Sonntag, 28. Februar 2021

Kern

Kern. Lot. Ton. Drei einsilbige Wörter zum Ende des kürzesten Monates des Jahres. Giacinto Scelsi (1905-1988) - wer diesen Namen richtig aussprechen kann, hat schon viel verstanden von der Welt - bezeichnete sich nicht als Komponist. Hat seine Werke nie selbst niedergeschrieben, notiert, sondern, wenn überhaupt, aufgenommen auf Tonband und den Rest anderern überlassen. 

Giacinto Scelsi begreift sich als Bote, als Medium, als Dekompositor. Ihn interessiert nicht, wie etwas, Musik zum Beispiel, gemacht wird, sondern was es ist. Er zerlegt Botschaften, die er, wie er sagt, aus einer transdenzentalen Wirklichkeit empfängt, in Töne. Dann sucht er in den Tönen den Kern. Den Klang hinter dem Klang. Er wiederholt einen Ton so lange, bis es nicht mehr derselbe Ton ist.

Scelsi begibt sich auf eine Reise in das Innere eines Tons, um dessen Tiefe auszuloten. Die bezeichnet er als dritte Dimension. Der Ton gerät in andere rhythmische und klangliche Bezugsverhältnisse, tritt in einen anderen Raum ein. Idealerweise mit ihm auch sein Interpret und sein Zuhörer.

Der Klang ist sphärisch, sagt Scelsi, rund. Nicht linear, von keiner bestimmten Dauer. Wie alles Sphärische hat er ein Zentrum. Nur wer in den Kern eines Klangs vordringt, ist ein Musiker - wem das nicht gelingt, ist ein Handwerker. Auch ein musikalischer Handwerker verdient Respekt, aber er ist kein wahrer Musiker, kein Künstler.

Ich versuche, wie immer, das Faszinosum aus der Musik auf die Sprache zu übertragen. Wenigstens in meinem Kopf. Nur wer in den Kern eines Wortes vordringt ... wem das nicht gelingt, faselt. Noch nie hab ich im Radio so unendlich viel faseln gehört, wie seit es Podcasts gibt.

Scelsi wird von seinen Kritikern als Eintonphantast beschimpft. Als capriziöser Dilletant. Statt Vielfalt produziere er, manisch ausgebreitet, monothematische Aspekte, statische Klänge in minimalen Veränderungen.

Hört selbst: "Der Klang ist die erste Bewegung des Unbewegten" - nehmt Euch Zeit, so viel ihr wollt und braucht, sie ist im gerade Überfluss da:

Samstag, 27. Februar 2021

Mond

Auch der Mond wird zum Monatsende voll. Er beschert uns helle und kalte Nächte sowie trübe und neblige Tage. Es ist feucht wie im Herbst. Die Blutpflaume braucht nur noch wenig Wärme, um zu explodieren. Mit einem zarten Rosa. Ich habe zwei Lektionen Jodeln für Anfänger absolviert, wir jodeln schon die ganze Woche beim Einsingen um 9. So wie es eben geht für absolute Banausen wie mich. Noch bleiben die Fenster geschlossen und hört mich niemand draußen. Trotzdem muss ich gestehen, dass ich mir erstens noch nie im Leben Gedanken darüber gemacht habe, was das Jodeln eigentlich ausmacht, welche Gesangstechnik dahinter steckt. Und dass ich zweitens, wäre ich hier im hohen Norden und auf dem platten Land nicht so weit weg von jeder Zivilisation, mich sofort beim nächsten Dorfjodelchörli anmelden würde. Einfach um es auszuprobieren. Plötzlich und wider Erwarten neugierig geworden.

Freitag, 26. Februar 2021

Blau

Blau zum Dritten. Zum Letzten. Blaumachen. Vor einem Jahr bin ich zum vorletzten Mal in einen Zug gestiegen und in die Welt hinaus gefahren. Nach Süden. Ich war einen ganzen Tag unterwegs. Die Rückfahrt, eine Woche später, dauerte genauso lang und bedeutete, was sich damals niemand in den kühnsten Tagträumen vorstellen konnte, erstmal die allerletzte. 

Donnerstag, 25. Februar 2021

blass

Die Sonne geht blass auf über der Feldmark. Das grelle, blendende, irrlichternde bunte Leuchten am Himmel gehört immer entweder dem Frost oder dem Dreck. Staub aus der Sahara. Emissionen unserer raubtierhaften Zivilisation. Waldbrände. Heute früh ist Ruhe angesagt. Mein persönliches Raubtier fängt an, mich auch mit seinen spitzen Krallen zu attackieren. Das ist nicht weniger schmerzhaft als die Angriffe mit den spitzen Zähnen. Aber weniger gefährlich, sagt mein Arzt. Wir leben in unsicheren Zeiten. Bei Aldi (sorry für die Samtpfotenwerbung) gibt es seit Wochen kein Katzenfutter mehr. Weder Herrn Carusos Lieblingsfutter noch etwas anderes. Als hätt' ich es geahnt, besorgte ich kürzlich einen großen Vorrat an Biofutter. Aber das schmeckt dem Schwarzgefrakten mit der weißen Halskrause nicht immer. Und dann straft er mich ab. Der Hunger wird es nun richten müssen zwischen uns beiden. Erstmal herrscht Ruhe nach dem Forelle-mit-Karrotten-Frühstück. Die Luft ist linde, die Sonne blass.

Mittwoch, 24. Februar 2021

Brot

Die heutige Losung: 

Ihr sollt Brot die Fülle haben und sollt sicher in eurem Lande wohnen.
3. Mose 26,5

Montag, 22. Februar 2021

Jan

Gestern war Biike. Man konnte zu Hause auf dem Sofa sitzen und die Feuer über diverse streams verfolgen. Ohne zu frieren, ohne zu niesen, ohne nass zu werden. Vor 5 Jahren kam Jan zur Biike nach Hooge, um zu filmen. Wir verfolgten ein ehrgeiziges Projekt. Wussten aber beide nicht, was der Dritte im Bunde, der nicht anwesende Stephan, damit eigentlich will. Das Wetter war sehr unfreundlich. Jan sehr freundlich. Es gibt einen spröden Eintrag hier: https://amwattenmeer.blogspot.com/2016/02/windbann.html

Jan hatte mir ein Joldelunder Biobrot auf die Hallig mitgebracht. Nun ist Jan tot. Einfach so. Tot. Umgefallen. Mitten im Leben. Herzstillstand. Ein gesunder, kräftiger, kreativer, aufrechter, kompetenter Mensch. Vater von zwei fröhlichen Töchtern. Zehn Jahre jünger als ich. Macht einen Schritt. Irgendwo auf dem Dorf in Nordfriesland. Oder in Dithmarschen. Ich weiß es nicht einmal. Es ist auch gar nicht wichtig. Und schon ist er auf der anderen Seite. 

Jan Ö. Ich hatte mich immer gewundert über seinen zweiten Vornamen. Wer kennt schon einen Namen, der mit Ö beginnt? [Özil zählt nicht]. Jan Ö. drehte den Film über die Guitar Heroes in Joldelund. Ein absolutes novum in der Filmkunst. Ein Einmannfilm. Jan Ö. machte alles selbst, was man machen muss, damit ein Film ein Film wird und im Kino gezeigt werden kann. Die Gitarrenhelden auf dem Dachboden seines/unseres Biobäckers. Aufgezeichnet mit einer winzigen Kamera. Wer die Helden nicht kennt, sollte sofort aufstehen. Ins Kino gehen. Oder nach Joldelund reisen. Sobald die Sofazeit um ist.

Und Jan Ö. hat damals meine kaputten Winterschuhe zum Schuhmacher nach Bredstedt mitgenommen. Ich bekam sie per Post geflickt, genäht und gewichst zurück auf die Hallig und konnte weiterwandern. 

Danke Jan!

