Dienstag, 30. Juni 2020

100

Gerade eben ist das einhundertste Einsingen um 9 zu Ende gegangen! Seit einhundert Tagen werden wir täglich um 9 von drei Profis im Wechsel eingesungen. Seit einhundert Tagen genießen Tausende von followern oder usern eine halbe Stunde täglich hygienisches Ein- und Ausatmen, lautstarkes Silbentraining und Tonspiel ohne jede Tröpfengefahr oder Aerosolbelastung. Absolut coronafree! Die Nachbarn, die sich über den lauten Gesang jeden Morgen wundern, machen mittlerweile auch mit. Und so rollt die Welle der Einsingensen um den Erdball. Ich bin jeden Tag seit einhundert Tagen um halb zehn total happy! Ich glaube, ich hatte es schon mal erwähnt: von mir aus kann das ewig so weitergehen.

Montag, 29. Juni 2020

Chronobiologie

Die Zeit des zu Ungünstigen. Das Morgenbhochwasser ist zu früh und das Abendhochwasser zu spät. Das Wetter zu unbeständig. Die Winde zu kapriolisch. Meine Gedanken zu unstet. Das Fortkommen zu stolpernd. Noch immer zuviele Steine im Weg.
Die Vorsehung aber hat vorgesehen, dass ich bis zur Jahresmitte, also bis morgen um Mitternacht meinen Jahrhunderttext abschließe. Nun denn: gut anderthalb Tage habe ich noch. Und heute und mindestens zwei Stunden durch die ungünstige Tide gewonnen. Vielleicht habe ich auch noch viel mehr Zeit, je nachdem, in welchem Erdteil die Vorsehung sitzt und ob sie nach Sommer- oder Winterzeit tickt. Ob sie nach circanualer oder circalunarer Rhytmik lebt, oder in der circadianen, ultradianen oder infradianen feststeckt.

Sonntag, 28. Juni 2020

Nippzeit

Ich komme nur stockend voran mit den Korrekturen. Es regnet und regnet nicht. Ist schwül. Der Kopf schwer. Abkühlen will es nicht.

Samstag, 27. Juni 2020

Kopfschmerz

Der Computer kommt zurück, völlig clean und jungfäulich. Nett! Aber anstrengend. Muss wieder das MS-Blau vertreiben. Gegen Abend sind Gewitter angesagt. Pünktlich zur Flut fällt tatsächlich Regen. Die ganze Igelfamilie versammelt sich nach Sonnenuntergang - da ist es bereits wieder trocken, so aufgeheizt war die Atmosphäre, dass das wenige Wasser vom Himmel sofort verdampfte - in meinem Garten zum Abendessen. Und ich beziehe mit dem Kater das Tatamizimmer. 

Freitag, 26. Juni 2020

Hitzetag

Ich fahre zum Schwimmen und dann bei der Nachmittagshitze noch über Helmsand nach Hause. Wegen Wind. Durch die Stadt in das Nahversorgungszentrum. Kaufe Eis am Stil. Mein neuestes Lieblingsfutter. Und für Herrn R. Nierennassfutter. Hab ich es schon gesagt, dass mich der Verlust aller Hooge-Fotos frei macht? Einfach frei.

Donnerstag, 25. Juni 2020

Sommernacht

Es ist so warm in der Nacht draußen, und immer noch so still, dass ich auf den Sommerschlafsack umstellen muss. Herr Rasputin ist sehr unruhig draußen in der Nacht draußen. Er will einerseits in meiner Nähe sein und lauert andererseit natürlich auf alles,was sich rundum bewegt. Schwimmen fällt heute aus. Gestern war das Wasser so warm, kaum auszuhalten.

Mittwoch, 24. Juni 2020

Sternenhimmel

Hab zum ersten Mal draußen geschlafen. Musste lange den Himmel und die Sterne betrachten. Lange auf die überwältigende Stille hören (warum eigentlich? Hier ist es immer still), bis ich endlich in traumlosen tiefen Schlaf gefallen bin. Geweckt hat mich die innere Uhr eine Stunde nach Sonnenaufgang. Und dann hab ich die letzte Seite geschrieben. Einfach so. So einfach.

Dienstag, 23. Juni 2020

Fischsterben

Bei uns sind keine toten Fische zu sehen. Aber von Otterndorf, Cuxhaven über SPO bis Sylt wurden tonnenweise tote junge Heringe, Aale, Störe, sogar ein Schweinswal, Stinte, Finte angespült - und bereits wieder weggespült. So ist das im Tidenbereich. Alles kommt und geht. Die Algen blühen noch lange nicht. In der Meldorfer Bucht sind die Wassertemperaturen gerade so traumhaft und die Hochwasserzeiten so ideal, dass reger Badebetrieb ist.

