Dienstag, 31. August 2010

Das erste Fahrradfrei

Ferrara zu Fuß. Der erste Tag ganz ohne Fahrräder. Wir gucken sie nicht einmal an. Dafür aber das Castello d'Este, das Ghetto, die Jüdische Synagoge (von außen, da wegen Siesta geschlossen) sowie im Palazzo Schifanoia den berühmten Raum der Monate und im Dom die düsteren trompe d'Oeils. Anschließend trinken wir den ersten Campari Orange diesen Sommers und machen in der größten Nachmittagshitze noch einen Umweg zum Ur-Po, dem Po di Volano, der ursprünglich als eigentlicher Po durch Ferrara floss, bis die Estes ihn 6 Kilometer nach Norden verbannten und die Stadt damit vom Handelsweg auf dem Fluss abschnitten.
Durch die älteste Straße der Stadt, die Via Volte kehren wir zur Piazza Trento Trieste zurück, die früher Piazza Crespino hieß, weil sich im einen Eckhaus die Arbeitstätte der heiligen Crispino und Crispiniano befand. Ganz nebenbei - an einer anderen Hausfassade - erfahren wir, dass "Ferrara, Città del Rinascimento e il suo Delta del Po" (die Renaissancestadt Ferrara und ihr Podelta) 1999 in die Welterbeliste aufgenommen wurden. Diese Information ist uns auf unserem ganzen Weg ins Delta hin und zurück, destra oder sinistra, nirgends entgegengekommen.
Die Wette vom 26. habe ich übrigens heldenhaft verloren. Beruhigt trinken wir einen Halben della spina auf meine Kosten.

Montag, 30. August 2010

Der erste Hagel

Den Hagelsturm überstehen wir im LE KOU FU in Berra. Heftiger Wind kommt auf, der Himmel zieht sich bedrohlich zu und wir fahren vernünftigerweise rechtzeitig vom Deich ab.
Machen Siesta. Stellen die Fahrräder unter die Sonnenschirme des einzigen offenen Lokals im Ort. Es ist weder eine Cafeteria noch eine Gelateria noch ein Restaurant. Aber es gibt Toilette, Wasser, Seife, Papier. Wir waschen die Hände und setzen uns ins abgedunkelte Innere. Eine junge Chinesin nimmt keine Notiz von uns, starrt unverwandt auf ihren Bildschirm. Eine ältere Chinesin versteht nicht, was ich in meinem fließenden Italienisch bestelle. Acqua minerale con gaz i Cola.
Kaum sitzen wir, geht ein gewaltiger Wolkenbruch nieder, gefolgt von einem gewaltigen Temperatursturz und faustgroßen Hagelkörnern. Wir warten mit Cappucio.
Nach einer Stunde sind wir wieder auf dem Deich, vollenden Destra Po oder auf FE 20 unsere heutige Schicht, gute 90 km, bis Ferrara bei schönstem Sonnenschein und kristallklarer Luft.

Zurück: Sinistra Po

Das Tollhaus in Tolle hat sich über Nacht geleert. Wir sind die einzigen Gäste beim Frühstück. Es gibt kein frisches Brot. Nur, wie an allen anderen Tagen auch, hygienisch abgepacktes Zwieback oder Cornflakes. Die Kinder in Emilia-Romagna gehen heute wieder zur Schule. Im Veneto erst in einer Woche. Und in der Lombardei Mitte des Monats.
Wir bewegen uns in einem föderalistischen Land. Das wird mir (Schweizerin) erst auf der Rückfahrt klar. Der Po - auf unserer heutigen Tagesetappe - war immer auch eine Grenze. Zum verhassten Venetien im Norden. Zum unterlegenen Emilia-Romagna im Süden. Kein Wunder also, dass niemand in Italien (erst in Mailand erfahre ich, dass es keine nationale Tourismusbehörde gibt, um Touristen kümmern sich die Regionen selbst, aber verständlicherweise nur bis an ihre eigenen Verwaltungsgrenzen) auf die Idee kommt, Fahrradfahrern Tipps zu geben, wo Destra Po besser, einfacher, sicherer zu befahren ist und wo Sinistra Po. Die EU hat die Radwege zu beiden Seiten des Flusses finanziert.

Wir bewegen uns einem Fluss entlang. Wir können nur auf Brücken von einer Seite auf die andere wechseln. Brücken werden nicht für Ausflügler gebaut, sondern für den Schwerverkehr. Nicht gebaut werden Brücken meist aus politischen Gründen. Auch das wird mir erst auf der Rückfahrt klar.