Sonntag, 21. Februar 2021

Bach

Sonntag Invocavit - der erste Sonntag der Fastenzeit (bei den einen) oder Passionszeit (bei den anderen). Für mich auf immer und ewig verbunden mit dem Schuhmacherhandwerk in der Zentralschweiz, das an diesem Sonntag, heute vor 121 Jahren seinen Anfang nahm.

Ich höre im Radio die Bachkantate zum heutigen Sonntag. Invocavit: Aus den Tiefen, rufe ich, Herr, zu Dir. Mit dem Bach Kollegium Japan. Ich, die Murakamiverständigerin, bin immer wieder bass erstaunt, wie und dass es diesen Japanern gelingt, die deutsche Sprache singend so glasklar zu artikulieren, dass jede Silbe unmissverständlich verständlich ist. Was uns europäischen oder gar deutschen oder ostschweizerischen Sängerinnen und Sänger so oft so gar nicht gelingen will. Die Toggenburger Bach-Interpreten sind top und ihr geistreicher musikalischer Leiter Lutz hat ein Faible für Schuhe, aber auch die kommen sprachlich in der Bachkantatentextverständlichkeit nicht an die Japaner heran.

Samstag, 20. Februar 2021

Licht

Samstag. Schönes Wetter. Milde Luft. Ich schnipple dürres Zeug weg im Garten. Die Cvetaeva, um noch einmal auf den blauen Band zurückzukommen, erblickte das Licht der Welt am 8. Oktober (alter Kalender) 1892 in Moskau. Das war ein Samstag. Und dieser Samstag, bzw. Sonnabend in der deutschen Übersetzung, tritt in besagtem Gedicht (siehe unten: Rot, Blau, Schwarz) in der zweiten Strophe auf: Sonnabend wars, / Der Streit begann / Von hundert Glocken: / Evangelist Johann.

Johannes "Hinübergang" wird in der orthodoxen Kirche am 26. September (neuer Kalender) gefeiert. Hinübertag (was für ein schönes Wort!) ist also so etwas wie das Gegenteil von Geburtstag. 

Im russischen Original klingt diese Strophe mit vielen vielen "o's" tatsächlich wie Glockengeläut:

Спорили сотни / Колоколов / День был субботний: / Иоанн Богослов.

Freitag, 19. Februar 2021

Tracht

Eine Tracht Prügel oder die Feiertagstracht. Die Freitagstracht. Ich lese und staune, dass die Tracht Prügel - also jemandem ein paar ordentliche Schläge verpassen, eine gehörige Tracht Prügel - auf die Tracht in ihrer ursprünglichen Bedeutung zurückgeht: auf das Tragen der Speisen, aufgetragene Speisen. Der Duden sagt (und was bleibt mir anderes übrig, als ihm zu glauben?), dass die Prügel, die jemand abbekommt, früher mit Gerichten, die man jemandem serviert, verglichen wurde.

Donnerstag, 18. Februar 2021

Haar

Bibo Keeley hat - wie viele andere auch - als Performance im ersten Lockdown ihr blondes Haar abrasiert. So weit so gut. Aber heute sagt sie (oder gestern oder vorgestern), das seither nachgewachsene Haar sei der einzige Beweis für die Zeit, die vergangen sei, also stattgefunden habe. Obwohl sie nie wieder Schuhe angezogen habe. Denn es gab ja keinen Grund, auch kein Recht, das Haus zu verlassen.

Ich treffe meine Frisöse zufällig in der Feldmark. Sie kommt vom Steuerberater, ich vom Einkaufen. Sie spaziert in großem Bogen nach Hause. Zufrieden! Zuerst, sagt sie, bekämen die Männer wieder Termine. Denn die leiden mehr! Mehr als die Frauen? Ich bin erstaunt und beruhige sie. Ich will keinen Termin. Seit deinem letzten Schnitt, fast ein Jahr ist er nun her, wächst mein Haar, wie es soll. Ohne mich zu ärgern. Mit Wirbeln an der falschen Stelle, zu langen oder zu kurzen Strähnen. Ich kann bereits wieder einen normalen alten Zopf flechten.

Mittwoch, 17. Februar 2021

tea

Haruki Murakamis Figuren sind Japaner, keine Frage! Auch der sprechende Affe. Und sie trinken alles, nur keinen Tee. Unmengen von Kaffee, Bier, Gin, Whisky, Drinks aller Arten, Wein, rot oder weiß kippen sie in sich hinein. Aber keinen Tee. Auch der sprechende Affe.  

Die "Bekenntnisse des Affen von Shinagawa" wurde im Radio an zwei Tagen, in zwei Teilen vorgelesen. Schlechtes Text-Timing. Aber ich wusste am Ende des ersten, zufällig von der Redaktion der Sendezeit angepassten Teils, wie die Erzählung ausgehen würde. Der Erzähler schwafelte die ganze Zeit davon, dass ihm niemand diese Geschichte glauben werde, alle ihn für verrückt halten müssten, dass er die ganze Geschichte vollkommen vergessen habe, bis eines Tage ... na ja, wie das so ist. Bis ihm eines Tages der Beweis für die Aufrichtigkeit des Affen von der anderen (Straßen-)Seite entgegentrat. Ich bin nun also die perfekte Murakamivervollständigerin. Ich weiß, was die Figuren denken, wenn sie eine Schallplatte auflegen oder wenn sie sich ständig entschuldigen. Wenn sie keinen Tee trinken. Wenn Männer auf Frauen treffen. Eine sehr maskuline Literatur. Sogar der sprechende Affe definiert sich über seinen Blick auf eine (natürlich schöne) Frau und nicht umgekehrt.

Mein nicht sprechender Kater ist heute fünf Monate bei mir. Er singt, wenn er etwas von mir will (meist Futter, selten Nähe). Seine früheren Besitzer haben rechtlich noch einen Monat Zeit, ihn zurückzufordern. Falls sie das wollten. Aber sie wollten ihn ja loswerden.

Dienstag, 16. Februar 2021

rain

Wir haben gestern vergeblich auf Regen gewartet. Deshalb bleibt heute die Poesie aus. Wir befinden uns nicht im rain shadow (Regenschatten), sondern auf dem freien Feld. Der Wind verstummte und dichtes Schneetreiben umgab uns mehrere Stunden lang. Erst im Schutz der Dunkelheit getrauten wir uns aus unseren Häusern und versuchten, wenigstens unsere Türen freizuschaufeln. Einen Fußweg zur Straße zu bahnen. Für alle Fälle.

Uns fehlt der Berg. Die Wüste Gobi, lese ich immer noch erschöpft vom nächtlichen Treiben, befindet sich im Regenschatten des Himalayas. Die Gebirgskette ist eine Wind-, Wetter- und Regenwolkenbarriere. Die Nachbarn, sehe ich benommen immer noch vom Schlaf, bekommen ein neues Sofa ins Haus geliefert. Vor Sonnenaufgang! Auch dafür musste der Weg in der Nacht freigeräumt werden.

Regenschattenwüsten können ganz nah am Meer liegen. Solange ein Gebirgszug dazwischen steht, zwischen dem Wasser und dem Sand, hebt der auflandige Wind keine Feuchtigkeit über die Gipfel.

Montag, 15. Februar 2021

Kling

Thomas. Klang. Ein verstörender lautundleise Dichter. Nachfahr oder Seelenverwandter von Jandl, obwohl er sich dazu nie bekannt hat. Außer in einem Gedicht aus dem Nachlass, einem Zufallsfund oder einer Gelegenheitspoesie: Genesungswünsche an den Kranken. Der letzter Lyrikband, der zu Klings seinen Lebzeiten erschien, trägt den Titel "Auswertung der Flugdaten". Seit letztem Herbst gibt es eine vierbändige Gesamtausgabe, in der alles drin ist, was Kling zu Klang macht. Montagmorgenlektüre am Fenster. Der Himmel flammt kurz auf. Für den weiteren Tagesverlauf ist Tauwetter angesagt. Frühlingsregen.

