiige Zwillinge.
Samstag, 6. November 2021
Zwiegespräch
R. - the hawaiian girl in Berlin - wohnt zum Glück auch in Lauf- und Sichtnähe des Hauptbahnhofs. Wir haben uns lange nicht gesehen, knüpften aber nahtlos an an die Intensität unserer einstigen Zwiegespräche. Wir haben uns immer donnerstags getroffen. So auch vorgestern. Damals in Kreuzberg. An der Akazienstraße. Im Café Bilderbuch. O my God! R. war immer 23 Jahre älter als ich. Sie switcht nun nahtloser als früher from english to german and back from german to english.
When is a woman most beautiful? Fragt sie. Sie habe darüber lange nachgedacht. Sagt sie. Wie sie überhaupt über vieles lange nachdenkt. Vorgestern also in ihrem Wohnzimmer. Wir sind dem Regen dankbar, lassen die Zeitkarten im Humboldtforum sausen, schließen alle Fenster, sitzen unter dem Sonnenschirm. When is a woman most beautiful?
Die Antwort funktioniert nur in ihrer Muttersprache. When she is tired BUT inspired.
Freitag, 5. November 2021
Zweitpass
Kopfschmerzen. Müdigkeit. Mattigkeit. Wäre nicht Herr Caruso gerade auf mein Bett gesprungen, hätte sich nicht laut schnurrend auf meine Brust gelegt, ich würde wohl noch lange weiterfahren müssen im Traum meinem noch unerkannten Zielbahnhofe zu ...
Gestern in Berlin lieferte ich auf der Botschaft die biometrischen Daten für meinen Zweitpass ab. Dazu musste ich persönlich an Ort und Stelle, an der Otto-von-Bismarck-Allee vorsprechen. Mehr zu diesem Otto findet sich im Oktober. Ich musste mich dort fotografieren und mir die Abdrücke beider Zeigefinger abnehmen lassen, eine Unterschrift leisten sowie den Obolus für das Ganze entrichten. Alles Kontaktlos und hinter Panzerglas. Zum Obolus siehe auch Oktober. Von Berlin sah ich den vorhergesagten Dauerstarkregen. Wurde, obwohl die besagte Allee kurz ist und vollständig in Sicht- und Laufnähe des Hauptbahnhofs verläuft, mehrmals bis auf die Haut nass. Obwohl ich seit bestimmt zehn Jahren zum ersten Mal einen Regenschirm über meinem Haupte aufgespannt hielt. Ich hörte ein Grüppchen ebenfalls Durchnässter vor dem benachbarten Kanzleramt nach Gerechtigkeit für alle schreien. In diversen Sprachen. Die mitgebrachten Fahnen hingen allesamt tropfend an ihren Stangen, über kunterbunten Regenschirmen, so dass ich weder eine politische noch eine geografische oder ethnische Zuordnung dieser Demonstrierenden erkennen konnte. Der vor dem in Granit gemeißelten Eingang zur Konsularabteilung der Botschaft rauchende Pförtner erklärte mir auf meine Frage: Ach, wissen Sie, hier wird jeden Tag für oder gegen etwas demonstriert. Der Zweitpass ist eigentlich - in der Chronologie meiner irdischen Existenz - der Erstpass. Im tatsächlichen Zweitpass sind auch zwei Fingerabdrücke hinterlegt. Aber hinterlistigerweise zwei andere. Den Erstpass brauche ich also höchstens zur Vervollständigung meiner Hand. Oder Hände. Vom übermütigen mal-irgendwohin-fahren-wollen bin ich nun für geraume Zeit wieder restlos geheilt. Alle Züge waren aus unbekannten Gründen verspätet, alle aus bekannten überfüllt. Was mich aber nicht daran hinderte, auf der Hin- und Rückfahrt jeweils einen Original-Glauser zu verschlingen.