Mein persönlicher Reiseleiter und Kartenleser erspart mir einen zweiten Horrortrip über die Brücke in Mesola. Wir überqueren hinter Porto Tolle den sanften Po di Gnocca und wechseln bei der Big River Ranch auf Sinistra Po. Wunderbare Strecke über Riva bis Ariano nel Polesine, wo wir auf der alten, nur für Fußgänger und Fahrräder zugänglichen Brücke unbeschadet nach Ariano Ferrarese kommen. Sprich: von der Provinz Rovigo in die Provinz Ferrara. Oder von der Region Venetien in die Region Emilia-Romagna.

Das Zurückfahren erweitert den Horizont und die Beweglichkeit. Wir lernen, links von rechts zu unterscheiden.

Sonntag, 29. August 2010

Zurück: Destra Po

Zurück in der Zivilisation. Destra Po bzw. - da wir uns nach wie vor in der Provinz Ferrara aufhalten - FE 20.
6 km vor Goro, 120 km vor Stèllata.
35 km von unserem Bett im italienischen Tollhaus in Tolle entfernt.

Das Ende des Po 4

Wir kehren um - so sieht der Anfang unserer Rückreise vom Podelta aus.

Das Ende des Po 3

In Gorino Ferrarese (überraschend großer Fischerhafen und Campingplatz) überqueren wir die Schleuse und biegen in den ökologischen Naturpfad zu den Leuchttürmen ein. Zur unserer Linken fließt der Po di Goro, zu unserer Rechten befindet sich die Sacca di Goro. Der Weg wächst immer weiter und stacheliger zu. Wir erreichen schließlich den südlichsten Punkt unserer Reise (ca 2 km vor dem alten Leuchtturm). An ein Weiterkommen per Rad durch das Heidekraut ist nicht zu denken. Zu Fuß weiter zu gehen, kommt bei der Hitze nicht in Frage.

Das erste Reisfeld

Kleiner Sonntagsausflug auf leichten Fahrrädern (ohne Gepäck) nach Gorino zum alten und neuen Leuchtturm, an unser persönliches Ende des Po. Ergibt am Abend gute 70 Kilometer, bei anhaltender Hitze.
Bevor wir an der Sacca degli Scardovari wieder auf die Wellen der Adria stoßen, sehe ich das erste leibhaftige Reisfeld meines Lebens - zum Greifen nah. Ein Bewässerungsexperte kommt gerade auf einem stinkenden Moped angerattert und überprüft bei laufendem Motor den Wasserstand in den Bewässerungskanälen. Alles in bester Ordnung nach den gestrigen Regengüssen.

Samstag, 28. August 2010

Das Ende des Po 2

Der Dampfer wendet und die Welt - der Po, der einzige Fluss Italiens, der, bevor er im Meer endet, ein Riesendelta veranstaltet, mit Armen, Lagunen, Boccas, Saccos und Focis - präsentiert sich von ihrer anderen Seite.

Derweil deckt die Besatzung die Tische für das Mittagessen.

Das Ende des Po

Der Ausflugsdampfer führt uns am Fischerdorf Pila durch den Po della Pila und bringt uns auf dem Po di Scirocco an die Adria. Hier schlagen uns die Wellen des Meeres entgegen und der Kapitän muss umkehren, da er ein Flussschiffer ist und kein Meerschiffer.

Das erste Gewitter

Der erste fast fahrradfreie Tag. Wir fahren nur siebeneinhalb Kilometer auf dem Deich zur Anlegestelle Ca' Tiepolo. Hin am Morgen vor dem Gewitter. Und zurück am Nachmittag nach dem Gewitter. Ergibt fünfzehn.
Als "Signori Giorgio" gehen wir an Deck des Ausflugdampfers. Die Italiener im Tourismusgewerbe haben besondere Mühe mit der Zuordnung von Vor- und Nachnamen. In den Hotels werden unsere Buchungen entweder unter "W" (wie Wolfgang) gefunden, oder unter "G" (wie Georg). Nie aber unter "A" (wie Arlt) oder "J" (wie Judith).

Nach uns kommt eine Gruppe lombardischer Pfarrkinder älteren Semesters in Begleitung ihres stumpenrauchenden Oberhirten an Bord. Das kann ja heiter werden.

Und es wird heiter.

Der erste exzellente Espresso im Plastikbecher. Die Vorspeise nach der ersten halben Stunde Fahrt: frittiertes Fingergemüse und vitaminreicher, alkoholfreier Saft. Mittagessen nach Kehrtwende an der Adria: a discrezione Prosecco + acqua naturale o frizzante, antipasti (kalter kleiner Fisch), Pasta (spirelli mit frutti di mare), Insalta mista, fritto misto (frittierter Fisch, groß und klein), calamari fritti, frutta mista (Trauben und Pfirsiche). Sowie ein zweiter exzellenter Espresso im Plastikbecher + Grappa.
Während des Essens gehen zwei heftige Gewitter mit Starkregen nieder. Man rückt zusammen, ich gebe meinen Fensterplatz (siehe Foto) auf, einige wenige verlassen das Oberdeck und steigen in den geschlossenen Salon nach unten.
Der dritte Regenguss trifft das Ausflugsschiff beim Anlegen. Wir warten geduldig und kommen trocken, aber mit völlig verdreckten Schuhen auf den Fahrrädern auf dem Deich in unser Unruhehotel zurück.

Freitag, 27. August 2010

Die zweite Brücke über den Po

Wir fahren, noch immer Destra Po, durch eine Menschenleere und Pappelvolle Gegend. Wind kommt auf. Verhaspelt sich in den geometrisch angelegten Pappelhainen. In Ariano Ferrarese essen wir das übliche Eis, trinken den üblichen Cappucio. Ich werfe meine erste Postkarte in den Briefkasten vor dem geschlossenen Postamt (nächste Leerung: Montag 12 Uhr). Wir brechen zum heutigen Endspurt auf. Ins Delta. Nach Tolle. Über die Brücke, von der schon den ganzen Tag die Rede ist und die immer noch zehn Kilometer entfernt sein soll. Wütender Verkehr kommt auf. Monsterbrücke in Mesole. Geschwindigkeitskontrolle (niemanden kümmert das). Kein Fahrradstreifen (uns allein bekümmert das). Gottseidank zieht sich der Himmel zu und verschont uns mit aggressiver Abendsonnenhitze. Gedankenlos rasen an uns Pkws, Lkws vorbei. Wir können uns überhaupt nicht vorstellen, wohin sie unterwegs sind. Wir überqueren den Po della Donzella di Gnocca. Fahren noch 11 Kilometer über highway (statt Landstraße, wie von der Landkarte versprochen) zum Hotel Bussano nach Tolle. Vorbei die Stille. Vergessen die schlanken Pappeln. Ihr Wiegen im Wind. Vorbei die Kontemplation. Gedanken über Windhosen und Wasserarme. Wir wohnen am Ende der Welt an einem Schnellstraßenkreuz. Über einer Durchgangspizzeria. Wir haben 95 Kilometer in den Waden und schwatzende, hupende, Abgase absondernde Italiener in den Ohren, Nasen, Augen. Das versprochene Gewitter bleibt aus. Uns bleibt nichts anderes übrig, als unseren Hunger in der überfüllten Hotelpizzeria zu stillen. Und danach die Fenster im Zimmer über dem Parkplatz zu schließen. Die Aircondition auf Hochtouren laufen zu lassen. Und im kühlen Kunstwind einzuschlafen.

Piccola Oasi Colena del Po

Bei Berra Schatten, Tische und Stühle am rechten Poufer. Die dritte Apfelpause, die dritte Pause am Po. Wir leeren ungefähr die siebenundzwanzigste Wasserflasche. Wir zählen sie nicht. W. fährt nun ohne Helm und mit Ainokea-Mütze. Der Sonne wegen, die seine Stirn verbrannte.

Bei Seravalle zweigt der Po di Goro ab, dort beginnt geographisch und offiziell durch ein Hinweisschild am Fahrradwegrand auf dem Deich das Po-Delta. Während wir noch in der Piccola Oasi sitzen und weiter schwitzen, schreibe ich die erste Postkarte an meinen Meister in Warschau, klebe eine Briefmarke auf, die ich vor Beginn der Siesta im Postamt gegenüber der Wehrkirche von Guarda Ferrarese gekauft habe.

Donnerstag, 26. August 2010

Zum ersten Mal in der Provinz Ferrara

Mit der Festung Rocca die Stèllata beginnt die Provinz Ferrara = gute Beschilderung, gute Kilometerangaben, guter Straßenbelag.
Erste einsame Strecke.
Erste Libellenwiese bei Ravallo, zweite Apfelpause.
7 Kilometer vor Ferrara verlassen wir den Po und fahren in die heiße Stadt hinein, kaufen in der ersten Apotheke Augentropfen und Mückenspray.
Wir wohnen in der Innenstadt direkt neben dem Castello Estense. Wir sind 75 Kilometer gefahren bei ungebrochenem Sonnenschein.
Buskers Festival in der Stadt. Lauter Musikanten, Gaukler, Akrobaten. Die Tessiner Radfahrer tauchen natürlich plötzlich auch auf mitten in der ausgelassenen schwitzenden Menge. Beim Essen am Dom (wunderbare Pasta!) wette ich auf einen halben Liter Prosecco della spina, dass wir sie im Podelta noch einmal antreffen werden.

Die erste Pause am Po

W. hat Kopfschmerzen. Das ist die Sonne, sage ich. Die wir gesucht haben. Und die uns jetzt gnadenlos auf den Schädel brennt. Wären wir in den norddeutschen Küstennebelfelder geblieben ...
Tapfer überqueren wir zum ersten Mal den Po. Auf einer alten und vielbefahrenen Brücke in Ostiglia. Mit holprigem Fußgänger- und Fahrradstreifen in einem. Mit niedrigem Geländer. Zum Fürchten mit unseren schwerfällig bepackten Rädern.
Dann folgen wir dem "Percorso Cicloturistico Destra Po" - dem Fluss zu seiner rechten Fließseite.
Bis Carbonara di Po weht uns noch ein frischer Morgenwind entgegen, danach steht die Hitze wie eine Wand in der Landschaft.
Bei Isola Schiavi gibt es Bänke und Tische. Wir verzehren die Lufthansa-Schokoriegel, die uns vom Flug nach Mailand geblieben sind. W. zieht ein trockenes T-Shirt an und legt die Kopfschmerzen am Flussufer nieder.

Der erste Schluck Wasser

Ich fahre mit bunten Sandalen und trinke im Stehen.

Die ersten blauen Sandalen

Bevor wir losfahren, muss ich die flachen blauen Sandalen kaufen, die ich gestern Abend beim Spaziergang durch die ausgestorbene Stadt in dem einzig erleuchteten Schaufenster entdeckte.
Zum FahrRadFahren sind sie ungeeignet, für das WohlErGehen der Seele unentbehrlich.

Mittwoch, 25. August 2010

Der erste Blick auf den Po

... Blick auf den Po! Kurz vor 18 Uhr, kurz vor Ostiglia.
Die erste Tagesetappe unter einem wolkenlosen Himmel: von Verona nach Ostiglia 65 Kilometer bei durchschnittlich 33° Celsius im Schatten.
Jeder von uns hat mindestens 3 Liter Wasser getrunken.
Die erste Gelati-Pause in Bonferraro - wir verzichten zum ersten Mal darauf, an der frischen Luft draußen zu sitzen und kühlen unsere klebrigen Körper im lauten, verrauchten aber wohltemperierten Inneren der Cafeteria.
Die erste heiß ersehnte kalte Dusche.
Die ersten Radwanderer getroffen - natürlich Helvetier, aus dem Ticino. Kein Italiener tut sich so etwas an bei dieser Hitze.
Die erste Pasta mit Porcini.
Der erste vino della spina.
Im Hotel Doria der erste Error (E7) der Klimaanlage, die erste Nacht bei offenem Fenster, die ersten Alpträume klettern vom Fahrradabstellraum herein.

Die erste Apfelpause

Wir holen die Leihfahrräder ab, wir packen unsere Fahrradtaschen, lassen die Koffer im Abstellraum zurück. Wir kaufen Wasser, wir bekommen Fahrradöl vom Hotelhandwerker gegen die quietschenden Bremsen. Wir sind schweissgebadet, bevor wir nur einen Meter aus Verona heraus gefahren sind.
Ab San Bernardino erster Schatten unter Bäumen.
Der erste Apfel bei der Marienkapelle an der Wegkreuzung in Ca' degli Orsi.
Der erste platte Reifen in der schlimmsten Nachmittagshitze bei Torre di Masimo. Ein Maisbauer öffnet mir seine Werkzeugkiste. Ich fluche über den Fahrradhändler, der uns eine Pumpe mitgegeben hat, die nicht kompatibel ist mit den Ventilen an den Ersatzschläuchen.
Die ersten weißen Reiher gesehen.
Die ersten Umwege auf Kies gefahren.
Das erste Stück am Canal Bianco.
Der erste ...

Dienstag, 24. August 2010

Ponte Pietro

Die Hitze in Norditalien ist auch lange nach Sonnenuntergang noch unerträglich. Verona, festlich gekleidete Opernbesucher stolzieren vor der Arena herum (heute findet die letzte Aufführung von Carmen statt), ein satter Vollmond hängt über der Etsch, die außer lautem Wasserrauschen auch keine Erfrischung bringt.

Montag, 23. August 2010

Zur Sonne

Dithmarscher Sommer as usual. Heute Sturmwarnung, gestern setzten Wolkenbrüche die halbe Heider Innenstadt unter Wasser. Wir wollen den August nicht ungenutzt verstreichen lassen und machen uns auf den Weg an die Sonne.