Sonntag, 14. Februar 2021

Eis

So sieht die Meldorfer Bucht aus. Eigentlich die beste Springzeit, drei Tage nach Neumond. Eigentlich auflaufendes Wasser. Eigentlich endlich die Gelegenheit beim Schopf und ein Handtuch unter den Arm packen, und das Abbaden vom letzten Jahr nachholen ...

Milder Wind. Kräftige Sonne. Blässhühner im Speicherkoog, am Kronenloch. Sie nutzen jede freie Lücke im Schnee und im Eis, am Straßenrand. In Scharen, so viele und so ganz schwarz mit der weißen Blesse über dem weißen Schnabel, dass die Freiwilligen Mitarbeiter des Wattwurms vorsorglich vor dem Wochenende schon Warntafeln aufgestellt haben. Reger Sonntagsverkehr.

Samstag, 13. Februar 2021

Rot

Das Radio hat die Sonnabendstory klammheimlich abgeschafft. Und so beschäftige ich mich mit meinem Bücherregal. Ich finde das Gedicht in drei verschiedenen russischen Ausgaben. Immer gleichlautend. 

Der abab-Reim der Übersetzung entspricht dem Original, aber das ist auch fast alles. Es gibt keinen Doppelpunkt in der ersten Strophe (in der zweiten schon, aber die hab ich nicht zitiert), sondern drei Punkte jeweils am Ende von Vers zwei, drei und vier. Die Farbe rot (oder "schön", oder zeitgemäß "revolutionär") finden wir im ersten Vers, den (Vogelbeer-)Baum im zweiten, die (gefallenen) Blätter im dritten, die Geburt (des lyrischen Ichs) im vierten.

Im Original reimen sich die gefallenen Blätter auf die roten Beeren, das Geborensein des lyrischen Ichs auf das Wesen des Baums im Herbst (lodern).

в конце́ концо́в - letztendlich - stimmt an der Struktur der Strophe so gut wie gar nichts. Auch nichts an der inneren Logik. Da hilft die Aussage im Vorwort zur deutschen Ausgabe wenig, Cvetaevas Gedichte hätten lange Zeit als unübersetzbar gegolten.

Das war mein morgendlicher Ausflug in die russische Sprache. Nach dem Ausflug in die Feldmark zum Sonnenaufgang. Prickelnder Frost (-10°) und prickelndes Licht (leicht rosa).

Freitag, 12. Februar 2021

Blau

Frühlingsfest in Asien. Chinesisches Neujahr. Wie auch immer man das nennt. Das Jahr des Metall-Büffels oder -Ochsen beginnt und löst das Jahr der Metall-Ratte (endlich) ab. Blau ist die Unglücksfarbe des Büffels oder Ochsen! Er zieht die Farbe weiß vor. Manchmal mag er auch gelb oder grün. Aber auf keinen Fall blau! Blau ist dem Büffel so etwas wie das Rot dem Stier.

Ich habe schon meine Runde durch die schneeweiß überzuckerte Feldmark gedreht. Bei zweistelligem Frost die Wangen prickeln gespürt, die Sonne aufgehen gesehen, das Licht bestaunt. Und zu Hause am Küchentisch das Gedicht von Marina Cvetaeva vom 16.8.16 [schönes Datum, aber im letzten Jahrhundert: 1916] gelesen, das dem blauen Band den deutschen Titel gab. Es beginnt so: "Als der Vogelbeerbaum / Die Blätter verloren, / Flammte er rot: / Ich wurde geboren." Das reimt sich. Übersetzt von Christa Reinig. Ich muss das russische Original in meiner russischen Bibliothek suchen.

