Ach - ein Traum von Lichtschwemme. Die Sonne steigt knallrot aus dem Nebel. Ich nähre nun meine Seele mit diesen kurzen Augenblicken unter freiem Himmel. Ich kann es jedesmal kaum glauben, dass aus der undurchdringlichen Nebelsuppe auch nur ein Schimmer hervortritt. Und doch. Ach! Geschieht es.
Mittwoch, 30. September 2020
Lichtschwemme
Dienstag, 29. September 2020
Wasserschwemme
Ich habe nicht den Eindruck, das Jahr sei zu trocken gewesen. Aber vielleicht trügt auch hier die Erinnerung. Nun ist sowieso alles nass und feucht. Und ich musste nur einmal intensiv wässern mit dem Schlauch, weil die Regentonnen leer waren. Aber das heißt natürlich alles gar nichts. Im Moment kann ich nur mit Gummestiefeln den Rasen betreten. Und wann und wie ich ihn mähen soll, weiß ich nicht.
Montag, 28. September 2020
Obstschwemme
Das Geheimnis der Bäume. Der Rosengärtner erzählt mir, dass in trockenen Jahren, wenn Obstbäume befürchten, dass sie sterben müssen, sie nochmals ihre volle Kraft mobilisieren. Und möglichst viele Früchte hervorbringen. Deshalb brechen meine Birnbäume fast zusammen unter der Last der Birnen und deshalb erschlägt mein Apfelbaum mich mit seinen Riesenäpfeln. Was der Kastanienbaum mit mir noch vorhat in diesem Jahr, wird sich zeigen. Er ist noch nicht am Ende!
Sonntag, 27. September 2020
Regen
Herbst. Regen. Kalt. Herr Caruso wird hungrig. Scheint nach zehn Tagen endlich ausgeschlafen zu sein. Kann nicht genug bekommen. Haut mich. Stellt mir ein Bein nach dem anderen. Zwängt sich in meinen Rücken auf meinem Küchenstuhl. Damit ich ja nicht vergesse, dass er da ist. Ich biete ihm einen der drei weiteren Stühle an und verbiete ihm, auf den Tisch zu steigen und von meinem Teller zu essen. Er zieht beleidigt ab. Die Schweizerinnen und Schweizer haben wieder einmal abgestimmt. Auch ich natürlich.
Samstag, 26. September 2020
Der Apfel ...
... fällt nicht weit vom Stamm. Tatsächlich. Gestern abend fiel mir einer auf die Oberlippe - das mache mir mal einer nach! Ich war mit dem Apfelpflücker unter dem Apfelbaum zu Gange und richtete meine Augen nach oben in die Krone. Das heißt, mein Gesicht zog den am Stamm herunterfallenden Apfel magisch an. Und da ich den Mund geschlossen hielt, krachte das Monster von einem reifen roten Apfel auf meine linke Oberlippe. Ich machte mir ernsthafte Sorgen um meine Zähne. Aber jetzt entdecke ich nach dem Aufstehen mit Blick in den Spiegel einen schwarzen Schatten auf der Oberlippe. Bluterguss! Wie nach einer Schlägerei. Faust im Gesicht. Goethe auf dem Fensterbrett.
Freitag, 25. September 2020
Wetter
Es ist garstig. Ein Abbaden in weite Ferne gerückt. Es fallen bereits die ersten stachligen Maronen. Unreif allesamt. Der Baum trägt frisches Grün wie im Frühling. Am Nachmittag soll es trocken werden, aber dann ist das Wasser weg.
Donnerstag, 24. September 2020
Halbmond
Zunehmend. Die Sonne steigt blutrot aus den Bodennebeln. Ein letzter Gruß des Sommers oder ein erster des Herbstes. Herr Caruso wird übermütig. Das Biofutter, das er gestern noch mit Appetit verschlungen hat, schmeckt ihm heute nicht mehr. Pute mit Zucchini. Die Igel sind da weniger anspruchsvoll. Ich denke über das Straßenbegleitgrün nach.
Mittwoch, 23. September 2020
Ernte
Ich pflücke Äpfel und Birnen. Herr Caruso sonnt sich im Wohnzimmer. Ich trage eimerweise Früchte zu den Nachbarn. Die Kinder wollen helfen. Als erstes fällt ein Junge vom Baum und heult. Der andere klettert in die Krone. Dann beginnen die beiden Kleinen eine Wasserpistolenschlacht. Und ich sage: In meinem Garten wird nicht geschossen. Auch nicht zurück! Die Flut kommt heute bereits zu spät für mich.
Dienstag, 22. September 2020
Herbst
Nun ist es offiziell. Herbst, es ist wieder einmal Zeit ... und in der Luft Altweibersommer! In der Feldmark leichter Nebel und eine blutrote Sonne. Sehr erfrischend. Herr Caruso hat ziemlich üblen Mundgeruch und ist appetitlos. Hat sich die ganze Nacht nicht von meinen Füßen wegbewegt. Ich frage mich, ob er wirklich ein Freigänger ist. Und warum er so wenig Nachtaktivitäten zeigt. Trotzdem werde ich heute noch einmal zum Deich, an die Nordsee fahren und ins Wasser springen. Von Abbaden noch keine Rede.
Montag, 21. September 2020
Montag
Stadtfahrt. Der Hausarzt gibt Entwarnung. Verschreibt keine Antibiotika ("nicht, wenn es nicht nötig ist" - wie vernünftig). Verschreibt gar nichts. Etwas Ruhe, nicht unbedingt mit der Gartenschere Rosen schneiden. Die Schwellung ist fast abgeklungen. Dann bringe ich die neue Arbeitsbrille zur Optikerin zurück. Sie misst neu. An das falsche Prisma kann sich das Hirn nicht gewöhnen, sagt sie. Es stimmt oder es stimmt nicht. Wenn nicht, meckert der Körper. Reagiert mit Schwindel. Den hab ich eh schon und mehr davon kann ich wirklich nicht gebrauchen. Mit überlagerten Bildern. Na ja! Flirrendes Irren. Caruso wandert, wie früher Rasputin, den Sonnenflecken auf dem Teppich nach. Nach draußen scheint es ihn nicht zu ziehen. Ich pflücke Birnen und fahre dann zum Schwimmen. Verzichte auf die Chorprobe in Heide. Die Hand dankt es mir, der Kopf dankt es mir, die zurechtgerückten Bilder danken es mir.
Sonntag, 20. September 2020
Nordsee
Ich sitze eine Stunde an der Sonne im Garten, Lese in den Briefen der Wölfe und Kirschen und halte die Hand still. Mit Quarkwickel. Dann fahre ich an die Nordsee. Vernunft oder Unvernunft. Es wäre eine Sünde, dies nicht zu tun. Bei dem Vorzeigewetter. Fast kein Wind. Viel Wasser. Angenehme Lufttemperatur. Ich schwimme eine Viertelstunde im kalten Wasser und die Hand dankt es mir. Ich dusche nicht mehr, um das Salz auf der Haut zu behalten.
Samstag, 19. September 2020
Bauchschmerzen
Herr Caruso hat Bauchschmerzen. Wenn ich ernsthafte Dinge mit ihm bespreche, spreche ich ihn mit vollem Namen an: "Enrico Caruso". Der Name klingt gewichtig und der Kater hört aufmerksam zu. Gestern abend hat er mich in die Hand gebissen. Natürlich in die Rechte. Situationsbedingt. Weil ich ihn dort angefasst habe, wo er nicht angefasst werden möchte, weil er offenbar Schmerzen hat. Am Bauch. Das hat er mir schon mehrmals signalisiert. Ich rufe im Tierheim an und man beruhigt mich. Das hätte wahrscheinlich mit der Entwurmung zu tun. Der aufgeblähte Bauch, die Überempfindlichkeit. Ich lasse ihn in Ruhe und mähe Rasen - weil es niemand für mich tut. Die Hand ist heiß und geschwollen. Ein Katzenbiss sei immer ein Notfall, sagt das Internet und die Nachbarinnen raten, den Notarzt zu rufen. In die Notaufnahme des WKK zu fahren. In Coronazeiten? Ich winke ab und bade die Hand in grüner Seife.
Freitag, 18. September 2020
Caruso
In der Feldmark der erste Bodenfrost. In meinem Garten ist es etwas wärmer. Caruso ist ein vornehmer Herr. Gut erzogen? Eine Fundkater - gehört erst ein Jahr nach Vertragsunterzeichnung wirklich mir. Und die früheren Besitzer können sich bis zu einem halben Jahr nach Auffinden melden. Und bekommen ihn, gegen Erstattung aller Kosten (Pflege und ärztliche Betreuung im Tierheim, Vermittlungskosten), zurück. Ich denke nicht daran. Herr Caruso zieht sich diskret zurück. Betritt die Küche nicht. Wartet geduldig, auch wenn er hungrig ist, an der Schwelle. Gibt das Bett frei, wenn ich schlafen will. Liegt im Flur an der strategisch richtigen Stelle. Beobachtet. Hat mich schon zweimal richtig gehauen und einmal gebissen. Das ist sein gutes Recht. Frisst! Das ist meine größte Freude. Hat gestern das ganze Haus abgeschnuppert und in der Nacht beide Katzenklos benützt. Ein Vorzeigekater.
Donnerstag, 17. September 2020
Neumond
Der Mond nimmt ab und wieder zu. Das Nichts, die Leere fand um 13 Uhr statt. Wir sollen genau das, das Nichts, die Leere, den Stillstand als Teil des Weges betrachten, schreiben die Mondlichter. Die Nacht war kalt und der Vormittag wild. Kopfschmerzen! Am Nachmittag dann der schwere Gang ins Tierheim. Die meisten Katzen wirken auf mich lethargisch, verängstigt. Wie Insassen einer Irrenanstalt. Antriebslos. Misstrauisch. Ich verliere schnell den Mut. Sie mit Leckerlis zu ködern, aus der Reserve zu locken und so ihre primäre Zuneigung zu kaufen, finde ich beschämend. Da ich ständig die Hände desinfizieren muss, riecht das, was ich ihnen entgegenstrecke, sicherlich alles andere als interessant. Schließlich werde ich in der Waschküche fündig. Und taufe den Kater bei der Vertragsunterzeichung um: Caruso!
Mittwoch, 16. September 2020
Der Rest des Fadens ...
... nicht das Ende!
Moritz Kirsch liest im Dithmarscher Landesmuseum. Unter Einhaltung strikter Hygienevorschriften. Mann und Frau muss an so etwas erst wieder gewöhnen. An mehrere Leute. Und alle mit diesem gewissen Etwas.
Aber: Moritz Kirsch, der durch seine schreibende Mutter sensibilisiert ist auf Katzen und Poesie, hat neue und alte Gedichte von Sarah Kirsch gelesen. Und eines Herrn Rasputin gewidmet.
Nebelsuppe
Feuchte, warme Nacht im Garten. Dicker, kalter Nebel in der Feldmark. Kein Sonnenaufgang!
Warum geht die Sonne manchmal als faszinierend scharfe Kontur, kugelrund und feuerrot auf und manchmal streut sie ihr gleißendes weißes Licht, kaum tritt sie übern Horizont, so dass ich auch mit neuer Brillenstärke geblendet die Augen abwenden muss? Die Optikerin hatte dazu gestern ihre eigene Meinung (Waldbrände in Kalifornien), aber die war vorgefasst und betraf gar nicht meine Frage.
Dienstag, 15. September 2020
Sternengucken
Ich konnte die Augen die ganze Nacht kaum schließen, weil so viele Sterne vom Himmel auf mich herabgucken. Ist es möglich, dass ich die Venus bis in die frühen Morgenstunden sehe? Ich schlafe mit offenen Augen stracks nach Westen. Viel Feuchtigkeit, mein outdoorschlafsack ist außen klatschnass, innen trocken. Er trieft, als ich ihn auf die Wäscheleine hänge. Ich kann heute nachmittag drei neue Brillen abholen. Allesamt alte Fassungen, mit neu angepassten Gläsern. Werde ich die nächsten Nächte mit Brille draußen schlafen ?
Montag, 14. September 2020
Schattensprung
Ich fahre an die Meldorfer Bucht. Gefühlt seit einer Ewigkeit zum ersten Mal wieder. Aber es ist erst vier Tage her, seit ich zitternt udn frierend am Abend vom Deich zurück kam. So täuschen die Gefühle. Trotzdem nutze ich die katerfreien Nächte und schlafe im Garten. Der Sommer ist wieder da und mit ihm die scharfen Schatten. Hitze. Hoher Sonnenstand. Die Wunderblume blüht endlich. Gelb. Bei den Nachbarn blühte sie schon im August. Rot. Wie es Wunder so an sich haben.
