Samstag, 27. September 2008

Chambre séparée

Seit heute sind Sitzordnung, Anzahl und Geschlecht eindeutig definiert: drei Eulenmännchen sitzen im kleineren Ahorn und vier Eulenweibchen thronen im großen Ahorn. Die Eulen beider Gruppen sind sich näher gerückt. Bald bekommen wir alle sieben auf ein Bild.
Die Blätter des kleinen Ahorns sind schon durchwegs rötlich gefärbt und lichten sich.
Der große Ahorn trotzt noch ein bisschen der Zeit, bleibt grün und dicht. Es ist durchaus möglich, dass er unseren neugierigen Blicken weitere aufgeplusterte Eulenweibchen vorenthält. Dann betriebe er sogenannte Augenwischerei. Gleichzeitig verschont er mich noch gnädig vor zuviel Laubfegerei.

Freitag, 26. September 2008

Die Gartenkarre

Weil Besuch mit Auto da ist, haben wir heute eine 80 Liter fassende Gartenkarre, auch Schubkarre oder Schiebkarre genannt, angeschafft. Sie war in ihre Einzelteile zerlegt, was den Transport erleichterte. Ich ließ es mir nicht nehmen, sie selbst zusammenzuschrauben. Ich brauchte dazu meine beiden Hände sowie 9 Schrauben und 9 Muttern. Die Montageanleitung empfahl mir, zuerst alle Schrauben von Hand einzudrehen. Dann erst die Muttern mit einem geeigneten Werkzeug, zum Beispiel einem Rollgabelschlüssel nachzuziehen. Und nach einigen Tagen des intensiven Gebrauchs alle Muttern der Karre erneut festzudrehen.
Ich halte mich immer an Ratschläge auf Beipackzetteln. Sobald wir die Äpfel gepflückt und in die Garage gefahren haben, sobald wir den Kompost rund ums Haus verteilt haben, sobald wir das Laub und die stachligen Cupulae unter der Edelkastanie zusammengerecht sowie aus dem Baumhaus herausgefegt haben und die ganze Ladung, oder falls nötig auch mehrere in die neu ausgehobene Miete gekippt haben, werde ich die Gartenkarre auf den Kopf stellen und gelockerte Muttern bis zum Gehtnichtmehr festziehen.

Samstag, 20. September 2008

Eulenzählen

Wir entdeckten heute die vierte (im kleinen Ahorn) und die fünfte (im großen Ahorn) Eule. Die Spuren am Boden zeigen uns, wo sie sitzen. Die Anzahl der frischen Gewölle lassen vermuten, wieviele es sind. Wir mutieren zu Eulenzählern, W. der Eulenzähler und ich, die Eulenzählerin. Unsere Hauptbeschäftigung der nächsten Tage wird sein: Eulenzählen! Gleichzeitig beginnt das Laub zu fallen. Auch die Bäume hinterlassen Spuren am Boden. Wir wissen, dass die Eulen in den Laubbäumen tagsüber nur so lange sitzen bleiben, so lange die Blätter sie vor neugierigen Blicken der Menschen schützen. Die Nachbarin erzählte, dass die Waldohreulen im Winter bei ihr in den Tannen sitzen. Bis zu 15 Eulen drängten sich in einen Nadelbaum. Aber wenn es ihnen zu bunt oder zu laut werde, würden sie auch plötzlich verschwinden. Für ein paar Stunden oder Tage. Zum Beispiel, wenn Besuch aus der Stadt da sei und die Eulen aufdringlich und penetrant anstarre. Vielleicht versammeln sie sich jetzt bei uns, geben Rechenschaftsberichte über Zucht- und Jagdergebnisse des Sommerhalbjahres ab. Vielleicht beratschlagen sie in den Ahornbäumen über Winterschlafformationen. Während die Gastbäume schon das Laub fallen lassen, flüstern die Eulen sich womöglich Liebesschwüre in die Ohren, taktieren und intrigieren und stellen schließlich einen vernünftigen Überlebensplan für die kalte Jahreszeit auf, an den sich alle ohne zu murren halten werden. Die Chefwaldohreule, ein Weibchen, sitzt jetzt schon zuoberst im großen Ahorn. Sie genießt das Ältestenrecht. Sie war zuerst bei uns. Kaum hatte ich vorhin die gröbsten Gewölle unter den Bäumen weggefegt, fiel hinter mir, platsch, ziemlich viel schneeweißer und flüssiger Kot auf die Strasse und zerplatzte auf dem Asphalt. Das war sie, die alte und ehrwürdige Waldohreulendame! Damit hat sie mir deutlich und sichtbar zu verstehen gegeben, was sie von meinem Samstagstun hält. Uhus sollen, wie ich kürzlich las, mit dem leuchtend weißen Kot ihr Revier abstecken - warum sollen das also unsere Hauseulen nicht auch tun? Erst jetzt, wo es bereits ihrer fünf sind, entdecke ich auch Gewölle und weiße Kotspuren im Garten auf dem grünen Rasen. Bislang hockten sie nur außerhalb der Ligusterhecke, über dem schwarzen Asphalt. Und hinterließen dort, was sie verdauten oder was sie nicht verdauten und ausspuckten.

Donnerstag, 18. September 2008

Sprossenwanddemontage

Nein, ich habe sie nicht vergessen. Meine Lieblingswörter! Die Wörter, mit denen ich mein höchstpersönlich eigenes Jahr ausstaffieren werde. Meine privaten Wörter meines privaten Jahres. Nein, ich habe es nicht vergessen. Mein Jahr der Komposita. Mein Jahr der zusammengesetzten Substantive, dieser unerschrocken endlos langen und endlos verlängerbaren Wortungeheuer, welche die ungewöhnlichsten Konsonantenverbindungen und Konsonantenhäufungen an ihren ehemaligen Grenzen auflodern lassen. An den innerwörtlichen Grenzen, an den Enden oder Anfängen der einzelnen Wörter, der Wurzelwörter, der Zauberwörter, der sinnstiftenden oder sinnentleerenden Zusatzwörter und so weiter und so fort.
Da tauchen dann plötzlich auch Zwillingspaare auf.
Zum Beispiel ein seltenes Doppel-d. Alle Doppel-d's dieser Welt sind geistiges Eigentum des Dichters Joachim Ringelnatz, der bis 1919 mit bürgerlichem Namen Hans Bötticher hieß. Die Doppel-d's gehören genaugenommen seinem Seemann Kuttel Daddeldu. Noch genauer genommen stammen sie aus dessen poetischem Sprachschatz. Fast alle in diesem Schatz vergrabenen Doppel-d's sind vereinigt in der Gedichtzeile "Daddeldu Duddel Kuttelmuttel, Katteldu". Bis vor ein paar Jahren konnte man den Seemann KuddelDaddeldu auch noch im Namen eines Stralsunder Restaurants antreffen. Das wurde aber mittlerweile, wie ich einer Pressemeldung der Ostseezeitung entnehme, von innen und außen "aufgehübscht" und nennt sich nun lapidar "Hafenkneipe".

Einer ganz anderen Quelle entspringt das heutige Doppel-d mit seinen vielen wunderlichen Gespanen im Gepäck: Der Basellandschaftlichen Zeitung. In Gelterkinden (Gemeinde im Bezirk Sissach im Oberbaselbiet) heißt es, wie ich in der NOB (NordOstseeBahn) zwischen Wilster und Itzehoe, also schon jenseits des Kanals, sprich: fast in Hamburg lese, ist eine "Dreifachturnhalle" gebaut worden. Was immer man sich darunter vorstellen mag - dadurch ist die bisherige, fast 40 Jahre alte Turnhalle überflüssig geworden. Und da die Sekundarschule seit Jahren mit Platzproblemen kämpft (eine mögliche Folge der Stadtflucht kinderreicher Basler Familien), wurde beschlossen, die alte Turnhalle, die sogenannte "Pinguinhalle" in Schulräume umzubauen. Nie haben dort lebendige Pinguine gehaust. Aber hinterlistige oder hellsichtige Schüler mögen einmal einen oder mehrere Pinguine an die Innen- oder Außenwände gesprayt haben. Genaueres wird mir leider nicht gesagt in dem Zeitungsartikel, weder zur Anzahl noch zum Aussehen noch zum Standort der Gelterkinder Pinguine. Nur der Name der Turnhalle im Volksmund wird erklärt, grammatikalisch nicht ganz zu meiner Zufriedenheit: sie werde so genannt "wegen des Graffitis eines Lehrers, das längst nicht mehr sichtbar ist".
Ich lerne daraus so viel, dass die Welt aus sichtbaren und unsichtbaren Dingen besteht. Daraus wiederum folgere ich, dass die unsichtbaren Dingen in Wörtern weiterexistieren. Und dass ich mich nicht zu wundern brauche, wenn Sprache zuweilen keinen Zusammenhang, keinen für mich ersichtlichen Sinn zur Wirklichkeit mehr herstellt.
Der "Spatenstich" für die neuen Schulräume erfolgte durch die Sprossenwanddemontage. Dokumentiert wird dies in der Zeitung durch ein Schwarzweißbild. Ich sehe und glaube es, denn hier habe ich es mit der sichtbaren Welt zu tun, dass Hand anlegten: der Architekt, die Gemeindepräsidentin und ein Baukommissionsmitglied.

Mittwoch, 17. September 2008

Die dritte Eule

Seit heute früh haben wir eine dritte Hauseule. Hier guckt sie ganz neugierig, wer sie denn so neugierig anguckt.

Sonntag, 14. September 2008

Haithabu

Vor sieben Jahren schenkte ich W. zum Geburtstag einen Ausflug nach Haithabu. Irgendetwas hinderte uns damals, er war gerade 44 Jahre alt geworden und schrieb wahrscheinlich an den letzten Zeilen seiner Dissertation, die Reise von Berlin nach Haithabu anzutreten.
Die Route war bereits festgehalten, mit genauem Zeitplan, im Computer und auf ein weißes A4-Blatt ausgedruckt:

25.2.
wa aus elmshorn, ja aus berlin (ab 16.15h), treffen ca. 19.00h in hamburg/pinneberg

26.2.
vormittags fahrt nach schleswig, einchecken hotel, nachmittags stadt angucken, ostsee

27.2.
10 h führung wikingerhafen haithabu, wikingermuseum, nachmittags schloss gottorf, ca 17 h rückfahrt, ca 21 h berlin

Darunter schrieb ich am 26.2.2001 von Hand mit einem roten Stift "Hast Du noch zu gut als Geburtstagsgeschenk".


Dieses A4-Blatt ist all die Jahre nicht verloren gegangen. Heute nun kann es endlich vernichtet werden. Ich sparte mir die Anreise aus Berlin sowie eine Übernachtung in Hamburg und eine zweite in Schleswig. Denn wir holen das Geburtstagsgeschenk als Eintagestour nach.
In der Früh stiegen wir, es war frisch wie im Winter und ich bedauerte, keine Handschuhe übergezogen zu haben, auf die Fahrräder, nahmen um 8.20 h am Bahnhof in Meldorf die NOB über Husum nach Schleswig, radelten von dort nach Haithabu, besichtigten das Wikinger Museum, die rekonstruierten Wikinger Häuser (die hätten wir vor 7 Jahren noch nicht gesehen, also hat sich das Ausharren gelohnt), das Danewerk ("größtes archäologisches Denkmal Nordeuropas") und das Danewerkmuseum, fuhren dann westwärts auf dem Ochsenweg, der Waldemarsmauer entlang, bogen in Hollingstedt auf den Eider-Treene-Sorge-Weg ein, durchquerten mehrere Moore bis wir auf dem Wikinger-Friesenweg nach Schwabstedt kamen, wo wir uns beeilten, um vor dem Regen Friedrichstadt zu erreichen. Abendessen im Alten Amtsgericht. Rückfahrt mit der NOB. Meldorf an 21.08 h.

Samstag, 13. September 2008

Samstag, der Dreizehnte

Ich bin nicht abergläubisch. Ich glaube weder an einen Dreizehnten noch an einen Freitag oder Montag noch an ein Unheil an einem Samstag. Vollmond ist erst übermorgen. Die ganze Woche war in tiefes Blau getaucht. Und heute ist der Tag des Grün. Grün wie Gras. Ich mähe Rasen. Rund um unsere Häuser. Das kostet mich einen halben Tag. Ich mähe und reiße Unkraut aus, grabe Ahorntriebe aus und fälle mit der Baumschere unerbittlich, ja grausam, denn sonst überfällt eines Tages der Ahorn uns und unsere Häuser, junge Ahornbäume, Ahornschonungen, ganze zukünftige Ahornwälder verlagere ich in die Biotonne, dann entferne ich suppentellergroße Pilze aus dem Moos, grabe stachlige Hagebuttentriebe aus, ziehe grüne Gartenhandschuhe an und nähere mich mutig den Brennnesseln und Disteln. Grabe Giersch aus, ziehe kilometerlange Gierschwurzeln aus dem Boden und weiß, dass dem Giersch trotzdem nicht beizukommen ist. Sammle grüne gefallene Äpfel ein. Und (heute zum ersten Mal) fasse vorsichtig gefallene grünstachlige Maronen an. Suche bunte Ahornblätter. Der kleinen Eule erkläre ich, dass ich leider lärmen muss mit dem Rasenmäher, sonst werde ich nicht Frau des Grün. Die große Eule ist heute ausgeflogen. Wahrscheinlich ist sie immer am Dreizehnten eingeladen zum Kaffee bei ihrem Liebsten.

Ab heute ist die Grenze zwischen den beiden Grundstücken endgültig aufgehoben. Nun liegt eine Wiese vor dem Küchenfenster - und nicht mehr zwei Wiesen getrennt durch einen Streifen dunkler (nasser) oder heller (trockener) Erde, auf der die Turteltauben, Grünspechte, Drosseln, Meisen und Spatzen sich lüstern tummeln und unsere Grassamen wegpicken.

Das Gras ist trotzdem gewachsen. Die Grenze ist trotzdem verschwunden. Vor und hinter den Häusern.

Mittwoch, 10. September 2008

Das blaue Gartentor

Heute vor einem Jahr kam der Umzugswagen nach Meldorf. Da das ungelenke Vehikel mit Anhänger, 2 Containern mit diesem und jenem, über 200 Bücherkisten, unserem Ehebett, diversen Tischen, Stühlen, Schränken und mehreren Stoffbären und Stoffpinguinen, nicht in die Einfahrt an der Flensburger Str. passte, wurde unser ganzes Hab und Gut durch das blaue Gartentor an der Schleswiger Str. ins Haus hinein getragen.

Heute vor 177 Monaten heirateten wir in Warschau. Vor einem Jahr waren wir also gerade 165 Monate verheiratet und hatten in beiden Häusern keinen Platz für Geschenke. Überall türmten sich Umzugskisten mit den skurrilsten Inschriften (zB "wir machen Ihren Möbeln Beine"). Und wir liefen beide andauernd fremden Männern in die Arme.

Heute leisteten wir uns zur Feier des Tages ein einfaches Geschenk. Ein Prismenfernglas mit Objektiv-Durchmesser von 25 Millimetern, zehnfacher Vergrößerung, Sehfeld von 96 m und erhöhter Lichtdurchlässigkeit, der so genannten "vollvergüteten Optik": einer als blauer Belag sichtbaren Aluminium-Schicht, die im Hoch-Vakuum auf jede Linsenoberfläche gedampft wurde und ein sehr helles und scharfes Bild bewirkt. Damit wir die Eulen besser sehen können. Unser Hauseulen, die tagsüber in den Ahornbäumen zu beiden Seiten des blauen Gartentors schlafen. Das blaue Gartentor hängt nämlich nur scheinbar schief in den Angeln. Nur auf dem Foto sieht unsere Welt so aus, als wäre sie aus dem Lot. Das blaue Gartentor hält im Gegenteil die Balance. Nur die Optik ist nicht optimal und die Strasse an dieser Stelle leicht abschüssig. Der Fotograf steht mit beiden Füßen fest auf dem Boden dieser Wirklichkeit: Wir wohnen seit einem Jahr am Klev. Auf der ehemaligen Küstenlinie. Am Kliff. Auf einer nicht mehr vorhandenen Steilküste. Auf jetzt nur noch fünf bis höchstens sechs Metern über Meeresboden oder Normalnull.