Donnerstag, 11. Februar 2021

Leer

Noch mehr Weiß. Ich bin zweimal mit der Schneeschaufel ums Haus gewandelt. Es ist sehr kalt. Und die Nacht ist sehr dunkel. Neumond. Der leere Mond. Leer passt besser in diese Zeit als neu. Ich schalte das Radio ab, wenn wieder Zahlen erklärt werden. Wenn wieder Wörter erklärt werden. Wenn wieder. Wieder. Wenn. Wer mag das alles noch hören? Neuerdings werden die Nachrichten mit ausführlichen Sportinfos aufgepeppt. Da spricht sich immer einer - oder sogar mehrere - live in Rage über irgendwelche Wettkämpfen, die mich auch nicht interessieren. Dann lieber zweimal mit der Schneeschaufel ums Haus. Und beim zweiten Mal der Nachbarin zustimmend zunicken, die sagt: "So bleibt man fit!"

Mittwoch, 10. Februar 2021

Schwarz

Der Monat wollte ja blau sein. Jeden Morgen ein Gedicht. Statt Nachrichten. Ich ziehe das blaue Taschenbuch aus dem Regal der russischen Bücher. Und lese das zweitletzte Gedicht: Holunder. Deutsch. 

Holunder ist schwarz / Klebriges Pflaumenschwarz / Über der Tür, die wie eine Geige knarrte / Neben dem leeren Haus / einsamer Holunder

Die Dichterin, Marina Cvetaeva (wie ich ihren Namen transkribiere) wollte unter dem Holunderbaum begraben werden. Es hat nicht geklappt.

Dienstag, 9. Februar 2021

Weiß

Nun ist doch noch ein bisschen Schnee gefallen. In der Nacht. Still. Sanft. Pudrig. Lässt sich am Morgen mit dem Besen freiwillig vom Bürgersteig fegen. Den Rest besorgt der eisige Wind. Am Mittag ein bißchen Sonne, so dass ich aufbreche. Zu einem Marsch durch die vereisten Felder. Tapfer mit und gegen den Luftzug. Ich treffe keinen einzigen Menschen an. Aber tausend Gedanken stürzen auf mich ein. Kürzlich stolperte ich im Netz über den Namen Vaterlaus. Rieb mir die Augen und fragte mich, ob ich das alles nur träume. Hannelore Vaterlaus. Ein zweiter Blick ins Netz belehrte mich eines besseren: Vaterlaus ist ein Ereignisname. Und kommt von vaterlos. Der oder die Vaterlosen Vaterlaus. Vaterläuse? Ein Ereignisname, denn den Vater zu verlieren oder nicht zu haben, ist ein Ereignis wie jedes Unwetter. Um seinen Namen aufzuhübschen, hat sich ein Herr Vaterlaus sich zu Herrn Vaterhaus umbenennen lassen. Höre schwiiz und dütlich: https://www.srf.ch/audio/schwiiz-und-duetlich/die-vaterlaus-sind-frei-von-ungeziefer?id=10805823

Montag, 8. Februar 2021

Trost

Tristan trampelt immer noch ungehobelt über mein Dach. Der einzige Trost an diesem Montagmorgen: in der unruhigen Nacht ist kein Schnee gefallen! Vor zwei Wochen noch berichtete ein Nationalparkranger aus dem Osewoldter Vorland Erstaunliches: bei milden Temperaturen und unter einer dünnen Wolkendecke verstummte der Wind vollkommen und die Grauammern, an die Hundert wohl, stimmten ihren Chorgesang an. Die Vögel dürfen singen, ein- und mehrstimmig! Aus dem Hauke-Haien-Koog aber hat Tristan nun hoffentlich die letzten Zauderer nach Süden in die sicheren Überwinterungsgebiete verfrachtet: Kibitze, Löffler, Kampfläufer, Regenbrachvögel, Zwergstrandläufer.