Sonntag, 13. September 2020
Sonne und Wind
Ungünstige Tide. Viel Wind. Frischer Morgen mit winziger Mondsichel. Kein Schwimmen, dafür Wäsche. Ich habe geträumt, dass mein zweiter Traumkater wieder aus dem Internet zu mir gekommen ist und ich in Eile das Designer-Klo mit Öko-Klumstreu befülle, ist ja noch alles ausreichend da von Herrn R. ... Im Wachzustand kann ich es mir aber überhaupt nicht vorstellen. La donna è mobile! Erledige ganz nebenbei viel Kleinkram, steige auf den Dachboden, putze das Wohnzimmerfenster von innen und außen. Schicke dabei ganz viele Spinnen zum Teufel.
Samstag, 12. September 2020
Kirschen und Wölfe
Ich lese im Briefwechsel von Sarah Kirsch und Christa Wolf. Stecke noch in den 1960-er Jahren fest. Das kreative - auch das quantitative Gefälle ist deutlich. Oder liegt es nur daran, dass die Wölfe ordentlicher aufbewahrten? Kirschen jedenfalls im Plural gab es aber nur, solange die Ehe zwischen Sarah und Rainer bestand. Die Wölfe hingegen hielten sich die Treue bis zum bitteren Ende.
Freitag, 11. September 2020
Rückseitenbetrachtung
Die Kehrseite eines Verlusts ist der Gewinn. Ich vermisse Herrn Rasputin an allen Ecken und Enden, werde mir aber gleichzeitig nach und nach bewusst, dass - und wieviel! - ich plötzlich ein Stück meines eigenen Lebens, meiner eigenen Zeit, meines eigenen Raums zurück gewinne. Zum Beispiel kann ich nun die Backofentür zum Auskühlen offenstehen lassen, ohne zu befürchten, dass ein neugieriger schwarzer Kater sein empfindliches Näschen reinsteckt. Oder eine Kerze darf brennen, ohne dass versengtes Schwanzhaar einen üblen Geruch verbreitet. Ganz zu schweigen vom Schreibtisch, der nun wieder vollumfänglich mir selbst zur Verfügung steht, dem Fensterbrett, auf dem nun wieder "Goethes Faust" Platz genommen hat, meinem Kopfkissen, meiner Bettdecke, allen Stühlen, Tischen, Sesseln, Decken im Haus, die er usurpiert hat, den beiden roten Ledersofas, an denen er mit Vorliebe seine Krallen wetzte, oder dem Perserteppich, auf den er sich liebend gerne zum Putzen oder Spucken setzte ...
Er ist nun auch in der Schweizer Presse verewigt: https://www.tagesanzeiger.ch/wir-singen-einen-bankraub-541007630618
Hier kann der Artikel als pdf eingesehen/heruntergeladen werden: https://stimmtuul.ch/einsingen-um-9/
Donnerstag, 10. September 2020
Bildbeschreibung
Ich mag Heiner Müllers Stücke nicht. Aber sein Prosatext "Bildbeschreibung" beeindruckt mich mehr als alles Coronagestammel, das ich seit einem halben Jahr höre, lese und selbst sage oder schreibe. Ein uralter Text (1985 erschienen, geschrieben wann?), der beginnt mit dem schönen, immer wieder wiederholten Satz: „Eine Landschaft zwischen Steppe und Savanne, der Himmel preußisch blau“. Der Text "verrätselt" sich zunehmend und "beschreibt eine Landschaft jenseits des Todes".
„Uneinholbarkeit des Vorgangs durch die Beschreibung, Unvereinbarkeit von Schreiben und Lesen, Austreibung des Lesers aus dem Text. Puppen, mit Wörtern gestopft statt mit Sägemehl. Herzfleisch. Das Bedürfnis nach einer Sprache, die niemand lesen kann, nimmt zu. Wer ist niemand. Eine Sprache ohne Wörter. Oder das Verschwinden der Welt in den Wörtern. Stattdessen der lebenslange Sehzwang, das Bombardement der Bilder (Baum Haus Frau), die Augenlider weggesprengt. Das Gegenüber aus Zähneknirschen, Bränden und Gesang. Die Schutthalde der Literatur im Rücken. Das Verlöschen der Welt in den Bildern.” Alle Zitate von Heiner Müller.
Ich habe draußen unter Sternen und einem halben Mond geschlafen. Heute ist bundesweiter Warntag. Macht Euch nichts draus, falls um 11 die Sirenen heulen.