Montag, 8. September 2008

Schuhgröße 36

Heute fuhr ich nach Hamburg, um ein paar Paar blaue Schuhe zu kaufen. Ich werde diese Schuhe nie anziehen. Sie sind mir zu klein. Ich würde sie aber auch nicht anziehen, wenn sie mir passten. Ich brauche diese Schuhe nicht für meine Füße.
Ich wusste genau, in welchem Schuhladen in Altona ich die Schuhe finden würde, die ich nicht vorhabe, zu tragen. Der Fußweg war vom Bahnsteig aus in wenigen Minuten zu bewältigen. Wenn ich Glück hatte und mich beeilte, weder nach links noch nach rechts schaute, könnte ich den Zug, der dreizehn Minuten nach meiner Ankunft Richtung Westerland losfuhr, nehmen und müsste keine Zeit in Hamburg verlieren.

Ich brauche blaue Schuhe. In dreizehn Minuten. Genauer gesagt: Ich brauche einen einzigen blauen Schuh. Eine weiße Wand in meinem Haus verlangt nach diesem Schuh. Aber ich mochte mich mit der Verkäuferin nicht auf zeitraubende Diskussionen einlassen. Der Preis war eh heruntergesetzt, Auslaufmodell, Sommerkollektion, Totalausverkauf, wer nur zwei Paar kauft, muss zur Strafe ein drittes umsonst mitnehmen, von billig auf spottbillig. Ich bekam also zwei Schuhe zum Preis von einem, und könnte, wenn ich dies denn unbedingt wollte, die geschenkte Hälfte des Schuhpaares auch ohne Reue wegwerfen. Aus reiner Gewohnheit fragte ich, ob sie diese blauen Schuhe auch in meiner Größe habe. Sie schüttelte bedauernd den Kopf, das sei das letzte Paar. Ich nehme es trotzdem, erklärte ich und sie verschwand gehorsam im Lager, um den linken Schuh zu dem rechten in meiner Hand zu holen. Aus reinem Pflichtgefühl fragte sie, ob ich die Schuhe anprobieren wolle. Ich schüttelte bedauernd den Kopf, sie seien mir zu klein. Sie verzog keine Miene. Nahm den rechten blauen Schuh aus meiner Hand. Schlug ihn routiniert in das Seidenpapier ein und legte ihn seitenverkehrt neben den unberührten linken blauen Schuh in die Schachtel. Klappte den Deckel zu. Steckte das Ganze, die Schuhe in der Schachtel unter dem Deckel, in eine Plastiktüte. Griff nach meinem Zehneuroschein. Zählte mir zwei Euro und fünf Cent auf die Hand zurück. Reichte mir die Plastiktüte über die Theke. Verabschiedete mich mit einem aufrichtigen Lächeln: "Ich wünsche Ihnen viel Freude mit Ihren neuen Schuhen!" Ich verzog keine Miene. Mir blieben genau 3 Minuten und 49 Sekunden bis zur Abfahrt des Zuges.

