Montag, 19. Februar 2024

Hintersinn

Gestern abend zermarterte ich mir das Hirn, ob ich den Tierarztnotruf früher hätte absetzen sollen. Geschlafen habe ich erwartungsgemäß schlecht, erwacht bin ich vor einer Stunde mit ebendiesem zermarterten Schädel. Und der erhellenden Erkenntnis, dass es gar keinen Grund gibt, aufzustehen, da niemand Frühstück will.

Also bleibe ich noch ein bisschen liegen und starre an die Decke. Allmählich dämmert es vor dem Fenster, richtig hell wird es heute wohl nicht werden. Ein weiterer Regentag ist angesagt. Und plötzlich frage ich mich, was eigentlich schlecht daran ist, dass Herr Caruso sein (derzeitiges) Katerdasein in meinem Hausflur beenden durfte. Sterben ist, wie gesagt, nicht schön, und wir würden alle immer lieber weggucken. Überall dort, wo etwas Unschönes passiert. Das Leben aushauchen ist ein Euphemismus wie der Spaziergang in der Strafkolonie "Polarwolf". Caruso hat sein Leben aus seinen zerlöcherten Lungen herausgeschrieen. Er war ein stummer, geduldiger Patient. All die Tage lag er da, guckte mich nachdenklich an, wenn ich zu ihm sprach, schwieg aber und wandte den Kopf dezidiert ab, wenn ich mit meinen Teelöffeln anrückte. Gestern wollte er plötzlich Wasser trinken. Da es gerade in Strömen regnete, lief ich in freudiger Erregung in den Garten hinaus und füllte seine drei Wassernäpfe mit frischem Regenwasser. Es schmeckte ihm!

Als er kaum noch Luft bekam und sich in die Ecke hinter seiner Katzenklappe verkroch, drang der einzige und letzte Schrei aus seiner Kehle. Es war ein Schmerzensschrei. Der erste, seit seinem Unfall. Und ich weiss nicht warum, aber ich hörte das "pourquoi?" aus seinem Schlund heraufdröhnen, das Wort, mit dem auf den Lippen vor Jahren ein Freund in Paris verschieden ist. Der hatte furchtbare Schmerzen gelitten, tagelang, wochenlang, monatelang und wir waren uns alle einig, dass er, ausgerechnet er, diese Qualen nie und nimmer verdient hatte. Denn er war ein äusserst liebenswerter Mensch. Er musste sich genau diese Frage zuallerletzt auch gestellt haben: Pourquoi?

Hätte ich meinen todkranken Kater rechtzeitig (wieder so ein widerlicher Euphemismus!) in die Tierarztpraxis zum Wochenendnotdienst verfrachtet, hätte er sein letztes Geheimnis mit ins Grab genommen. Ich hätte nie und nimmer erfahren, dass Herr Caruso, mein vornehmer Maestro der Neapolitanità auch des Französischen mächtig ist!

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