Tonnenweise junge Heringe, Stinte, Finten, tote Aale und sogar Schweinswale und Störe werden an der Nordseeküste angespült.


(Quelle: www.wetter.d

Tonnenweise junge Heringe, Stinte, Finten, tote Aale und sogar Schweinswale und Störe werden an der Nordseeküste angespült.


(Quelle: www.wetter.de)

Montag, 22. Juni 2020

Geburtstag

meines Meisters und seiner Tochter. Er wäre 94 geworden und es ist ihm zu gönnen, dass er die letzten 5 Jahre nicht mehr erleben musste. Nicht in Polen und nicht in der diesseitigen Welt. Wieder wabert der Nebel aus den Feldern und der Miele, kaum ist die Sonne untergegangen. Als ob schon Herbst wäre. Ich fröstle, kaum hat der Sommer offiziell angefangen.

Sonntag, 21. Juni 2020

Neumond

Nach der Wende kommt das Neue. Die lichtlose Nacht. Ich habe schlecht geschlafen und bin vor dem Wecker aufgestanden. Ich arbeite nun schon drei Stunden erfolgreich. Mein Fenster geht nach Osten. Dorthin, wo gestern die Flugzeuge flogen.

Samstag, 20. Juni 2020

Sommersonnenwende

Die Sonne über dem Wattenmeer ging um 22 Uhr unter. Ich stand mitten in der Marschkammer und betrachtete den noch frischen Abendhimmel. Über dem Farbspektakel lag ein waagrechter Strich. Von einem silbernen Bleistift gezogen. Oder dieser Bleistift selbst. Die Flugzeuge fliegen wieder. Alle in die selbe Richtung. Der Sommer beginnt aber erst jetzt. Unglaublich viel Feuchtigkeit hat sich seit dem Sonnenuntergang auf meinen Garten herabgesenkt, so dass ich beschließe, nicht draußen zu schlafen.

Freitag, 19. Juni 2020

Ballastfrei Zwo

Ich habe alle Fotos der letzten Jahre verloren. Aber das ist nicht weiter schlimm. Ballast abgeworfen. Leid tut es mir nur um einige Japsandimpressionen. Vor dreizehn Jahren, als ich zum ersten Mal Daten vermeintlich durch eine kaputte Festplatte verloren habe, stellte sich später heraus, dass ich etwas ganz anderes verloren habe und die Festplatte intakt ist. Nun frage ich mich natürlich den ganzen Tag schon, was gestern über mich gekommen sein mag, von dem ich noch nichts ahne. Ich putze das Fenster über meinem Schreibtisch für den besseren Durchblick. Die heftigen Gewitter haben uns umschifft. Für die nächsten Tage ist kein Niederschlag zu erwarten.

Donnerstag, 18. Juni 2020

Verzögerung

Bin geschwommen in der herrlichen Nordsee. Durch die Felder über Elpersbüttel nach Hause geradelt. Hab den Kater gut behandelt. Zwei lange Telefonate geführt. Und wollte arbeiten, längst fällige Mails schreiben. Ein neues Formular herunterladen. Anfragen beantworten. Meinen Stellvertreter und das Amt usw. ... Dann - zum zweiten Mal in meinem Leben: ein Computer, der keinen Wank mehr tut, wie die Schweizer zu sagen pflegen. Der von mir verlangt: "Reboot and Select proper Boot device". Ich bin auf der drittletzten Seite eines Textes, den ich - dem Himmel über'm Wattenmeer sei's gedankt - auf dem anderen, meinem Schreibcomputer heut Nacht zu Ende schreiben wollte. Leider ist der Moment zur Fertigstellung dieses Textes noch nicht gekommen. Also. Nochmals Verzögerung. Erstmal schlafen.

Mittwoch, 17. Juni 2020

Artenschutz

Ich, die Verweigererin, hatte auf dem Fahrrad gesehen, wie vor Pfingsten im Speicherkoog (Naturschutzgebiet, Vogelreservat, Froschwanderwege usw) die Kameras in den Büschen installiert wurden. Und natürlich hab ich keinem was gesagt. Ich merke ja täglich, wie viele Autofahrer sich nicht an die Geschwindigkeitsbegrenzung halten. Gefühlt 9 von 10. Nun steht in der Zeitung, dass an einem Tag von 1.183 gemessenen Fahrzeugen 81 zu schnell fuhren, die meisten im "Verwarnungsgeldbereich", an einem weiteren Tag von 610 immerhin 67 und es wurden 9 Fahrverbote verhängt.