Mehr zu den erstaunlichen Grauammern ist hier nachzulesen: https://www.nationalpark-wattenmeer.de/node/5119#main

Sonntag, 7. Februar 2021

Hohl

Auch bei Hadi, vom Wattenmeer inspirierter Meldorfer Künstler, ist Isolde nicht anzutreffen. Sein Tristan wartet bei Hohlebbe auf auflaufendes Wasser. Vielleicht auf der Überfahrt in die Normandie, nach Deutschland oder ins Herzogtum Arundel. Sein Begleiter (Gegner?) muss mit dem Wasser in Berührung gekommen sein. Die Eisenschuhe ausgezogen, beide Hosenbeine hochgekrempelt sitzt er mit kunterbunten Socken auf dem Hochsitz in ein Buch vertieft. Während Tristan mit Regenschirm und Thermoskanne ausgestattet, vor sich hinsinniert. Oder sind die Rollen andersherum verteilt? Die beiden Figuren befinden sich nur scheinbar auf einer (geometrischen, hierarchischen, militärischen) Geraden. Die Perspektive täuscht. Zudem hockt der eine auf der Lehne und sützt sich mit den Füßen auf die Sitzfläche ab, während der andere auf der dazu vorgesehehen Fläche sitzt und die nassen Füße, Waden, Strümpfe und Schuhe wie von der Wäscheleine baumeln lässt. 

Siehe hier: http://knuetel.com/oelbilder-oilpaintings/ Das Bild ganz unten rechts anklicken und staunen!

Oder betrachte meine leicht vergilbte, verzogen eingescannte Postkarte:



Samstag, 6. Februar 2021

Trist

Tief Tristan ist im Anmarsch und raspelt die Schneedecke ab. Die Temperaturen liegen tief unter dem Gefrierpunkt. Von Tauwetter kann keine Rede sein. Aber der scharfe Wind saust wie ein Tranchiermesser über die Erdoberfläche und feilt und hobelt und wetzt und poliert und ... Irgendwann gegen Abend ist der Rasen fast ganz schneefrei, sehr zur Freude von Herrn Caruso. Der Schein trügt aber und das für seine Ohren wahrscheinlich unerträglich hohe Pfeifen um die Hausecken verstört ihn so sehr, dass er zu Hause bleibt und sein edles Designerklo benützt. Ich entdecke derweil unter dem Dach, über das Tristan ungehobelt ungeachtet der Tageszeit poltert, ein neues Hobby: Erklärvideos zu Fast- oder Ganz-Flugzeugabstürzen und Militärjetkollisionen. Das Menschliche gibt dabei meist den entscheidend fatalen Ausschlag. Und das Schöne unserer Tristanzeit (wo ist eigentlich Isolde?): hast du eines dieser Videos geguckt, springen dir die nächsten ungefragt ins Gesicht.

Freitag, 5. Februar 2021

Nackt

Die nackte Wahrheit. Der Nacktmull soll das unansehnlichste Wesen sein, dass die Schöpfung erschaffen hat. Polnisch golec piaskowy (wörtlich etwa der Sandnackte), weil er hauptsächlich in den Wüsten Afrikas im Sand lebt und sich dort kilometerlange Gänge gräbt. Im Deutschen gehört er zur Familie der Sandgräber. Mir ist er bis eben noch nie über den Weg gelaufen. Nun aber, da Wissenschaftler herausgefunden haben, dass Nacktmulle ihr soziales Leben über Sprache organisieren, und nicht wie andere, meist blinde und viel winzigere Bewohner der lichtlosen Sandkornzwischenräume über den Geruch, ist mein Interesse geweckt. Nacktmulle leben in Kolonien, sind unterwürfig und arbeitssam wie Ameisen. Eine Herrin (Königin) herrscht diktatorisch über ihre Untertanen, bestimmt die Funktion jedes Einzelnen, prägt die Sprache, das Grunzen und Quieken, und sorgt ganz allein für Nachwuchs. Nacktmulle sind "fremdenfeindlich" und brutal, wer den Dialekt ihrer Kolonie nicht spricht, wer anders artikuliert, einen anderen Akzent hat, wird verstoßen, verfolgt, umgebracht. Umgekehrt - das haben die Experimente in den Laboren gezeigt - sind Nacktmulle lernfähig. "Kuckuckskinder" - also Nacktmullwelpen aus anderen Kolonien - eignen sich die Sprache ihrer Gasteltern sofort an. Sie würden sonst nicht überleben. Manchmal zeigt die Evolution auch Nachsicht. Die Wissenschaft interessiert sich aber für die Nacktmulle nicht aus linguistischem Gründen. Sondern aus rein menschlichen. Medizinischen. Sie suchen das ewige Leben! Nacktmulle nämlich, diese potthässlichen, superfleißigen und absolut disziplinierten Kriechtiere werden bis zu 30 Jahre alt und nie krank!