Donnerstag, 4. November 2021
Mittwoch, 3. November 2021
Zweischneidig
Mehr als die identischen, sichtbaren, eindeutig ein- oder zweieiigen Zwillinge faszinieren mich die nichtidentischen, die versteckten, einverleibten, parasitären oder verkümmerten Zwillinge. Die Mediziner nennen das fetale inklusion, foetus in foeto, fetus in fetus oder einfach kurz fif.
In Polen starb eine 30 jährige Schwangere nach Komplikationen im Krankenhaus, weil die Ärzte sich weigerten, das offenbar lebensunfähige Ungeborene aus dem Bauch zu holen, um das Leben der Mutter zu retten. Sie falteten die Hände und warteten ab, bis das Menschenskind, denn als solches gilt es juristisch und darf natürlich ab dem ersten Herzschlag nicht mehr abgetrieben werden, im Mutterleib eines "natürlichen" Todes starb und das Blut der Mutter vergiftete. Der Gesundheitsminister dazu: es sei eine biologische Tatsache, dass Menschen stürben. Wer will in so einem Land noch leben?
Dienstag, 2. November 2021
Zwillinge Zwo
Sonne. Noch einmal Sonne! Auch die Aichinger-Zwillinge wurden von Dr. Mengele untersucht, oder befragt (siehe Interviewlinks von gestern). Zu Hause, im privaten Gespräch, in Gegenwart und mit Einverständnis der Mutter, die auch Ärztin war. Die Schwestern waren noch nicht getrennt, erst 9 und nicht auskunftfreudig. Die Nationalsozialisten waren noch nicht an der Macht und der ehrgeizige Zwillingsforscher noch nicht berühmt.
Auch Julia Franck hat eine Zwillingsschwester und liebt das Schweigen.
Montag, 1. November 2021
Zwillinge
Ilse Aichinger wäre heute hundert Jahre alt geworden, auch ihre um wenige Minuten jüngere Zwillingsschwester Helga natürlich. Der Krieg trennte sie für den Rest des Lebens. Ilse starb eine Woche nach ihrem 95., Helga ein Monat vor ihrem 97. Geburtstag. Hätten sie nicht in verschiedenen Welten gelebt, gäbe es keinen, oder nur einen viel dünneren Briefwechsel. In den Kommentaren, die ich heute lese oder höre, taucht immer wieder die "identische" Zwillingsschwester oder (schlimmer) "der identische Zwilling" auf. Und ich frage, was das denn heißen soll.
Ilse Aichinger antwortet 2001 - zum Achtzigsten: "Meine Schwester und ich sind identische Zwillinge. Wir sind
gewissermaßen Klone, Doppelexistenzen. Da wünscht man sich, gar keine
Existenz zu sein, jedenfalls nicht auch noch doppelt. Wir sahen vorerst
ganz gleich aus, haben noch immer die gleichen Stimmen. Immer wieder kam
die Frage: Die eine oder die andere. Ich wollte dann schon lieber die
andere sein, die eine keinesfalls."
Fünf Jahre zuvor sagte sie - zum Fünfundsiebzigsten (man und frau beachte die maskuline Form!): "Ich bin ein identischer Zwilling, der ältere, der lebenskräftigere, wir hatten beide schwere Krankheiten, aber meine Schwester war dem Tod immer näher. Der Stauffenberg hatte auch einen identischen Zwilling, aber der ist bei der Geburt gestorben. (...) Man begreift dabei, daß die ganze Biologie eine terroristische Überlebensstrategie ist, der man eigentlich gar nicht gewachsen sein möchte. Man wird nicht gefragt. Man wird auch nicht gefragt, ob man sterben will. Ich will tot sein, aber sterben möchte ich auch nicht, weil ich einige Male mitangesehen habe, wie lange das dauern kann. Diese Zumutungen, nicht nur an mich, sondern an jeden, der lebt. Aber zu meinem Erstaunen sind die meisten Menschen vollkommen einverstanden."