Mittwoch, 9. September 2020
Sommernacht
Kaum zu glauben: die Nacht war so warm und sternenlos, blieb trotz dicker Wolkendecke trocken, dass ich im Garten geschlafen habe. Nachdem ich gestern nachmittag allen Ernstes überlegt hatte, ob ich endlich mein ganzes outdoorschlafzeug einpacken und für den Rest des Jahres auf den Dachboden tragen soll ... aus den Augen aus dem Sinn! Trotz langer Hitzeperiode und unendlich vieler tropischer Nächte an der Nordsee, habe ich in diesem Sommer kaum draußen geschlafen - aus Rücksicht auf meinen kranken Mitbewohner. Es schien mir unmenschlich (!), Herrn Rasputin im Haus einzusperren und mich selbst nachts im Garten unter freiem Himmel den Träumen hinzugeben. Das tat ich übrigens hitzebedingt auch tagsüber nicht. Wie bei allen kranken Familienmitgliedern beobachtete ich auch beim Kater starke Stimmungsschwankungen. Von beleidigt, trotzig distanziert bis hin zu grenzenloser Anhänglichkeit. So schliefen wir die meisten heißen Nächte dieses Jahres eng aneinandergeschmiegt. Er wärmte meinen Bauch, meine Brust oder meine Füße - in weiser Voraussicht, dass er dies in den kommenden kalten Winternächten nicht mehr wird tun können.
Dienstag, 8. September 2020
Igeltreue
Nein, erhebend war die gestrige Chorprobe nicht. Da lob ich mir das täglichfrohe Einsingenumneunlive vor dem Bildschirm allein zu Hause, mit der Möglichkeit, das Fenster zu öffnen oder zu schließen, die Heizung auf- oder abzudrehen, mit einigen Hundert virtuellen Mitsängerinnen und Mitsängern.
Nein, die Stimmung gestern abend war nicht locker, wir sangen zwar ganz nett, bewegten uns aber linkisch wie Marionetten. Es gab eine Art Anwesenheitsappell, wir mussten uns nicht mit Namen, sondern mit einer Nummer, die uns beim Betreten des Raums zugeteilt wurde, auf unseren Sitzplätzen melden. Vielleicht eine Vorschrift (sprich Schikane) des KGR oder des Gesundheitsamtes oder von Herrn Spahn persönlich. Ich war die Nummer Eins und fühlte mich trotzdem krank, als ich nach Hause kam. Eine Stunde im Durchzug sitzen, ist wahrscheinlich auch singend schädlicher für unsere Gesundheit als einmal Hände nicht desinfizieren. Durchgefroren bis auf die Knochen hatte ich nur einen Wunsch: unter die Decke. Für Sauna war ich zu erschöpft. Vor der Flucht ins Bett musste ich aber den Igel versorgen. Er wartete tatsächlich an der Hausecke und guckte mich vorwurfsvoll an. Ja, beruhigte ich ihn, du bekommst dein Abendbrot, angereichtert mit den letzten Vitamintropfen von Herrn R.
Montag, 7. September 2020
Klinkenputzen
Heute abend fahre ich zur ersten regulären Probe seit März nach Heide. Sie soll im gewohnten Probenraum stattfinden. Die outdoor Proben habe ich verpasst, erst wetterbedingt, dann katerbedingt. Schleswig Holstein ist das letzte Land im Land, das Chorproben auch in Innenräumen erlaubt. Wir werden in ungewohnter Aufstellung singen, mit viel Distanz in jede Richtung. Das fördert die sängerische Sicherheit! Und zwingt zu Eigendisziplin. Kein Anlehnen mehr an die Nachbarn oder Nachbarinnen. Ich habe immer gerne an der Grenze zum Tenor gesessen. Nun singen wir in zwei vierstimmigen Durchgängen, mit jeweils ungefähr der Hälfte der Sängerinnen und Sänger. Dazwischen lange Lüftungspause. Und das übliche Hygienekonzept. Auch ein Wort, das ich nicht mehr hören kann. Als ob wir früher (ja, wann war das?) lauter Dreck von uns gegeben und nie die Hände gewaschen hätten. In Birmingham hing schon vor 25 Jahren in den Pubs auf den Toiletten der unmissverständliche Aufruf "and now wash your hands!"! (Diese doppelte Ausrufzeichensetzung ist laut Duden korrekt!). Ich habe mich dort immer mehr vor den klinkenlosen Türen geekelt als vor den Händen der Barbesucher.
Sonntag, 6. September 2020
Sonntagsruhe
Weil ich die Stille nicht ertrage im Haus, das Klappern der Katzenklappe vermisse, das Plätschern des Trinkbrunnens, gleichzeitig bei jedem Geräusch verstört aufschrecke, zusammenfahre - wer oder was war das? wenn Herr Rasputin es nicht sein kann - werde ich doch bald ins Tierheim Tensbüttel fahren müssen.
