Gestern abend hörte ich einen Bericht darüber, wie die Digitalisierung unser Leseverhalten verändert. Verschiedene "LeserInnen" kamen zu Wort, von der Sprachwissenschaftlerin über einen Drehbuchautor bis hin zum normalen Vater, der seinen Kindern Gutenachtgeschichten vorliest. Ich dachte immer, es sei mein persönliches Problem, dass mich am Bildschrim schnell alles langweilt, dass ich keine Geduld aufbringe für "kilometerlange" (wie ich es nenne) Texte. Ich dachte, das hätte mit meinem Alter zu tun, mit meiner Einsamkeit, mit meinem Alltag in der tiefsten Provinz - und dann noch Corona! Frau wird einfach düddelig. Aber nein, es ist ein gesellschaftliches Phänomen, und dahinter öffnet sich der kulturelle Abgrund: wir verlernen zu lesen, wir verlernen, uns auf mehr als zwei Sätze zu konzentrieren, uns auf einen fiktiven oder sachlichen Text einzulassen, egal wie lang er ist und wovon er handelt. Das Paradebeispiel der Wissenschaftlerin: sie wollte mal wieder Hesses Glasperlenspiel lesen, das sie - wie wir alle! - einst begeistert verschlungen hatte, und sie konnte es nicht! Sie musste erst wieder lernen, über Tage und Wochen, mit geduldigem Meditieren am Morgen, im Dialog mit der Vorsehung und einer Viertelstunde selbstverordnetem absoluten Bildschirmverbot, täglich. Wahlweise zu steigern! Im Gleichklang mit der Anzahl der täglich zu lesenden Seiten auf Papier. Meine Taschenbuchausgabe vom Glasperlenspiel umfasst 613 Textseiten. Das Buch ist bereits etwas vergilbt, jede Seite dünn bedruckt.
Ich werde diesen Test nachmachen und versuchen, von meiner Wohlfühltextlänge loszukommen - siehe heutige Losung:
Erlöse uns von dem Bösen.
Matthäus 6,13
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen