Donnerstag, 30. Juni 2016

Schutzzone

Monatsende und Stimmungstief. Ich verlasse nun literarisch die "grenzüberschreitende Weltnaturerbestätte Wattenmeer." Es ist normal, dass nach der Euphorie das Frustrierende vor der Tür steht, ehe die Gewöhnung eintritt. Die Hochstimmung hat überdurchschnittlich lange angehalten. Und in naher oder ferner Zukunft wird mich die entfesselte Missgunst auf der Hallig nicht mehr berühren. Ganz im Gegensatz zur Artenvielfalt im gezeitenabhängigen Feuchtbiotop, die mich weiterhin fasziniert. Am frühen Abend beruhigt Starkregen meine Gedanken. Auf die Natur ist immer Verlass. Der Hubschrauber, er darf hier ein letztes Mal erwähnt sein, fliegt zweimal gegen Osten und erschreckt die Kuhherde vor meinem Fenster.
"Ausschlaggebend für die Aufnahme in die UNESCO-Welterbeliste waren ... die außergewöhnlich große Artenvielfalt und die ökologische und geomorphologische Bedeutung des Wattenmeers. Das Wattenmeer bildet die weltweit größte zusammenhängende Fläche aus Schlick- und Sandwatt. Insgesamt macht es 60 Prozent aller Tidegebiete in Europa und Nordafrika aus. Neben der reinen Wattfläche gehören zahlreiche andere Lebensräume, wie zum Beispiel Salzwiesen, Marschflächen, Dünen und Sandbänke zu der eingerichteten Schutzzone."
http://www.unesco.de/kultur/welterbe/welterbe-deutschland/welterbe-wattenmeer.html

Mittwoch, 29. Juni 2016

Wärmehaushalt

Neben exothernen Reaktionen (Verbrennung, Aushärten von Beton) gibt es endotherme (Energie wird von außen zugeführt, zB bei Kernfusion, Teilchenbeschleunigung), autotherme (Gesamtprozess ist unabhängig von äußerer Energiezufuhr) und allotherme (Pyrolysen, Brenzen, Trockene Destillation oder Entgasung). Interessant ist, dass auch bei chemischen Prozessen der Begriff der Freiwilligkeit eine Rolle spielt.
Das Wasser der Nordsee ist nach wie vor wärmer als die Luft. Bin ich erstmal drin, geh ich ungern wieder raus. Unabhängig von der Tageszeit. Die Flut ist gerade auf dem Weg in die Nacht.

Dienstag, 28. Juni 2016

Freiwerdung

Gegen Abend beruhigt sich alles. Der scharfe Wind aus Ost, Südost, die Kälte, das Wasser, die Quallen, das Licht. Ich gehe am Landsende schwimmen und vergesse. Die geschwätzige Überfahrt. Das müde Ankommen und die laute Lektüre in der Mittagssonne. Den Hubschrauber, der am Nachmittag schon auf Hanswarft steht. Insgeheim schreibe ich natürlich unentwegt an meiner Freiwerdung - an exothermen Reaktionen, die ablaufen, indem sie Energie, meist in Form von Wärme freisetzen.

Montag, 27. Juni 2016

Montag in der Stadt

Ich laufe von einem Gespräch zum andern. Die Scheinheiligkeit, die sich in einem Wertpapierdepot auftut: ich erbe Nestlé-Aktien! Meine helvetischen Landsleute spenden gerne für die armen Kinder in den Slums dieser Welt. Daneben vermehren sie fröhlich ihr Vermögen mit Aktien von Nestlé. Damit sie spenden können. Für die Armen. Dieser Konzern (siehe hier: http://www.bottledlifefilm.com/) ist dafür verantwortlich, dass den Kindern und Müttern in den Slums dieser Welt der freie Zugang zu Trinkwasser entzogen wird. Dass sie es abgefüllt in Plastikflaschen für viel Geld kaufen sollten, das sie nicht haben, und deshalb verdursten oder krank werden an Unsauberem. Natürlich stosse ich alles sofort ab. Ich brauche nur Laufschuhe, damit ich besser um die Hallig komme. Demnächst laufe ich aber barfuß.