Und zum neuen Tag für Friedeswida Zapateira Honorabilis die nackte Wahrheit aus der Bibel:

Du hast meine Seele vom Tode errettet, meine Füße vom Gleiten, dass ich wandeln kann vor Gott im Licht der Lebendigen.
Psalm 56,14

Donnerstag, 4. Februar 2021

Hoch

Ein Ausflug in die Höhe. Ins Grüne. Blauer Himmel. Sonnenschein. Der Pilot des "Robert" schrieb am 28.1.2021, nach Veröffentlichung des Absturzberichts durch die SUST einen ergänzenden Kommentar unter sein Video. (s.u.) Bitte lesen, damit ich es nicht abschreiben muss. Die Italiener nennen das inchino (Verneigung): wenn Kreuzfahrtschiffe möglichst nah an den malerischen Mittelmeerküsten vorbeifahren, Schiffshörner tuten und Kinder an Land begeistert klatschen. Bis vor Giglio die Costa Concordia einen Felsen rammte und sank. Das geschah zu später Stunde und die Fischerskinder schliefen längst. Der Lärm der Rettungsaktionen ließ sie aus den Betten hochschrecken. Der Kapitän der "Costa" wollte nach eigener Aussage einem Kumpel zuwinken - der weilte aber zu der Zeit gar nicht auf der Insel, weshalb der Capitano ihn gerade telefonisch zur Rede stellte, als das Unglück seinen Lauf nahm. So bezahlten ein paar Tausend Passagiere einen mehr oder weniger hohen Preis für den Privatjoke eines Einzelnen. Am Martinsloch hingegen verloren alle 20 Menschen an Bord der "Tante Ju" ihr Leben, einschließlich der beiden, wie es heißt "wenig risikobewussten" Piloten.

Mittwoch, 3. Februar 2021

Grau

Jetzt zerfließt die ganze Herrlichkeit. Das Leuchten. Der Schnee. Das Blau. Der Himmel. Die Sonne. Die Dächer der Nachbarhäuser. Meine Vogelfutterhäuser. Die Spuren quer durch den Garten. Amseln, Meisen, Tauben, Dohlen, Eichhörnchen und Fasanenhähne kämpfen erbittert um jeden Sonnenblumenkern. Und nun zerfließt alles zu eintönigem Grau. Matsch. Regen. Steigende Temperaturen. Tauwetter. Blitzeis.  

Dienstag, 2. Februar 2021

Gold

Es gibt die Blauschillernden Feuerfalter, die Blauen Eichenzipfelfalter, Blaukernaugen und den Blauschwarzen Eisvogel - aber nur der Hochmoor-Perlmuttfalter hat es nach 18 Jahren geschafft, sich wieder in Dithmarschen anzusiedeln. Im Naturschutzgebiet Dellstedt-Birkwaldmoor bei Tielenhemme. Seine Farbe? Alles andere als Blau! Leuchtende Orange-, Gelb- und Rosatöne, mit braunschwarzen Punkten und Linien auf der Unter- und Oberseite der Flügel. Aber nur die Unterseite betört mit einem richtigen Goldrausch.

Montag, 1. Februar 2021

Blau

Blau ist die Farbe des neuen Monats, weil er an einem Montag beginnt. Das ist verhängnisvoll. Blau wie Blaupause. Oder blaumachen. Gleich kommt ein Handwerker, der etwas zurechtrücken muss in meiner neuen Küche. Verhängnisvoll, weil auch der nächste Monat an einem Montag beginnen wird. Das ist so in nicht Schaltjahren. Da fallen die Daten im Februar und März auf die gleichen Wochentage bis auf die drei letzten im März, die es im Februar nicht gibt. Blauäugig? Eher Blauschielend.Oder: Sprung in die Bläue: