Mein Blick aus dem Küchenfenster am Sonntagmorgen. Wie versprochen: auf das Straßenpflaster. Auf einen ausnahmsweise menschenleeren Platz. Auf eine Glocke auf einem kleinen Betonsockel, schön zentriert auf einem größeren Betonsockel, in der Sonne. Diese Glocke hing nie in einem Kirchturm, gab nie einen Ton von sich. Denn es handelt sich um einen Fehlguss.
Hier, auf dem dreieckigen Platz hinter der Johanneskathedrale befand sich einst der erste Friedhof Warschaus. Hier wurde höchstwahrscheinlich auch der Glockengießer Daniel Thiem bestattet und die Glocke kann im besten Fall als symbolisches Grabmal eines königlichen Glockengießers gelten, der ausgerechnet mit dieser Glocke (1646 für die Jesuitenkirche in Jaroslaw in Auftrag gegeben), keinen großen Ruhm erlangte. Sie war unbrauchbar, verlor beim Abkühlen die Stimme, da das Metall zersprang. Warum dieser Pfusch seit 1972 vor Grażynas Küchenfenster steht, kann mir niemand erklären. Warum dieser Fehlguss die Jahrhunderte im Nationalmuseum überlebte, warum die Handwerker das wertvolle Material nicht wieder einschmolzen und beispielsweise zu kugelrunden Kanonenkugeln formten, kann mir keiner sagen. Um diese tote Glocke vor meinem momentanen Küchenfenster werden Tag für Tag die wunderlichsten Tänze aufgeführt. In Wellen ergießen sich hier Touristengruppen, schon beim ersten Tee am Morgen höre ich die Anweisungen der Reiseleiter. Auf einem Bein, auf dem rechten oder linken, mit geschlossenen Augen, mit der Hand oben auf der Glocke, einem Herzenswunsch im Herzen, nicht auf den Lippen, rund um die Glocke hüpfen, einmal, dreimal, im Uhrzeigersinn, gegen den Uhrzeigersinn - alles ist hier möglich, Hauptsache man glaubt fest daran und hält den Mund und die Augen zu. Dann geht der Wunsch garantiert in Erfüllung.
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