Sonntag, 26. Juni 2016

Sonntag in der Stadt

Andere gehen auf Brautschau. Ich gehe auf Häuserschau.
Versuche dann im Rosenbeet dem Wildwuchs im Garten Frau zu werden. Obwohl ich überrascht bin, wie gesund und froh alles aussieht. Man sollte einen Garten einfach sich selbst überlassen. Der weiß schon, wohin er will. Zur Belohnung Eiscafé. Und Schwimmen in der Meldorfer Bucht. Kein Mensch weit und breit. Das Wasser ist so warm wie auf der Hallig, der Wind so kalt wie auf der Hallig. Auf dem Heimweg abnehmend aus West, immerhin! Im Rücken. Angekommen stelle ich die Sauna an.

Samstag, 25. Juni 2016

Festland

Festlandtermine. Heidetermine. Frisörtermine. Singtermine. Freundschaftstermine. Briefkastentermine.
Wie immer seit einem halben Jahr schwankt mir der Boden unter den Füßen, wenn ich länger als eine halbe Stunde auf dem Festland bin. Dem sogenannten festen Land. Andere sagen, es verhalte sich genau umgekehrt. Dass die ganze Hallig in der Nordsee schwanke.
Ich weiss nicht mehr, wie man einen Bankautomaten bedient. Ich verirre mich im Regen einer Stadt. Und ich kann hier nicht einfach alle duzen.

Freitag, 24. Juni 2016

Der Wanderkelch

"Maischberger" wollte mich haben zum Thema "Tatort Klinik". Was kann ich dazu (http://www.spiegel.de/panorama/justiz/krankenpfleger-niels-h-dutzende-faelle-in-delmenhorst-und-oldenburg-a-1099217.html) noch sagen, außer, dass ich es immer schon gesagt habe (http://juditharlt.de/entlassen-nach-tod/)?
Nun aber haben die Briten für Brexit gestimmt und die Aktualität von Krankenhaus- oder Intensivstationstötungen ist in die zweite Reihe gerutscht.
Dieser Kelch ist also an mir vorbeigewandert.
Etwas verspätet allerdings habe ich bei der Gelegenheit zur Kenntnis genommen, dass die Talksendung "Menschen bei Maischberger" seit geraumer Zeit nur noch "Maischberger" heißt. Überall wird das nicht mehr aktuelle in die zweite Reihe verschoben oder ganz eliminiert. Ich lebe nicht erst auf der Hallig Fernsehlos. Je älter ich werde, desto mehr schätze ich auch die mentale Askese.
Ich gehe also zur Flut am Landsende schwimmen. Die Unwetter verschonen die Hallig seit Tagen großzügig. Das Wasser aber läuft ebenso großzügig seit Tagen höher auf als normal. Bodenlos im Wattenmeer schwimmen - das kommt nicht alle Tage vor!

Donnerstag, 23. Juni 2016

Schlangegucken

Gestern Abend auf meinem Sonnen-untergangs-spaziergang bemerkte ich die ersten Löcher in den Schalen. Ich besuche die Nester wie meine Nachbarn.

Heute Abend - perfekt getarnt! - sieht das Nest von weitem leer aus, denn die Eier leuchteten immer. In dem scheinbar verlassenen Nest. Die Austernfischermutter hockt in sicherer Entfernung. In der einbrechenden Nacht. Sie kennt mich mittlerweile. Und lässt mich gucken. Sie guckt auch. Wir gucken alle. Das ist wie Schlangestehen. Jeder hinter dem andern her, mit heißem Atem im Nacken. Jeder über des andern Schultern. Wehe er tut etwas Unrechtes!

