Sonntag, 7. Juni 2020

Das Glas

Mein Glaswasserkocher will nicht mehr Wasser kochen. Ich habe ihn liebgewonnen, weil ich die Temperatur wählen kann für mein Teewasser. Nicht immer muss ein Wasserkocher Wasser kochen. Er ist bunt. Gibt Leuchtsignale. Bei 60° grün, bei 70° blau, bei 80° gelb, bei 90° lila, bei 100° feuerrot! Auch die Farben habe ich, selbstredend, liebgewonnen. Ich denke längst nicht mehr über Wassertemperaturen nach nach dem Aufstehen, sondern steuere blind meine Lieblingsfarbe an.
Das ist geblieben. Die Farben geben unverdrossen ihr Signal. Ich kann sie alle der Reihe nach anwählen. Auch gibt der Wasserkocher nach wie vor Geräusche von sich. Piepst, wenn ich ihn auf den Stromsockel stelle, sowie bei jeder Berührung des Bedienfelds. Also hat er Saft. Trotzdem will er nicht arbeiten.
Ich nehme an, es verhält sich so wie bei meiner high-tech-Hausundhofheizungsanlage. Die funktioniert bei aller elektronischen finesse nicht mehr, wenn der Außenfühler (ein kleines, gut verpacktes Teil an der Hauswand) versagt und die Außentemperatur als fake übermittelt. Wenn mitten im Winter draußen plötzlich 50° Celsius plus herrschen, hört natürlich die Heizung im Haus auf zu heizen.
Ich nehme an, dass der Temperaturfühler im bunten Glaswasserkocher defekt ist, ein kleiner Metallstift, gut sichtbar in den Boden des Heizfeldes eingelassen, sichtbar gut gepflegt, entkalkt und glänzend. Natürlich ist im Unterschied zum Außenfühler eines "Ferraris unter den Heizungsanlagen" (Zitat Schornsteinfeger) der Temperaturfühler eines Glaswasserkochers wahrscheinlich nicht austauschbar. So etwas nennt die Wirtschaft - oder die Literatur "geplante Oboleszenz":
"... eine den Umsatz steigernde Strategie der Hersteller, welche die Lebensdauer der Waren konzeptionell verkürzt, Verschleiss begünstigt und Ersatzteile überteuert oder gar nicht mehr anbietet." (judith arlt, friedas gangarten, S. 77)

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