Dienstag, 16. Juni 2020

Ruhe

Ich verzichte aufs Einsingen live. Das Wasser lockt. Windstille wie sie stiller nicht geht. Ich schwimme mein imaginiertes Dreieck, frühstücke am Deich und fahre meine neue Runde zurück. Einige Schafe stolpern vor Helmsand über die Deichsteine. Sie haben sich von der Herde auf dem Grasdeich absentiert, ganz im Sinne von neuesten Hygienemaßnahmen. Und warten darauf, dass das Wasser verschwindet. Damit sie sich im Watt suhlen können.

Montag, 15. Juni 2020

Ballastfrei

Montag. Wieder ein Wochenbeginn. Das Wasser kommt ungünstig. Am Morgen zu früh und am Abend zu spät. Einmal im Monat ist das so. Ich räume mein Telefon auf. Über 8000 WhatsApp-Nachrichten! Videos. Fotos. Man stelle sich mal vor, was facebook damit anstellt! Bei Telegram kann ich einstellen, dass die Nachrichten nach einem Tag, einer Woche oder einem Monat gelöscht werden. Automatisch. Aus den Augen aus dem Sinn. Ich lösche alles auf einen Schlag und ohne das leiseste Bedauern.

Sonntag, 14. Juni 2020

Frische

Es regnet tatsächlich in der Früh! Wie erquickend. Ein kurzes Gewitter und ein tropfnasser Kater steht plötzlich unter der Tür. Guckt mich vorwurfsvoll an.

Samstag, 13. Juni 2020

Ethanol

Samstag der Dreizehnte! Eine Hiobsbotschaft jagt die nächste: Schweizer Winzer, lese ich, müssen Millionen Liter hochpreisigen Wein vernichten. Weil das Wetter zu gut ist. Weil die Leute zuwenig trinken. Weil die Weinkeller vom letzten Jahr noch bis oben voll sind. Weil es keine Abnehmer gibt in Zeiten von Pandemien. Und wenn es doch welche gibt, zahlen sie nicht.
Das Virus sei aber nur der Tropfen, der das Fass buchstäblich zum Überlaufen bringe, sagen die Rebbauern. Es fehle im Land eine Vision für den Schweizer Wein! Die Krise ist schon älter. Die Ernten seit Jahren zu reich. Und die Schweizer Weintrinker greifen immer lieber zu billigeren ausländischen Flaschen.
Hilfe kommt von oben. Der Bund reicht die Hand, einer der 7 Bundesräte ist selbst Winzersohn. Mit 10 Millionen Schweizer Steuerfranken unterstützt die Regierung die Weinproduzenten: mit diesem Obolus soll der hochwertige Spitzenwein der letzten Jahre vernichtet werden, zu Tafelwein deklassiert, beigemischt zu Fertigfondue oder Fertigsuppen, oder zu Putzessig verwandelt. Die Weinkantone geben auch noch ein paar Millionen dazu. Und weil gerade Desinfektionsmittel knapp sind, werden die überflüssigen Edeltropfen nun dazu verwendet, leergelaufene Ethanollager aufzufüllen. Dies sei sinnvoller, meinen die Verantwortlichen, als den Wein in die Rhone zu schütten.

Freitag, 12. Juni 2020

Umweltstabil


In auftauenden Permafrostböden lauern ungeahnte Gefahren. Nicht nur in Sibirien, wo bereits Menschen an längst ausgerotteten Krankheiten sterben - weil die alten Erreger auftauen. Auch in den einst vergletscherten Alpen. Oder irgendwo. In Grönland, wo unter dem Eis alte Kadaver liegen. In Gebieten, wo einst Menschen begraben wurden, die an Krankheiten starben. Auf ganz normalen Friedhöfen. Auf plötzlich neu spießendem Rasen. Viren, sagen die Virologen, sind eher ungefährlich, weil die das neue Klima nicht ertragen und schnell absterben. Aber Bakterien sind widerstandsfähig. Antrax-Sporen zum Beispiel, seien "umweltstabil".

Donnerstag, 11. Juni 2020

Die Geschwätzigkeit

Ich werde geschwätzig. In einen Laden geh ich nicht mehr, weil da neuerdings gelüftet wird. Und zwar so, dass die Frischluft von außen angesogen wird über der Stelle unter der die Mitarbeiter immer draußen zum Rauchen stehen. Jemand erzählt, dass der Kiosk hinterm Deich Getränke ausschenkt, aber die Toiletten unter Verschluss hält. So dass alle Badegäste in die Büsche gehen. In der Gehstrasse gibt es ein Geschäft, das seine Kundentoilette den Kunden nicht anbieten darf, weil sie an ein hauseigenes Belüftungssystem angeschlossen ist. Freiluftaktivitäten sind erlaubt. Gestern lieferte ich mir auf dem Heimweg vom Deich ein Rennen mit einem E-Bike-Fahrer. Bei scharfem Nord-Ostwind. Natürlich habe ich gewonnen! Zur Belohnung hat jemand meine verlorene Ghana-Mütze um ein Büschel Grashalme am Wegesrand gebunden. Am Ortsaus- oder eingang, an der Hafenchaussee kurz vor Mannheim. Ich hatte auf dem Hinweg nicht bemerkt, dass mir die Mütze nicht vom Kopf sondern aus dem Korb geflogen war. Ich hatte sie leichtsinnigerweise des Windes wegen ins Badetuch gesteckt. 

Mittwoch, 10. Juni 2020

Die Offenbarung

Márton Illés, Komponist. Pianist. Musiker. 1975 in Budapest geboren. Sagt, seine Musik sei nicht narrativ. Auch wenn er ein Stück für ein Quartett schreibe - das klassischerweise ein "Gespräch zu viert" ist - erzähle er nicht und nichts. "Aneinandervorbeireden kann auch Musik sein", sagt der Musiker. Und: seine Musik sei etws Körperhaftes. Eine "psychophysikalische Offenbarung".
Warum ist die zeitgenössische Literatur so elendiglich beschränkt auf ein Erzählen auf Teufel komm raus? Altmodisch, langweilig, Verschnitt von bereits gesagtem, bereits gelesenem, bereits geschriebenem. Nur, um ein uninspiriertes Lob der Kritik einzuheimsen. "Ein schönes Buch", "ein schöner Roman". Ich kann es nicht mehr hören! Am Morgen wird diese Woche noch vorgelesen "Die rechtschaffenen Mörder" von Ingo Schulze. Ich raufe mir Tag um Tag die Haare. Und hüpfe fröhlich auf meinem Trampolin herum. Nächste Woche wird alles besser!

Dienstag, 9. Juni 2020

Der Widerspruch

Die Tageslosung heute: "Du sollst nicht stehlen." (2. Mose 20,15)
Frappierend in dieser Schlichtheit.
Ich war schon oft versucht, gerade in den letzten einsamen Wochen (auch wenn das absurd erscheinen mag, aber ich ertrug diesen frommen Quatsch in diesen unfrommen Zeiten überhaupt nicht!), diesen "Dienst" - das tägliche Auffinden von Losung und Lehrtext im Postfach - abzubestellen. Wenn aber so etwas überraschend Einfaches am Morgen aus dem Kasten kommt, bin ich wieder froh, diese Nachrichten, das "Wort Gottes" für den betreffenden Tag, noch nicht übern Jordan geworfen zu haben. 
Der Lehrtext zur Losung übrigens lautet heute: "Niemand suche das Seine, sondern was dem andern dient." (1. Korinther 10,24)
Losung und Lehrtext stünden in einem gewissen Zusammenhang, erklärte mir einst eine Theologin. Oft verstehe ich diesen Zusammenhang noch weniger als die Texte selbst. Auch heute stehen die beiden Bibelverse für mich eher im Widerspruch zueinander als im Zusammenhang. Ausserdem vermisse ich, wie so oft, eine gewisse sprachliche Sorgfalt, grammatikalische Kongruenz, rechthaberische Korrektheit. Niemand suche das Seine ... hebt einer mit erhobenem Zeigefinder an zu sprechen. Warum fährt er nicht fort: ... sondern, [Komma] was dem anderen diene.