Mittwoch, 22. Juni 2016

Streicheleinheiten

Das Wasser sieht derzeit aus wie auf meiner Website. Umspült die Hallig glitzernd in der Nachmittagssonne. Etwas unruhig, aber nicht zu sehr. Freundlich, warm.
Ich muss länger drin bleiben, weil ich nackt bade und gerade eine Schulklasse des Weges kommt. Und spüre plötzlich, wie etwas meinen linken Ellbogen umschmeichelt. Nach der Berührung, die sanft ist, kommt der Brand, der höllisch ist. Wahrscheinlich eine Seestachelbeere.

Heute wäre mein Meister 90 Jahre alt geworden. Überall Berichte, Erinnerungen, Fotos. Eines der schönsten - für mich - ist auf der Seite des polnischen Radios zu sehen. Hören kann man ihn auch unter den angegeben links. Sein Gesicht ist unverwechselbar wie seine Hand, seine Stimme, sein Standpunkt: er rauchte immer nur im Sitzen, jedenfalls im Alter, seit das Rauchen in Cafés und anderen öffentlichen Räumen auch in Polen verboten war:
http://www.polskieradio.pl/8/755/Artykul/1633428,Tadeusz-Konwicki-Z-ironia-nie-tylko-o-tajemnicach   

Dienstag, 21. Juni 2016

Sommersonnenwende

Der Sommer beginnt um 00:34 MESZ und damit der längste Tag auf der Hallig. Wie die meisten verschlafe auch ich den Beginn. Der Sommeranfang ist immer der Tag der Sommersonnenwende. Die Sommersonnenwende, lese ich, ist astronomisch der Zeitpunkt, "an dem die scheinbare geozentrische ekliptikale Länge der Sonne 90° beträgt." Das soll mal eine einfache Halligschreiberin verstehen! "Scheinbar" weil: unter Berücksichtigung der Aberration und Nutation.
das letzte Licht der Sommer-
sonnenwende über Hooge
Um diese Wörter zu verdauen, laufe ich zum Sonnenuntergang um die Hallig. Im Uhrzeigersinn. Erstmal straks nach Westen. Dem Untergang zu. Das Watt liegt trocken. Der Wind hat sich beruhigt. Es ist heiß, wie noch nie. Ich ziehe alles aus, was ich ausziehen kann. Schlage einen strammen Schritt ein. Mache zwei Pinkelpausen und ein paar Fotopausen (ha!) im Westen. Eine Mülleimerpause, um eingesammelte Luftballons zu entsorgen. Keine Trink- und keine Esspausen. Nach Sonnenuntergang wird es kalt. Ich ziehe mich zitternd wieder an. Die Vögel attackieren mich trotzdem. Ich drohe ihnen mit meinen Stock. Der beeindruckt sie nicht. Ich bin ein Eindringling und muss vertrieben werden. Es ist angenehmer, in den Tag zu laufen als in die Nacht. Ganz großes Pathos. Das Licht ist freundlicher als die Finsternis. Wen wundert's. Diese Nacht wird nicht klar. Am Himmel ziehen sich schwarze Wolken zusammen. Die schwindende Helligkeit hinterlässt ein diffuses Grau. Das Grauen. Nicht am Morgen, sondern am Abend. Der Mond zeigt sich für ein paar Sekunden feuerrot (angeblich erdbeerrot) in einer Wolkenlücke, als ich das Landsende nach zweieinhalb Stunden wieder erreiche. Ich nehme es als Belohnung dafür, dass ich die Bedrohung durch den Lichtverlust ertragen habe. Das Unsichere unter freiem Himmel. Das Düstere an den Salzwiesen. Obwohl ich mittlerweile jeden Halm auf der Hallig kenne, bin ich vor Fehltritten keineswegs gefeit. Ich steige glücklich auf mein Fahrrad und eile auf die Warft.

