Dass ein sibirisches - oder jedes andere - Straflager kein Sanatorium ist, dürfte hinlänglich bekannt sein. Aus der Literatur, aus der Geschichte, aus Zeugnissen, von hüben und drüben. Dass ein Sträfling, wenn er beim "Spaziergang" (was für ein höhnisches Wort!) aus dem Gleichschritt fällt, stolpert, sich nicht mehr auf den Beinen halten kann, warum auch immer, dass dieser Unglückliche sofort von einer Schar sorgsamer Pfleger und Mediziner umringt mit allen verfügbaren Mitteln ins Leben zurückgeholt wird, ist wenig wahrscheinlich. Eher hört der aufmerksame Zeitgenosse und die aufmerksame Zeitgenossin Pfiffe, Schreie, Bellen, sieht Fäuste, Knüffe, Tritte, verschließt vor Schreck die Augen - wer will denn so etwas mit ansehen? So sind viele viele viele Menschen all over the world zu Tode gekommen, von denen wir nie etwas erfahren haben und nie etwas erfahren werden. Der Tod des derzeit wohl prominentesten Sträflings und Regimekritikers hingegen kann der Welt von eben diesem Regime nicht verschwiegen werden.
Herr Caruso rührt sich nicht von der Stelle. Er fällt nicht, weil er eh liegt. Heute früh war ich schon bereit, die Notfallnummer zu wählen - weil ich ihm dieses Elend nicht mehr länger zumuten wollte. Aber da regte sich Widerstand in meinem Hausflur. Mein todkranker und immer noch kluger Kater (er kann meine Gedanken und meine Aufzeichnungen lesen!), wollte vor die Tür! Die Klappe hatte ich über Nacht vorsorglich verschlossen. Und um ihm jetzt zu ersparen, dass er sich mit seinen gesplitterten Rippen durch den engen Tunnel zwängen muss, öffne ich die Haustür. Er tritt hinaus, guckt, schnuppert neugierig, bewegt sich, langsam, aber bewegt sich! Verschwindet unter dem Rhododendron - eines seiner Lieblingsplätzchen, da kann er unbemerkt vom Rest der Welt diese ganze Welt beobachten! Schleicht weiter, um die Hausecke (ich folge ihm in sicherem Abstand), scharrt an einer trockenen Stelle und erledigt sein Geschäft! Danach liegt er über eine Stunde in meinem Winterbeet, hört den Vögeln und dem Regen zu und atmet verhältnismäßig (angesichts seiner lädierten Lungen) ruhig. Ich vergesse die Notfallnummer.
Nun liegt der Patient wieder im Flur und rührt sich nicht von der Stelle. Weiter ins Haus hinein kommen will er offensichtlich nicht (mehr?). Nicht einmal auf sein Lieblingskissen vor der (magischen!) Küchentür, hinter der sein Futter lagert, geschweige denn aufs rote Sofa im Wohnzimmer. Nach dem Ausflug um die Hausecke hat er aber aus meiner Hand einen ganzen Teelöffel mit fettem Quark leergeschlabbert.
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