Samstag, 21. August 2010

Herzmuscheln

Die Schalen der Herzmuscheln haben Jahresringe wie die Bäume der Mangrovenwälder. Die Herzmuscheln, die ich bei Niedrigwasser im Watt knistern höre, sind drei Jahre alt. Ich sehe es.
Bei Überflutung strudeln die Herzmuscheln das Wasser mit den kurzen Schnorcheln durch ihren Körper. Dabei werden Sauerstoff und Nahrung aufgenommen. Kiemen filtern das Wasser. Genießbare Bestandteile führen feine Flimmerhärchen zu einer inneren Mundöffnng. Ungenießbares Material schleudert die Muschel zusammen mit dem Kot mit Schwung davon. Damit es nicht gleich wieder von den Schnorcheln eingestrudelt wird. Den nötigen Schwung erzeugt die Herzmuschel mit den Schalenhälften, von denen ich ihr Alter ablese. Sie zieht sie ruckartig zusammen.

Freitag, 20. August 2010

Wattknistern

Solange die Mangroven das Wattenmeer noch nicht erreicht haben, kann ich bei Ebbe auf dem Wattboden spazieren gehen. Die Schulferien sind bald um und es wird wieder still in der Meldorfer Bucht. Im Mischwatt liegt eine nur leichte Schlickauflage. Unter den Fußsohlen spüre ich die Herzmuscheln und in die Ohren dringt ihr Knistern.
Einige Hundert Herzmuscheln sollen hier auf einem Quadratmeter siedeln. Ich erkenne ihre Spuren im Kieselalgenrasen an unendlich vielen Stellen, bin aber zu faul, sie zu zählen: zwei kleine rundliche Öffnungen pro Herzmuschel. Die größere gehört dem Einströmsipho, die kleinere dem Ausströmsipho. Bei der Herzmuschel sind die Schnorchel getrennt. Das Knistern entsteht, wenn beim Einziehen der Schnorchel ein kleines Gasbläschen zerplatzt.

Donnerstag, 19. August 2010

Küstenwälder

Wie gesagt: zögen wir mit unserem ganzen Hab und Gut sowie unserer einmaligen Landschaft in die Tropen - oder: wanderten die Tropen zu uns in den Norden Schleswig Holsteins, dann würden an unserer Wattenmeerküste Wälder wachsen. Mangrovenwälder.

Mangrovenwälder gedeihen am besten im Salzwasser der tropischen und subtropischen Gezeitenzonen rund um den Äquator. Sie bestehen aus Bäumen, Palmen und Büschen und gehören zu den produktivsten und biologisch wichtigsten Ökosystemen der Welt. Sie passen sich extremsten Umweltbedingungen an und ertragen sowohl hohen Salzgehalt wie auch sengende Hitze. Die Mangroven verankern sich mit ihren Wurzeln fest im Boden. Mit diesem starken Geflecht schützen sie die Küstengebiete vor Tsunami-Wellen, Erosion und Stürmen. Laut einer Studie sind in Orten mit einem breiteren Mangrovengürtel nach Tropenstürmen bedeutend weniger Tote zu beklagen als in jenen mit einem schmaleren Mangrovenstreifen oder gar keinen dieser Pflanzen. An der Ostküste Indiens sterben nach der statistischen Analyse in Dörfern ohne Mangrovenschutz bis zu zehn Menschen je Dorf. Bei einem Kilometer Mangrovengürtel sind es rund 4 Tote, bei drei Kilometern nur noch einer.
Zugleich sind Mangroven bedeutende "Kinderstuben" für viele Meerestiere. Die flachen Wälder filtern das Wasser, bieten Fischen Laichplätze und Fischlarven Schutz.

Im Weltatlas der Mangroven ist nachzulesen, dass seit 1980 etwa ein Fünftel der Mangroven vernichtet wurden - durch Stürme, Abholzung oder aufgrund des Klimawandels. Neue Satellitenbilder zeigen nun, dass die Mangrovenwälder der Welt rund zwölf Prozent kleiner sind als bisher geschätzt. Die Weltnaturschutzunion IUCN berichtet, 11 der 70 Mangrovenarten seien vom Aussterben bedroht. Einige Arten könnten bereits innerhalb der nächsten Dekade verschwinden, wenn keine Schutzmaßnahmen durchgesetzt werden. Die beiden am stärksten bedrohten Arten sind "Sonneratia griffithii" und "Bruguiera hainesii". Der Verlust der Mangroven könnte "verheerende" Folgen haben, warnen die Wissenschaftler von IUCN.

Aber vielleicht wandern die Mangroven bereits. Zu uns. In den Norden. Ans Wattenmeer.

Mittwoch, 18. August 2010

Der erste Herbststurm

Der erste Herbststurm fegt von Westen über unsere Dächer. An Schlaf ist ist einer solchen Nacht nicht zu denken. Ich irre durch das Haus auf der Suche nach offenen Fenstern. Trage meine Gartenschuhe ins Trockene.
Stürmische Windböen schlagen mir ins Gesicht. Starkregen prasselt auf meinen Rücken. Mittelwind an der freien See. Ein schwacher Trost. Da ist kein Hin- oder Wegkommen.