Jetzt sitze ich schon wieder zu Hause an meinem Schreibtisch. Es ist Montag und ich mache mir Gedanken über das Blau meiner Dreizehnminuten-Schuhe. Es ist ein tiefes Königsblau. Vielleicht sogar ein Preußischblau. Oder reines Indigo. Sogenannte City Walk Pumps, schlanke spitze Form, dezente Schnalle, elegant unterstellter 20mm-Absatz, hauchdünne Ledersohle, völlig ungeeignet für norddeutsches Straßenpflaster. Nun muss ich den Maler mit der Malerleiter bestellen. Ich brauche Zugang zur Holzdecke in meinem Treppenhaus. Dann muss ich die Schuhfrau mit dem Schuhmacherhammer herbitten. Die blauen Schuhe wollen beide, wenn sie schon zusammen den Weg zu mir gefunden haben, festgenagelt werden. Der eine, der linke, soll wie ursprünglich geplant senkrecht, mit der Spitze nach oben, dem Absatz nach unten, an die Wand zwischen den Türen zu meiner Bibliothek und zu meinem Archiv. Ein blauer Kletterschuh. Der andere, der rechte fügt sich am besten in den goldenen Schnitt des Bildes an der Treppenhausdecke. Ein blauer Dachstockschuh. Das Festnageln wird während eines Festaktes stattfinden. Zu diesem happening wird zu gegebener Zeit gesondert eingeladen. Und was danach, nach dem Akt und dem gezielten Schlag mit dem runden Hammer auf zuerst den einen und dann den anderen Nagel folgt, bleibt, so lange das Haus steht, ein wetterfestes Indoor-Kunstwerk ohne Titel. Der erste Schritt in blau. Oder: Schuhgröße 36.

Donnerstag, 4. September 2008

Der Apfelbaum

Die Meldorfer Kinder gehen seit heute wieder in die Schule. In der Zeitung sind die Fotos und Namen der Erstklässler von ganz Dithmarschen abgedruckt. Die Sommerferien sind vorbei.
Da wir keine schulpflichtigen Kinder haben, ändert diese Tatsache an unserem Tagesablauf nichts. Aber der Apfelbaum schon. Denn der wirft seit längerem Äpfel ab. Der Pomologe sagt, der Apfelbaum entledige sich minderwertiger Früchte. Solcher, die Würmer beherbergen. Oder anderer, die - aus welchen Gründen auch immer - zu faulen anfangen.
Bislang übergab ich die kleinen, grasgrünen, steinharten Früchte dem Kompost (dort sind sie, wie ich mit Erstaunen zur Kenntnis nehme, rot geworden). Oder drapierte sie liebevoll um den Apfelbaumstamm. Möge er, der Baum etwas davon haben, dachte ich. Davon, dass der Apfel angeblich nicht weit vom Stamme fällt. Mitnichten.
Ich sammle gefallene Äpfel über den ganzen Rasen verteilt auf, bis hin zum Baumhaus und den beiden Ahörnern, in denen tagsüber unsere beiden Waldohreulen verdauen (Mäusegerippe oder Vogelköpfe herauswürgen), schlafen und trotzdem alles hören und sehen.
Heute waren die Äpfel, die ich aufhob, größer als sonst. Röter als sonst. Reifer als sonst. Fallobst - denke ich. Zu früh für Tafelobst. Fast reif gewordene Äpfel. Und doch gefallene. Nicht hängen gebliebene. Ich fülle einen ganzen Eimer und gehe in die eine Küche.
Das Berner Kochbuch sagt mir, dass aus "gewaschenen, ungeschälten, noch unreifen Äpfeln (Fallobst)" Gelee gekocht werden kann. Also schneide ich die vom Baum verstoßenen Früchte in feine Scheiben, decke sie mit Wasser zu und koche sie, bis sie weich sind. Ich tue, was ich kann. Ich hole Büschelweise Pfefferminze und Zitronenmelisse aus dem Garten. Diese grünen Blätter übergieße ich mit kochendem Wasser und lasse sie zugedeckt stehen, bis ich weiter weiß.

Irgendwann fahre ich einkaufen.
Ich brauche Gleichschwerzucker.

W. kommt nach Hause und fragt: "Was ist denn hier los?"
Ich brauche noch eine Stunde, sage ich.

Danach - es sind mindestens zwei Stunden vergangen, der Ohrenbär ist schon vorbei - zählt er 26 Gläser. Pfefferminze-Zitronenmelisse-Apfel-Gelee. Wenn wir pro Woche nicht mehr als ein halbes Glas verzehren, rechnete er mir laut vor, reicht der Vorrat für ein ganzes Jahr.

Ich habe nur die Äpfel unter dem Apfelbaum eingesammelt. Jeder tut, was der Tag von ihm verlangt. Die Meldorfer Kinder gehen seit heute wieder in die Schule. So steht es in der Zeitung. Die Sommerferien sind vorbei.

