Montag, 1. November 2021

Zwillinge

Ilse Aichinger wäre heute hundert Jahre alt geworden, auch ihre um wenige Minuten jüngere Zwillingsschwester Helga natürlich. Der Krieg trennte sie für den Rest des Lebens. Ilse starb eine Woche nach ihrem 95., Helga ein Monat vor ihrem 97. Geburtstag. Hätten sie nicht in verschiedenen Welten gelebt, gäbe es keinen, oder nur einen viel dünneren Briefwechsel. In den Kommentaren, die ich heute lese oder höre, taucht immer wieder die "identische" Zwillingsschwester oder (schlimmer) "der identische Zwilling" auf. Und ich frage, was das denn heißen soll.

Ilse Aichinger antwortet 2001 - zum Achtzigsten: "Meine Schwester und ich sind identische Zwillinge. Wir sind gewissermaßen Klone, Doppelexistenzen. Da wünscht man sich, gar keine Existenz zu sein, jedenfalls nicht auch noch doppelt. Wir sahen vorerst ganz gleich aus, haben noch immer die gleichen Stimmen. Immer wieder kam die Frage: Die eine oder die andere. Ich wollte dann schon lieber die andere sein, die eine keinesfalls."

Fünf Jahre zuvor sagte sie - zum Fünfundsiebzigsten (man und frau beachte die maskuline Form!): "Ich bin ein identischer Zwilling, der ältere, der lebenskräftigere, wir hatten beide schwere Krankheiten, aber meine Schwester war dem Tod immer näher. Der Stauffenberg hatte auch einen identischen Zwilling, aber der ist bei der Geburt gestorben. (...) Man begreift dabei, daß die ganze Biologie eine terroristische Überlebensstrategie ist, der man eigentlich gar nicht gewachsen sein möchte. Man wird nicht gefragt. Man wird auch nicht gefragt, ob man sterben will. Ich will tot sein, aber sterben möchte ich auch nicht, weil ich einige Male mitangesehen habe, wie lange das dauern kann. Diese Zumutungen, nicht nur an mich, sondern an jeden, der lebt. Aber zu meinem Erstaunen sind die meisten Menschen vollkommen einverstanden."

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