Montag, 16. August 2010

Polnisches Trauerspiel

Noch poltert Pendereckis Dies irae unter meiner Brust. An Schlaf ist an einem solchen Morgen nicht zu denken. Ich schlage polnische Zeitungen auf und frage mich, wo die aufrüttelnde Kraft abgeblieben ist, die Penderecki vor einem Vierteljahrhundert in Klänge zu bannen vermochte?

Fanatische Kreuzritter vor dem Präsidentenpalast in Warschau. Fanatische Patrioten in Ossów. Ein allein gelassener eineiiger Zwilling, der sich schlimmer aufführt als eine allein gelassene Liebe, der emotional angeschlagen geistige Brandstiftung quer durchs Land betreibt.

Lacrimosa dies illa ... 96 Menschen starben beim Flugzeugabsturz von Smolensk. Falls es einen Gott gibt, dann hoffen wir doch, dass vor seinem letzten Gericht alle gleich behandelt werden. Ungeachtet dessen, wen sie auf Erden zurückgelassen haben ... qua resurget ex favilla judicandus homo reus.

Liber scriptus proferetur ... die Polen haben ein erschreckend kurzes Gedächtnis. Bereits beginnen einstige glühende Anhänger laut über die Rolle des verlassenen Zwillings als Oppositionführer nachzudenken. Er beschädige das Andenken des verstorbenen Präsidenten, heißt es. Oder: Mit ihm sei kein Schritt in die Zukunft mehr möglich. Fachleute wie Trauertherapeuten bestätigen ihm hingegen vorbildliches Trauern. Wie aus dem Lehrbuch. Nur: Trauern bedarf eines geschützten Raums, sagen sie. Trauern habe keinen Platz auf dem blank polierten Parkett der Politik ... in quo totum continetur, unde mundus judicetur.

Libera animas omnium ... Nur Künstler sind Gratwanderer von Gottes Gnaden. Weder Zwillingen noch Politikern ist dies vergönnt ... fidelium defunctorum de poenis inferni.

Sonntag, 15. August 2010

Zu Hause

Das Nachhausekommen ist ein strukturierendes Element in den Aufzeichnungen einer Verlorenen oder Unruhigen Seele. Diese Erkenntnis gewinne ich bei der Durchsicht eines alten blogs.
Meist beginnt der Tag zu Hause früh mit seelenloser Aktivität. Aufatmen, Auspacken, Aufräumen. Aufreißen von Briefumschlägen, Aufsperren der Fenster, Aufhängen von nasser Wäsche.
Aufgeben aller Träume.

Samstag, 14. August 2010

Polskie Requiem

Nur deswegen sind wir auf den Fahrrädern von Hansestadt zu Hansestadt gefahren: um Krzysztof Penderecki in der St. Michaeliskirche zu erleben. Um sein Polnisches Requiem von ihm selbst dirigiert zu hören. Um langsam und schweigend, aus menschenleeren Landschaften in dieses infernalische Klanggewitter einzutauchen.

Wie viel "aufrüttelnde" Kraft sich in dieser Musik entlädt. Wie viel aufbauende Energie. Ohne Versklavung durch eine Kirche. Aber unter der Fuchtel der [polnischen] Geschichte. Geräuschmysterien an den Abgründen der menschlichen Existenz. Ich hatte Angst, dass der betagte Maestro nach dem Finale. Libera animas am Dirigentenpult unter seinem Mammutwerk zusammenbricht. Aber Künstler sind Gratwanderer von Gottes Gnaden. Sie schätzen Grenzen und Gefahren richtig ein. Gehen nie am eigenen Ehrgeiz zu Grunde.

Mir poltert das Herz in der Brust noch immer. Obwohl wir längst wohlbehütet mit unseren Fahrrädern in der NOB den Nordostseekanal überquert haben und auf unserer Insel der Glückseligen angekommen sind.

Das Trostpflästerchen

Die Alte Harburger Elbbrücke - auf ihr queren wir die Süderelbe.
Diese Portalbrücke, erbaut 1897-1899, ist die letzte ihrer Art in Hamburg. Die Eisenfachkonstruktion trägt die erste feste Straßenverbindung über die Süderelbe. Die Sandsteinportale erinnern mit den Wappen Harburgs und Wilhelmsburgs an alte Stadttore.
Heute nur noch für Fußgänger und Fahrräder offen.