Montag, 1. September 2008

Aldona

Aldona ist genau vor einem Jahr als erste in unser Haus eingezogen. Ich setzte sie auf das Fensterbrett unseres zukünftigen Schlafzimmers, als die Maler ihre Arbeit in dieser Haushälfte beendet hatten. Als die Wände frisch tapeziert und gestrichen, die Zargen lackiert und getrocknet, alle Zimmer im oberen Stock ausgelüftet waren und das Licht im Treppenhaus brannte. Der Malermeister hatte auf meine spezielle Bitte hin als letztes, auf der Malerleiter stehend, die Energiesparlampe in die Fassung an der Decke eingedreht und dann den federleichten Lampenschirm aus gelblichem Reispapier mit schwarzen Fischmotiven an den dafür vorgesehenen und bereits vorhandenen Haken gehängt. Seither hoffen wir, dass die Glühbirne so lange brennt, bis wir die Maler wieder einmal ins Haus bitten müssen. Denn ein normalwüchsiger Mensch ohne ausziehbare und an den Treppenstufenkanten feststellbare Malerleiter kommt nie im Leben an die Stelle, an der die elektrischen Kabel aus der Holzdecke heraushängen.

Aldona ist die größte Pinguindame, die wir besitzen. Sie ist schon etwas älter und trägt immer einen roten Schal um den Hals. Sie kommt vom Heinrich-Heine-Platz in Berlin. Ihr Name lehnt sich an den Namen des Ladens an, in dem ich sie eines trüben Wintermorgens aus dem Regal gefischt und auf das schwarze Band vor der Kasse gestellt hatte.

Aldona lebt in Meldorf seit dem Tag, an dem ich W. in der Ferienwohnung über der Zahnarztpraxis zum ersten Mal besuchte. Damals packte ich in Berlin eines meiner Fahrräder unter den einen Arm und unter den anderen einen unserer Pinguine. Mehr Arme hat der Mensch nicht. In das Haus zog Aldona, wie gesagt, als erste ein. Denn jemand musste dasein. Jemand musste aufpassen. Jemand musste aus dem Fenster gucken. Wir beide waren anderweitig beschäftigt. Und ob die Eulen damals schon in den beiden Ahornbäumen vor dem Haus saßen, weiß ich nicht. Wahrscheinlich ist es nicht. Bestimmt war es ihnen letzten Sommer hier zu unruhig. Vielleicht versuchten sie beim Nachbarn gegenüber tagsüber zu ihrem Schlaf zu kommen. Aber auch dort vergeblich. Denn der erzählte, die Drosseln hätten sie mit penetranten dünnen ziep-Rufen verscheucht. Und auf unserer Seite löste der Reifenmann seine Meisterwerkstatt auf, baute Umwuchtmaschinen, Carport und andere Holzanbauten mit Getöse ab. Dann kamen die Handwerker, sperrten alle Türen und Fenster sperrangelweit auf und trugen alte Holzlatten, alte Tapeten und alte Ziegelsteine aus dem Haus. Beim Housewarming sagte eine Nachbarin "... und dann war plötzlich der Pinguin da". Es hörte sich an nach Aufatmen. Der erste Garant für neues Leben im Haus war unsere schon leicht ergraute ehrwürdige Pinguindame an einem der Fenster im oberen Stock an der Ostseite.

Denn, so erklärte mir W. später, als die Tage schon wieder länger wurden, dass Menschen aus Häusern ausziehen, ist nichts ungewöhnliches hier in der Gegend. Ungewöhnlich ist, dass Menschen in Häuser einziehen. Und Recht hat er. In vielen leeren Häusern, die wir damals betreten hatten und dann doch nicht kaufen wollten, lebt bis heute kein Mensch.

Aldona ist als erste eingezogen. Einen Tag später ist Wolfgang eingezogen. Er hatte an der Hochschule zu tun und schlief eine Woche auf einer aufblasbaren Matratze am Boden. Sie hielt die Luft nicht, so dass er in Wirklichkeit auf dem harten Boden schlief. Ich hatte in Berlin zu tun und kam mit dem Umzugswagen und zog mit den Möbeln ein.