Montag, 20. Juni 2016

Vollmondtag

Seit ein paar Nächten träume ich. Ich habe ein halbes Jahr lang hier tief und fest und traumlos geschlafen. Heute bin ich aufgewacht mit einem Halligtraum unter den Lidern. Er war grün und mild.
Ganz im Gegensatz zu dem Toben draußen. Das Wetter verschlechtert sich kontinuierlich von Stunde zu Stunde. Der Mond ist fast gleichzeitig mit der Tide voll aufgelaufen. Auf das Schwimmen verzichte ich, auf das Reden auch. 

Sonntag, 19. Juni 2016

Blick nach innen

Geweckt wurde ich von Pärts Fratres. Erst wollte ich schlaftrunken das Radio wieder ausmachen. Bis ich begriff. Und mich von der Violine - gespielt von wem? sicherlich nicht von Harry Traksmann  - zersäbeln ließ. Wehrlos. Und glücklich. Dass so etwas läuft. Im Nachtprogramm. Vor Tagesanbruch.
Und nun. Nach dem Mittagessen. Heimkino: http://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/expeditionen_ins_tierreich/Expeditionen-Die-Nordsee-unser-Meer,expeditionen472.html
Eine nochmals andere Nordsee. Von oben und von unten. Von innen und aussen. Zu wenig Stille, obwohl es schon verhältnismäßig viel davon gibt. Herrlich lakonische Kommentare, atemberaubende Bilder.

Samstag, 18. Juni 2016

ab ovo

Was für ein erfrischendes Gefühl in den Waden: ich bin vor Acht schon wieder zu Hause! Nachdem ich auf der Suche nach dem Sonnenaufgang (vergeblich) um die Hallig geeilt bin. Viel Wolken hab ich abgekriegt, fast keine Sonne und viel Wind. Der blies mir die ganze Zeit so unverschämt ins Gesicht, dass ich mich nicht einmal zum Frühstück hinsetzen mochte. Ich wartete rund um die Hallig vergeblich darauf, dass er mir, wie es nach allen Gesetzen der Logik zu erwarten gewesen wäre, irgendwann in den Rücken fiele. Pustekuchen!
Wie zur Belohnung hockten mir dann kurz vor dem Landsende plötzlich Jungvögel vor den Füßen. Guckten etwas erschrocken udn ich guckte erschrocken zurück. Mutter war seltsamerweise nirgends zu hören oder zu sehen. Frisch geschlüpfte Austernfischer. Also zückte ich das Smartphone. Die Eierschalen noch nicht zerdrückt oder aufgefressen. Auch dieses Bodenbrüten dürfte nach den Gesetzen der Vernunft nicht erfolgreich sein in Gegenden, wo Menschen mit Schuhen herumstapfen. Mitten auf dem Sommerdeich lassen die ihren Nachwuchs schlüpfen und hauen ab ins Watt, um mit dem Schnabel voller Würmer wiederzukommen. Wunderbar!

Freitag, 17. Juni 2016

Nebenprodukt

Ein Neben- oder Abfallprodukt meines Ausflugs nach Bydgoszcz ist, dass ich nun Dürrenmatts Tunnel zusammen mit Wojtek ins Polnische übersetze. Zwischendurch schaue ich immer wieder von meinem Bildschirm auf. Zum Fenster hinaus. In den Himmel. In die Wolken. Auf die Fenne. Auf die glücklichen Kühe und glücklichen Kälber, die hier herumtollen. Wer es nicht mit eigenen Augen sieht, wird es kaum glauben und sich auch gar nicht vorstellen können, wie gut gelaunt die Rindviecher auf Hooge herumspringen (mit etwas Glück kann man sie vielleicht auf einer der Webcams erhaschen). Dies alles tue ich nur, um nicht den Verstand zu verlieren über dem Text meines Landsmannes und seiner grausigen Vorstellung vom Burgdorftunnel, an dem nichts ungewöhnlich ist, ausser "dass er nicht aufhört".
Es ist Freitag Abend und ich habe nun alles verstanden! Das ganze Universum!

Donnerstag, 16. Juni 2016

Sommer

Es ist so warm, dass ich am Mittag eine Stunde auf dem Deich an der Sonne liegen kann. Und mir danach beim Kaufmann ein Eis holen muss. Wie im richtigen Sommer.
Ich lese auf dem blühenden Deich - er summt wie eine hochalpinen Blumenwiese -, dass man dem Erbauer des (alten, mit den vielen Kehrtunnels in die Höhe geschraubten) Gotthardtunnels, Louis Favre die Worte in den Mund legte: "Ich glaubte gegen den Berg anzukämpfen ...  aber die Menschen sind viel schlimmer."
Das trifft leider nicht nur auf das Alpenmassiv des heiligen Gotthard zu. Wir Menschen sind überall "viel schlimmer".

Mittwoch, 15. Juni 2016

Kopfstand

Der Deich blüht gelb. Der Mittwoch ist grün. Hooge steht Kopf. Die Fennen im Süden leuchten bereits bordeauxrot. Wer hätte das gedacht, im Januar oder März? Noch Anfang Mai war alles karg. Und nun drängt so viel Buntes aus dem Halligboden.

Dienstag, 14. Juni 2016

Sonnenuntergangsschwimmen

Knutts, Pfuhlschnepfen, Alpenstrandläufer ziehen auch weg. Sie brüten in der Arktis. Ihnen ist es hier zu warm. Ich kann das verstehen. Übrig bleiben die Stare, in Schwärmen gefangen in den alten Bäumen rund um den Fething. Und die Rotschenkel. Die Austernfischer. Die Sandregenpfeifer. Lachmöven. Küstenseeschwalben. Die auf dem Deich hocken und uns mit aller List, mit spitzen Schnäbeln, schrillen Schreien und spritzendem Kot verfolgen. Wenn alles nicht hilft, stellen sie sich krank und lahm, ziehen so die Aufmerksamkeit auf sich und von den Jungvögeln weg. Ich komme erst zum Sonnenuntergang ans Landsende. Handschlag mit dem Abendhochwasser.

Montag, 13. Juni 2016

Regen

Soviel Regen wie heute war schon lange nicht mehr. Die Hallig ist laut und grün geworden. Die Vögel haben jetzt das Sagen. Sie tschilpen jeden Eindringling weg. Sogar beim Schwimmen werde ich aus der Luft angemeckert. Es haben sich schon ganze Schwärme gebildet, die unentwegt über meinem Haarschopf kreisten. Etwas anderes guckt ja nicht aus dem Wasser. Und die Absicht der offenen Schnäbel ist eigentlich immer ein offenes Buch.
Gerade eben habe ich das Abendschwimmen unbeschadet überstanden. Der Regen hat aufgehört, Schuhe und Strümpfe sind trocken geblieben, der Wind wird zunehmend auflandig heftig, fuchsteufelswild.

Sonntag, 12. Juni 2016

Pendeleimer

Ist er, ist er nicht? Da. Der Metallmülleimer mit dem eingespannten blauen Plastikmüllsack, von dem man immer den oberen Rand herausleuchten sieht, so ozeanblau wie die Nordsee nie daherkommt, rechts neben der weißen Bank auf halber Strecke am Weg zwischen den mittlerweile sattgrünen Fennen zum Landsende. Ist er da, ist er nicht da? Er verschwindet immer mal wieder über Nacht oder über Tag und taucht dann irgendwann im Laufe des nächsten Tages oder eben der nächsten Nacht wieder auf. Je nach Zyklus. Er pendelt hin und her wie die Tide, wie auf Geistes Füßen. Oder entführt von Geistes Hand. Oder eilt auf Geisterfüßen über die Hallig. Wohin? Wohin? Strebend wonach? Wonach?
Ich brauche ihn nicht, kann ihn aber gut verstehen. In seinem Drang nach Weglaufen, unstetem Wanderdasein. Heute ist er wieder einmal nicht da. Es ist Sonntagmorgen und es regnet. Ich wage mich zum ersten Mal seit zehn Tagen wieder am Landsende ins Wasser. Auch aus praktischen Gründen. Der Klowagen dient mir als Wetterfestung. Die Damenabteilung ist mit zwei Kleiderhaken ausgestattet. Leider sichte ich als erstes doch eine der mittelgroßen blauen Nesselquallen. Sie sind so zäh wie ich.

Samstag, 11. Juni 2016

Vier Uhr Vier

Aufbruch zum Halligrundgang. Vor einer Woche ging ich eine Stunde später los. Jetzt sehe ich: eine Dreiviertelstunde vor Sonnenaufgang ist der Himmel voller Farben und aufgeregt! Westlich des Anlegers heult unten am Steindeich ein Heuler. Ich hätte ihn sonst kaum wahrgenommen. Wie ein Chamäleon versucht er sich dem Morgenrot anzupassen und gleichzeitig dem auflaufenden Wasser zu entkommen. Beides wird ihm nicht gelingen, aber sicherlich kann er schwimmen. Vielleicht trifft er sogar seine Mutter wieder.
Vor einer Woche attackierten mich viel mehr Seeschwalben am Seglerhafen. Heute stehen dort viel mehr Zelte. Alle Welt schläft noch.
Die Flut kentert, während ich im Nullpunkt Tee trinke. Am Süderdeich angekommen, ist das Wasser schon so weit abgelaufen, dass ich mich beeilen muss. Um diese Zeit sitzt immer noch niemand im Strandkorb. Hastig deponiere ich meine Habseligkeiten. Wanderschuhe. Rucksack. Ein angebissenes Brötchen. Meine Laufbrille. Dann jongliere ich über die Steine und steige ins Wasser hinunter. Es reicht mir nur noch bis zu den Hüften und ist immer noch wärmer als der Wind!

Freitag, 10. Juni 2016

Ei mit Salz

Es ist unmenschlich, mit einer fastenden Schülerin Sätze zu üben wie "Ich esse gerne Kuchen und Eis". Ich trinke Kaffee mit Milch. Ich esse gerne Ei mit Salz. Ananas mit Mandeln. Salat mit Tomaten. Paprika mit Reis. In Öl gebackene Knoblauchauberginen. Ich faste und trinke bis Sonnenuntergang kein Wasser, geschweige denn Tee mit Zitrone. Das Leben in Norddeutschland ist kein Zuckerschlecken.

Donnerstag, 9. Juni 2016

Sudenversuch

Dreizack oder Röhrkohl, Strandaster. Suden. Kann frau jetzt sammeln auf den Salzwiesen, Grabenkanten und Prielrändern. Am Wattufer und im Angespülsaum. Die jungen Triebe nach Hause nehmen, säubern, in drei bis vier Zentimeter lange Stücke schneiden und kurz aufkochen. Abgießen. Fertig. Im Rezept steht "4-6 Hände", aber ich hab nur zwei. Und die Austernfischer plärren mich so hartnäckig an, dass ich unverrichteter Dinge nach Hause gehe.