Der Nullpunkt

Kurz vor der Alten Harburger Elbbrücke wird die Tagestour auf beiden Fahrradcomputern auf Null gesetzt. Als ich das letzte Mal den Kilometerstand überprüft hatte, zeigte er 153 km an. Das muss in den Schwarzen Bergen, in Ehestorf oder Heimfeld gewesen sein. W. meinte dort, wir hätten noch gute 25 km vor uns. Und ich wollte das dort nicht glauben.

Hinter der Alten Harburger Elbbrücke steht dann meine Tour, die gestern in Bremen begann, plötzlich auf jämmerlichen 3,3 km. Zum ersten Mal in Altona angekommen, auf 16,8. Wir durchqueren noch einmal die Stadt hin und wieder her = 24,7.
Ein hinterlistiges Signal der Stadtautobahn, bestimmt nur bestimmt für LKWs und deren korrekte Abrechnung der Mautgebühren, durchkreuzt meine hehren diaristischen, dokumentarischen, statistischen Ewigkeitspläne.

Freitag, 13. August 2010

Sittensen: Siebzehn Uhr Neununddreißig

Halbzeit: Dem Bremer Umland glücklich entflohen, den Nordarm, den Südarm und den Mittelarm der Wümme in den Wümmewiesen trockenen Fußes überquert, Frösche in bauarme Flussauen und Feuchtweiden quaken gehört, den Vorwerker Steinriesen bestaunt, Wald gerochen, Gemarkungen gesehen, in Geestlanddörfer gelangt, verschwitzt und außer Atem in Sittensen vom Sattel gestiegen.

Bremen: Acht Uhr Fünfundvierzig

Wir sind gleichzeitig hier und dort.
Zu sehen sind auf dem Foto meine rechte Hand und die Bremer Stadtmusikanten.
Wir sind gestern Abend von Hamburg nicht nach Hause zurückgekehrt. Sondern mit dem Metronom und unseren Fahrrädern nach Bremen gefahren.
Jetzt frühstücken wir in der Stadt, in der um diese Tageszeit alle Läden geschlossen sind und machen uns dann auf den Weg nach Hamburg zurück.

Meldorf: Neun Uhr dreizehn

So sieht unser Bahnhof aus um 9:13 Uhr. Am Freitag dem Dreizehnten. Bis in einem Jahr, so hoffen wir Bahnbenützer, ist der Umbau vollzogen, der Himmel nicht mehr so verhangen und ein zweiter Bahnsteig vorhanden.

Mittwoch, 11. August 2010

Camazotz

Zotz oder Camazotz ist der Fledermausgott. An zum Zotz zählenden Kalendertagen werden deshalb nachtaktive, gut organisierte dominante Menschen geboren.
Der Legende nach hat Zotz auch mit meinem Vornamen zu tun. Die Mayazwillinge Hunahpú und Xbalanqué mussten zur Strafe für lautes Ballspiel eine Nacht im Haus von Zotz verbringen. Um sich vor den herumfliegenden Fledermäusen zu schützen, nutzten die Zwillingsbrüder ihre magischen Kräfte und versteckten sich in ihren Blasrohren. Als Hunahpú seinen Kopf herausstreckte, um zu sehen, ob die Sonne schon aufgegangen und die Nacht endlich um war, biss ihm Zotz den Kopf ab. Und warf ihn den Göttern für ihr nächstes Ballspiel vor.
Durch eine List gelang es Xbalanqué, die Götter abzulenken und den Ball unbemerkt wieder als Kopf auf den Körper seines Zwillingsbruder aufzusetzen.

Dienstag, 10. August 2010

Zotz

Zum vollendeten 200. Ehemonat bekam ich heute von meinem angetrauten Weitgereisten einen Mayakalender auf Papyrus. Sowie einen Geburtstagsstein. Eigentlich ein lapidares Kühlschrankmagnet. Aber das Magnetische Rückenteil löste sich freiwillig wie von selbst ab. Und so wird aus dem kleinen Viereck ein großes Kunststück.

Mein Kunstwerk ist bunter als das, das wir auf der Abbildung sehen. Es ist die einzige, die ich auf die Schnelle finden konnte, und zwar hier (mit Dank!):
Unter dem Kopf (ich sehe es als Kopf, als Männerkopf - sehr zum Erstaunen meines Ehemannes -, meiner hat einen großen offenen Mund mit sichtbaren scharfen Raubtierzähnen quer über die Backe) steht Zotz. Mein Geburtstag liegt im Mayakalender im Zotz. Was das bedeutet, weiß ich nicht.

Montag, 9. August 2010

Grüner Kürbis 2

Hier ist er.
Von meiner sorgsamen Hand auf ein Holzbrettchen gebettet. Damit er nicht fault, ehe er reift.