Montag, 8. Juni 2020

Ozeane

Welttag der Ozeane. Ich schwimme in der Nordsee. Der Deich ist leer. Der Wind kommt kalt von West. Schafskälte, sagte kürzlich eine Schwimmerin, sage der, der im Fernsehen immer das Wetter ansage. Sie wusste sogar seinen Namen.
Während ich mich schon anziehe, kommt tatsächlich eine zweite Schwimmerin. Sie sagt zu mir: "Wenn alle sich verweigern, müssen wir uns nicht wundern, wenn immer mehr Geschäfte in der Gehstraße schließen."
Ich höre einen Vorwurf. Und ich friere, weil ich mich nicht bewege. Verweigerung im Kontext von gelockertem Lockdown ist ein erstaunliches Wort. Mich verstört es wie einst die Entzerrung. Ich verweigere mich, ja, dem Fernsehen, dem Auto, dem Fleisch. Um nur einiges aufzuzählen. Bin ich also schuld daran, dass es bergab geht in diesem Land mit dem Gemetzel in den Schlachthöfen und einer ekelhaften Gammelfleischindustrie? Muss ich mich tatsächlich anfeinden lassen, weil ich jeden Tag mit dem Fahrrad an die Nordsee fahre und nicht mit dem Auto durch den Speicherkoog (= Naturschutzgebiet, Weltnaturerbe) brettere ungeachtet aller Krötenquerungshinweise und Tempoobergrenzen?
Ich verweigere mich nicht der Meldorfer Innenstadt. Ich habe dort bloss gerade nichts zu tun. Aber ich habe Besuch. Und die Gäste gönnten sich ein Eis. Im Lieblingseiscafé gab es keinen Kaffee und das Eis wurde nur draußen serviert, aus Pappbechern und mit Plastiklöffel. "So macht das keinen Spass", sagten meine Gäste gestern in meinem Garten, wo es Kaffee zu trinken gab. Aus Porzellantassen.
Ich muss fahren, entgegne ich am Welttag der Ozeane schlotternd mit weichen Knien an Deich und verweigere mich einer weiteren Diskussion über die Konsumverweigerung in Corona-Zeiten.

Sonntag, 7. Juni 2020

Das Glas

Mein Glaswasserkocher will nicht mehr Wasser kochen. Ich habe ihn liebgewonnen, weil ich die Temperatur wählen kann für mein Teewasser. Nicht immer muss ein Wasserkocher Wasser kochen. Er ist bunt. Gibt Leuchtsignale. Bei 60° grün, bei 70° blau, bei 80° gelb, bei 90° lila, bei 100° feuerrot! Auch die Farben habe ich, selbstredend, liebgewonnen. Ich denke längst nicht mehr über Wassertemperaturen nach nach dem Aufstehen, sondern steuere blind meine Lieblingsfarbe an.
Das ist geblieben. Die Farben geben unverdrossen ihr Signal. Ich kann sie alle der Reihe nach anwählen. Auch gibt der Wasserkocher nach wie vor Geräusche von sich. Piepst, wenn ich ihn auf den Stromsockel stelle, sowie bei jeder Berührung des Bedienfelds. Also hat er Saft. Trotzdem will er nicht arbeiten.
Ich nehme an, es verhält sich so wie bei meiner high-tech-Hausundhofheizungsanlage. Die funktioniert bei aller elektronischen finesse nicht mehr, wenn der Außenfühler (ein kleines, gut verpacktes Teil an der Hauswand) versagt und die Außentemperatur als fake übermittelt. Wenn mitten im Winter draußen plötzlich 50° Celsius plus herrschen, hört natürlich die Heizung im Haus auf zu heizen.
Ich nehme an, dass der Temperaturfühler im bunten Glaswasserkocher defekt ist, ein kleiner Metallstift, gut sichtbar in den Boden des Heizfeldes eingelassen, sichtbar gut gepflegt, entkalkt und glänzend. Natürlich ist im Unterschied zum Außenfühler eines "Ferraris unter den Heizungsanlagen" (Zitat Schornsteinfeger) der Temperaturfühler eines Glaswasserkochers wahrscheinlich nicht austauschbar. So etwas nennt die Wirtschaft - oder die Literatur "geplante Oboleszenz":
"... eine den Umsatz steigernde Strategie der Hersteller, welche die Lebensdauer der Waren konzeptionell verkürzt, Verschleiss begünstigt und Ersatzteile überteuert oder gar nicht mehr anbietet." (judith arlt, friedas gangarten, S. 77)