Samstag, 5. September 2020
Wettlauf
Irgendwann beginnt immer der Wettlauf. Mit Vögeln, Wespen, Pilzen. Mit dem Wetter, dem Regen, der Kälte. Meine Birnbäume tragen so viele Früchte, dass die Äste unter Last fast brechen. Und da greift dann die Monilia Fruchtfäule regulierend ein. Ihre Sporen dringen über Wunden in die noch unreife Frucht ein. Wunden fügen den Birnen zum Beispiel ungeduldige Rabenvögel mit ihren spitzen Schnäbeln zu. Oder meine zahmen Gartenamseln, die nicht warten können, bis das Fruchtfleisch zuckersüß ist. Oder Wespen und Asseln, die wie Ohrwürmer Gänge bohren. Das Fruchtgewebe beginnt ringförmig zu faulen und nach und nach bildet sich ein samtweiches Schimmelpolster um die ganze Frucht. Manche trocknen so am Baum aus und bilden Fruchtmumien. Schöne Wörter und faule Früchte sammle ich diesen Herbst.
Freitag, 4. September 2020
"Tod ist ein laaaaanger Schlaf"
Herr Rasputin ist berühmt rund um den singenden Globus. Er war bis zum letzten Tag ständiger und aufmerksamer Zuhörer beim Einsingen um 9 - live. Nun bekommt er beim zweiten Special der Wunderbaren Vier ein an-an-ständiges Ständchen:
Donnerstag, 3. September 2020
Regenschauern
Herr Rasputin war ein Regenwasser- und Gießkannentrinker. Nun regnet es. Ich sammle alle Trinkschalen in allen Zimmern ein und mindestens vier grüne Gießkannen verschiedener Größen über die Flure und Stockwerke verteilt. Die gelbe steht draußen, aus der wollte er nie trinken. Den Trinkbrunnen trenne ich vom Strom. Der Bewegungsmelder reagiert nun nicht mehr. Es bewegt sich kein Kater mehr im Haus, also sind auch die Verlockungen des Plätscherns überflüssig. Den Inhalt des Brunnens entleere ich in einer Regenpause auf seinem Grab, in das Wasser hatte ich am Wochenende vorsorglich Notfalltropfen gegeben. Die werden ihn weiterhin besänftigen. Ich habe Bleiwurz gepflanzt, der muss eingeschlämmt werden.
Mittwoch, 2. September 2020
Eulenheulen
Der Sohn der Nachbarin fragte, ob Rasputin nun fliegen könne. Seit zwei Nächten heulen die Eulen im Kastanienbaum und putzen sich um die Wette. Ich sammle im Morgengrauen alle feinen Federn ein und lasse sie auf Herrn Rasputins letzte Ruhestätte rieseln. Ja, ein toter Kater kann natürlich fliegen!
Der Mond ist gerade voll geworden, das Licht in der Nacht wird nun wieder abnehmen.
Dienstag, 1. September 2020
Herr Rasputin
Neuer Monat. Herr Rasputin ist seinen letzten Weg gegangen. Sehr vernünftig. Gefasst. Wollte früh nochmals vor die Tür. Weiter nicht. Sass kurz an der frischen Siebenuhrsonne. Die Nacht war kalt, die erste Herbstnacht mit einstelligen Temperaturen. Der Morgen über der Feldmark neblig. Fressen wollte er nicht. Nur ein bisschen schnuppern über dem Futter. Aber trinken. Trinken. Trinken. Die Nieren hätten ihren Dienst bald ganz aufgegeben und den Moment musste ich ihm ersparen. Er war noch einmal auf meinem Schreibtisch. Hörte sich noch einmal unser Einsingen an. Kackte noch einmal in den Garten der Nachbarin. Verabschiedete sich. Dann fuhren wir zusammen nach Nindorf. Hin. Und wieder zurück. So ist das Leben am Wattenmeer. Das Wasser läuft auf und wieder ab. Herr Rasputin schleicht jetzt irgendwo am Himmel zwischen den Wolken herum und kann endlich sehen, was ich so treibe, wenn ich nicht zu Hause bin. Ich schwimme in der Nordsee. Sein abgemagerter Körper ruht im Garten, im verwilderten Blumenbeet unter der Edelkastanie.