Mittwoch, 8. Juni 2016

Windwechsel

Vor einer Woche überschlugen sich die Superlative zum längsten Tunnel der Welt. Der Gotthardbasistunnel. 57 Kilometer, 17 Jahre Arbeit, 11 Millionen Euro Kosten. Zu Spitzenzeiten waren 2'400 Bauarbeiter in drei Schichten gleichzeitig am Werk, die allerwenigsten von ihnen besaßen ein Bleiberecht in dem Land, das sich rühmen kann, dass das Zentrum der Alpen, das Gotthardmassiv vollständig auf seinem Territorium liegt. Steigungsfrei kann inskünftig der Verkehr mit Höchstgeschwindigkeit unter den Alpen durchrauschen. Ein Dithmarscher user (Name und Adresse der Red. bekannt) auf facebook fragt zurecht: "Hätte man den Gotthard-Basistunnel nicht gleich bei Basel beginnen und in Como enden lassen können? Dann bliebe uns bei der Reise nach Italien die Schweiz gänzlich erspart."
Ich aber lese statt ewig sich wiederholender Pressemeldungen den Bericht von Mona Blatter, die "in eine absolute Männerdomäne eingebrochen" ist, als sie am 21. Juli 1999 - vermutlich als erste Frau der Welt - zu Fuß durch einen Tunnel ging. Durch den nunmehr "alten" Gotthardscheiteltunnel: 15 Kilometer unter durchschnittlich 1800 Metern Gestein, ein Tagesmarsch von 8 Stunden bei einer Durchschnittstemperatur von über 30° sowie einer mittleren Luftfeuchtigkeit von mehr oder minder 100°. Mona Blatter läuft von Süd nach Nord, von Airolo nach Göschenen, folgt zwei italienisch sprechenden Streckenwärtern auf ihrem wöchentlichen Kontrollgang. Kurz nach der Hälfte, kurz vor dem Tunnelscheitel, dem höchsten Punkt im Tunnel (bei km 8,315) notiert sie: "... Windstill. Wie wenn die Zeit stillstehen würde. Ich frage, warum es diese vielen Wechsel von Windstille, Südwind und Nordwind gebe. Wenn zwei Züge aus beiden Richtungen in den Tunnel fahren, wird die Luft im Innern gestaut. Sie steht. Wenn kein Zug im Tunnel ist, ist ebenfalls Windstille. Sonst weht der Wind je nach Richtung des Zuges, entgegengesetzt." (Mona Blatter, È la prima - Zu Fuss durch den Gotthardbahntunnel).

Dienstag, 7. Juni 2016

Distelfalter

Auch der Distelfalter ist ein Wanderfalter. Ein Pendler zwischen den Kontinenten. Aber ein unzuverlässiger. Vanessa cardui. Es gibt Distelfalterjahre und Distelfalterfreie Jahre. Letztes Jahr meldeten die Distelfalterbeobachter bis zu zehn mal so viele Falter wie in anderen Jahren. Sie legen ihre Eier auf Disteln ab, wie der Name vermuten lässt.  Sie brauchen sechs Generationen, um Hin- und Rückflug über 60 Breitengrade zu absolvieren. Vier für den Flug über die Alpen nach Skandinavien, zwei für die Rückkehr ins westafrikanische Winterquartier. Wie die Insekten ihre erfolgreiche Strategie entwickelt haben, woher zB die 3. Generation weiß, in welche Richtung sie ziehen muss, bleibt (mir) ein Rätsel. Radarbeobachtungen aus dem Jahr 2009 belegen, dass die Falter auf ihrem Langstreckenflug günstigen Luftströmungen ausnutzen und auf eine Flughöhe bis zu 1000 Meter aufsteigen. Elf Millionen Distelfalter überquerten in jenem Jahr den Ärmelkanal Richtung Norden. Und Sechsundzwanzig Millionen flogen im Herbst ins Winterquartier zurück. Mal sehen, was dieses Jahr bringt. Einige hocken bereits auf Hooge. Disteln gibt es hier genug.

Montag, 6. Juni 2016

Neumondsichtung

Der Fastenmonat Ramadan ist nicht nur vom Neumond abhängig, sondern auch von der Neumondsichtung: "Fastet, wenn Ihr den Neumond seht und beendet das Fasten mit dem darauffolgenden Neumond."
Auf Hooge war der erste Neumond heute kurz vor und kurz nach Sonnenuntergang am westlichen Horizont sichtbar. Meine Privatschüler sind wohlbehalten auf die Hallig zurückgekommen.