Samstag, 6. Juni 2020

Die Glocke

Weil Pfingsten auf das Monatsende fiel, kam der monatliche christliche Kirchenbrief der Hooger Kark mit einem Pfingstgruß. Das ist nun schon ein paar Tage her. Eine ganze Woche, genaugenommen. Und die ganze Woche lässt mich die Frage nicht los, wie der Pfingstgruß der Hooger Langzeit-Interimspastorin-Prädikantin zu verstehen ist - siehe Zitat am Ende dieses Posts. Und da mir heute den ganzen Tag nur Schlagwörter wie Rassismus, Kolonialismus, Feminismus, Diskriminierung, Hass, Gewalt usw entgegenschlagen, werfe ich diese mich nachhaltig verstörenden Zeilen nun mitten hinein in den immensen Gärtopf der Rede- und Meinungsfreiheit:

"Ich hoffe, es geht allen gut. Bis jetzt uns auch, aber wer weiß, was kommt.
Denn seit dem 18. Mai ist jede Ferienwohnung belegt, verschiedene Arbeitertrupps sind hier, in der Woche auch Tagestouristen.
Das alles müssen wir erst einmal verdauen, es war so schön unter unserer Glocke!"

Freitag, 5. Juni 2020

Vollmond

Schon wieder! Mein Kater geht seit ein paar Nächten auf Streifzüge. Hat den Wintermodus endlich hinter sich gelassen, die Winterdepression, die Wintermüdigkeit. Ruht unten auf den Tatamis, näher an der Klappe, näher am Futternapf, näher am Designerklo. Schwarzer kleiner Teufel! Angeblich todkrank und schon ein Greis. Kommt kurz rein, um zu fressen, zu trinken und das Hausklo zu benützen! Und trabt zufrieden von dannen. Heute musste er am frühen Abend tief und fest schlafen, um rechtzeitig zur Mondanbetung wieder munter zu sein.

Donnerstag, 4. Juni 2020

Tian'anmen

31 Jahre sind eine lange Zeit. Und das Vergessen schreitet voran. Unaufhaltsam. Natürlich habe ich die Bilder von damals immer noch im Kopf vom Platz des Himmlischen Friedens. Ich haben ihn Ende Mai 1989 verlassen und bin in die Transsib nach Westen gestiegen. Ich habe nicht gesehen, was danach geschah. Da muss ich mich auf die Bilder anderer verlassen. Meine eigenen und nicht eigenen Bilder trügen. Und das Gedächtnis sowieso.

Mittwoch, 3. Juni 2020

Mittzeit

Der erste Sommertag. Hochbetrieb am Deich. Alle sind wach geworden. Am Abend soll die Herrlichkeit schon wieder vorbei sein. Gewitter und Starkregen.

Dienstag, 2. Juni 2020

Blauzeit

Immer noch Nipptide. Aber nachlassender Wind. Das Wasser ist absolut still. Reglos. Nur ich bin da. Die Nordsee geht am Horizont in den Himmel über. Oder umgekehrt. Glasklare Sicht. Die Bohrinsel zum Greifen nah. Aber die Schleierwolken verschleiern das Wasser. Fallen in die Sicht. Trüben die Klarheit. Ich knipse mit dem Smartphone unzählige Male und kein einziges Bild wird scharf. Also lasse ich das unvergessliche Blau, packe die Ruhe in meinen Fahrradkorb und fahre mit ihr nach Hause. Setze mich auf meinen ferrararoten Wackelhocker und arbeite. 

Montag, 1. Juni 2020

Die endliche Qual

Zum Monatsbeginn: Igor Levit spielte von Samstagnachmittag bis Sonntagfrüh 840 Mal Erik Saties Vexations. Wie vom Komponisten vorgegeben:
Um dieses Motiv achthundertvierzigmal zu spielen, wird es gut sein, sich darauf vorzubereiten, und zwar in größter Stille, mit ernster Regungslosigkeit.
Angeblich (natürlich nicht, siehe Halberstadt und John Cage's Orgelkomposition 2 ASLSP - As Slow aS Possible, die voraussichtlich im Jahr 2640 zu Ende sein wird) das längste Stück der Musikgeschichte. Vielleicht das längste Klavierstück. Gerade mal eine Seite lang, aber 840 mal zu repetitieren! Im Livestream. Alle konnten und können zusehen. Zuhören. Kommentieren. Wie der Pianist angeblich sich quält (ich denke, er ist in seiner Bestform) und die 840 Notenblätter abarbeitet, eines nach dem anderen zu Boden wirft. Gut, dass diese Aufführung nach wie vor im Netz zu sehen und zu hören ist. Und schade, dass das Vergängliche unvergänglich wird. Aber der Pianist braucht Zeugen für seinen Akt.