Sonntag, 8. August 2010

Grüner Kürbis

Wo ist er?
Das Bild gibt meinen Worten recht.
Der grüne Kürbis versinkt besonders erfolgreich im Grün des Kleerasens, im Grün des welkenden Kartoffelkrauts und im Grün der mächtigen Kürbisblattdächer.

Samstag, 7. August 2010

Wunderkürbisse

Da sitzt einer und wundert sich in seinem Versteck gelb, bis er rot wird. Es gibt auch grüne. Die gehen im Rasen und in den Suppentellerblättern unter.

Freitag, 6. August 2010

Wanderkürbisse

Meine Kürbisse wandern. Quer über den mageren Rasen. Umkreisen listig, wie ein Lavastrom, die blaue Stange, welche die Wäscheleine in der Luft hält. Lassen mir einen Durchgang frei. Damit ich überprüfen kann, wer schon Früchte trägt. Und wer nur um die Wette sonnenuntergangsgelb blüht.

Donnerstag, 5. August 2010

Wölfe im Wallis

Im Gebiet zwischen Varneralp und Amiona-Montana reißen Wölfe Rinder. Es müsse sich um mindestens zwei Wölfe handeln, sind sich die einheimischen Hirten einig: "Ein Wolf allein greift ein so großes Tier nicht an." Die Wölfe treiben das Rindvieh einen Abhang hinunter und packen es dann an den Hinterbeinen, am Gesäß und am Bauch. Darauf deuten zumindest die Verletzungen der verendeten Tiere hin, wenn man sie schnell findet. Denn die Wölfe kehren an den Tatort zurück. Und fressen die Kadaver bis auf die Knochen auf.
Nun wurde von der Walliser Jagddienststelle ein Wolf zum Abschuss freigegeben. Die geschädigten Älpler bezeichnen dies als "Hoseschiisserentscheid", das sei so, wie wenn man zwei Mörder habe und einen laufen lasse. Abgeschossen darf aber auch der eine Wolf erst nach Drucklegung des Amtsblattes. Denn die Abschussfreigabe muss publiziert sein, ehe der Wildhüter auf die Pirsch gehen, bzw. wahrscheinlich erstmal bei einer der geschädigten Rinderherde ansitzen darf.

Dienstag, 3. August 2010

Polarlicht

Heute Nacht werden zwischen Schleswig und Elmshorn (also genau über Meldorf!) sowie in der Umgebung von Rostock am Nordhimmel grün leuchtende Bogen sowie weißliche Strahlen erwartet. Polarlichter über Norddeutschland.

Am 1. August hatte es auf der uns zugewandten Sonnenseite eine riesige Eruption gegeben. Einige Regionen der Sonne sollen dabei heißer, andere kälter geworden sein, sagen Experten. Eine Folge der Eruption ist die Wolke von Sonnenteilchen, die seit heute Nachmittag auf die Erdatmosphäre stößt und dabei Teilchen der Lufthülle zum Glühen bringt.

Die Sonne ist in einem Zyklus von etwa elf Jahren mehr oder weniger aktiv. Das vergangene Sonnenmaximum gab es 2001. Die neue Eruption sei die erste wirklich bedeutende in Richtung Erde seit längerer Zeit, teilt das Harvard-Smithsonian Center for Astrophysics in Cambridge (USA) mit. "Diese Eruption ist eines der ersten Zeichen, dass die Sonne aufwacht und ein neues Maximum ansteuert", schreibt das Institut.

Montag, 2. August 2010

Mein Bester Erster

Mein Bester Erster ist aus dem Land der Maya zurück am Wattenmeer und berichtet folgendes:
Das im Bild zu sehende astronomisch-kultischen Zwecken dienende Gebäude in Chichenitza ist eigentlich schon eine späte Mischung aus Maya- und Toltekenkultur. Das hindert die Fremdenführer aber nicht daran, sie als typisch Maya vorzustellen und als El Castillo (Das Schloss) zu bezeichnen. Und es hindert die Touristen nicht daran, Chichenitza zur zweithäufigst besuchten Sehenswürdigkeit in Mexiko zu machen. Die Tacos, die dort beim Lunch als Mayan Food serviert werden, kannten die Maya übrigens auch noch nicht.

Sonntag, 1. August 2010

Mein letzter Erster

Ich feiere meinen letzten Ersten August. Im Garten und am Strand und im Meer (high tide 17:16 Uhr, Wasser 19°, Luft 20°, Wind mäßig aus Südwest). Zusammen mit Roma und Radek aus Gdańsk und Ulli aus Hamburg. Wolfgang ist noch in Mexiko. Roma habe ich heute vor 31 Jahren in Osiek im Süden Polens kennen gelernt. Wir feiern unseren einunddreißigsten Ersten.