Bevor ich eine Betäubungsspritze bekomme, sagt die Zahnärztin immer zu mir "tief einatmen". Sie sagt es nicht nur, sondern macht es auch vor. Oder mit. Sie atmet, während sie irgendwo in meine linke hintere Mundhöhle sticht, hörbar tief ein. Durch die Nase.
Vor der letzten Spritze fragte ich sie, warum ich immer tief einatmen müsse. Ich kenne "tief einatmen!" nur vom Hausarzt, wenn er die Lunge abhört. Damit du den Einstich nicht spürst, sagte sie.
Heute lese ich, dass Wörter das Schmerzgedächtnis aktivieren. Warum auch nicht, denke ich. Ist nicht jedes Gedächtnis voller Wörter? Psychologen wollen herausgefunden haben, dass nicht nur Erfahrungen und Assoziationen das Schmerzgedächtnis alarmieren, sondern auch verbale Reize. Sie vermuten, dass "Gespräche über Leiden die Aktivität der Schmerzmatrix im Gehirn stimulieren und es so zu einer Verstärkung der empfundenen Schmerzen kommt". Untersuchungen an Probanden zeigten, dass Wörter wie "quälend", "zermürbend" oder "plagend" oder andere negativ besetzte Wörter wie "angsteinflößend", "widerlich" oder "ekelig" die betreffenden Hirnregionen voraktivierten. Schmerzhafte Erfahrungen im Schmerzgedächtnis abzuspeichern, sei biologisch sinnvoll, erklären die Forscher. Der Mensch könne so Erlebnissen, die potenziell eine Bedrohung für Leib und Leben darstellten, künftig aus dem Weg gehen. Schmerzerfahrung sei ein unumkehrbarer Lernprozess, sagen die Psychologen, Schmerz zu verlernen nahezu unmöglich. Medizinern raten sie, statt auf das "pieksen" vor einer Impfung hinzuweisen, besser mit dem Patienten über dessen letzten Urlaub zu reden.
Meine Zahnärztin sagt "tief einatmen". Denn ich kann, während sie in meinen Mund sticht, schlecht berichten von Strapazen auf dem Fahrrad durch die Dolomiten.
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