Sonntag, 5. Juni 2016

Luftnotfall

Auf dem Japsand ist am Nachmittag ein Sportflugzeug sicher notgelandet. Auch so kann man von Sylt nach Hooge kommen, durch einen Luftnotfall über See.
https://www.ndr.de/nachrichten/Notlandung-auf-der-Sandbank,notlandung154.html
Das Flugzeug stehe hochwassersicher, heißt es in einer Pressemeldung. Und Gefahr, dass die Nordsee verschmutzt werde, bestehe nicht. Aber wie viele Vögel wurden aufgestört? Wieviele Seehunde?

Samstag, 4. Juni 2016

Wassertemperatur

Ich laufe zum Sonnenaufgang um die Hallig. Ich muss nachdenken. Eine Lüge wird nie wahr, auch wenn sie tausendmal wiederholt wird. An der Schleuse attackieren mich die brütenden Seevögel. Die Austernfischer kreischen fürchterlich und peilen mich im Sturzflug an. Immer und immer wieder. Man soll sich mit einem Stock wehren. Ich habe keinen Stock und sehe, dass ich weiterkomme. Das Watt ist trocken rund um die Hallig. Ich könnte im Matsch laufen statt auf dem Steindeich. Barfuß. Mit aufgekrempelten Hosen. Am Süderdeich holt mich bereits die Hitze ein.
Das Landsende ist voller Quallen. Auch sie lieben das warme Wasser. Nicht nur ich. Aber ob sie die Trockenphase bis zur nächsten Flut überstehen, kann mir niemand sagen.
Ich werde ihnen soweit möglich aus dem Weg gehen und am Mittag am alten Anleger schwimmen.

Freitag, 3. Juni 2016

Admiral

Ich hatte mich gestern gewundert, dass plötzlich ein Schmetterling die Wärme der Abendsonne auf der Hauswand genoss. Ich dachte, das sei ein Irrgast auf der Hallig. Ein Spätzünder.
Aber nein. Ein Wanderfalter. Vanessa atalanta, zu deutsch Admiral, weil die schwarz-weiß-roten Flügel an die Admirals-Uniform der Kaiserzeit erinnert. Eine etwas archaische Sichtweise. Ein Einwegwanderfalter. Ein Brennesselfalter. Die, die ich jetzt an der Hauswand in der Abendsonne sehe, kommen aus Südeuropa und legen ihre Eier in den Brennesselblättern in meinem Garten ab. Die hungrige Raupe nagt dann als erstes den Stängel an, so dass die Pflanze welkt. Die welken Blätter braucht sie, um sich darin zu verpuppen. Der neue Faltergeneration schlüpft im Spätsommer und nutzt auf Hooge den Sommerflieder auf den Salzwiesen.
Man sagt, jede Generation fliege nur eine Strecke. Der Falter an meiner Hauswand ist wahrscheinlich ein Frühlingsfalter, in Italien geschlüpft und über die Alpen nach Norden geflogen. Sie ziehen mitunter bis nach Schweden und Norwegen. Die auf Hooge geschlüpften Spätsommeradmirale hingegen werden, sobald sie anfangen zu frieren, wieder nach Süden fliegen.



Mittwoch, 1. Juni 2016

restart

Der erste Juni. Überfahrt auf die Hallig. Den Regen lasse ich auf dem Festland zurück. Es wird wärmer, je weiter hinaus ins Wattenmeer die Fähre vorstößt. Das Wasser ist gnädig und läuft mit uns auf. Ich betrete Hooge und wundere mich über Farben. Grün und Gelb. Auf der Straße nach Ockenswarft kommen mir Kühe und Kälber entgegen. Ausflug! Ich weiche ihnen aus und hoffe, dass sie mich ignorieren. Die afghanischen Mädchen sind um einen halben Kopf mindestens in die Höhe geschossen. Ich lege mein Gepäck ab und eile ans Landsende. Springe ins Wasser. Es ist so unglaublich sanft, dass ich gar nicht mehr raus will.