Sonntag, 29. November 2009

Die Scham 3

Laut offiziellen Angaben (http://abstimmungen.swissinfo.ch/index-ger.html) betrug die Stimmbeteiligung bei den drei eidgenössischen Vorlagen vom 29.11.2009


  • bei der Volksinitiative "Gegen den Bau von Minaretten" 53,7 %
  • bei der Volksinitiative "Gegen ein Verbot von Kriegsmaterial-Exporten" 53,4%
  • beim Bundesbeschluss zur Schaffung einer Spezialfinanzierung für Aufgaben im Luftverkehr 52%.
Die Presse nennt die Stimmbeteiligung "außerordentlich" hoch. Normalerweise liegt sie deutlich unter der 50%-, wenn nicht gar unter der 40%-Marke.
An diesem Wochenende sieht die direkte Demokratie in der Schweiz folgendermassen aus:

  • 46,3 % der Stimmberechtigten schweigen (haben keine Meinung oder keine Lust, sie zu veräußern) zum Minarettverbot
  • 46,6 % der Stimmberechtigten schweigen (haben keine Meinung oder keine Lust, sie zu veräußern) zum Kriegsmaterialexportverbot
  • 48 % der Stimmberechtigten schweigen (haben keine Meinung oder keine Lust, sie zu veräußern) zu der von niemandem groß beachteten Umschichtung von Geldern für den Luftverkehr.

Die Scham 2

Ich schäme mich, einmal mehr, für ein Land, das längst nicht mehr meine Heimat ist, dessen Pass ich aber nach wie vor besitze sowie das Recht, an eidgenössischen Abstimmungen teilzunehmen.
Ich schäme mich für eine Schweiz, die so aussieht:
http://bazonline.ch/schweiz/standard/Keine-Chance-fuer-das-Verbot-der-Kriegsmaterialexporte/story/17691959

Die Scham 1

Ich schäme mich, einmal mehr, für ein Land, das längst nicht mehr meine Heimat ist, dessen Pass ich aber nach wie vor besitze sowie das Recht, an eidgenössischen Abstimmungen teilzunehmen.
Ich schäme mich für eine Schweiz, die so aussieht: http://bazonline.ch/schweiz/standard/MinarettVerbot-Ein-Ja-zeichnet-sich-ab/story/31785289

Samstag, 28. November 2009

Am Wattenmeer 2

Ich denke über den Wind nach. Und die Buchstaben aus Holz. Jenny Holzers fließendes Licht. Das etwas transportiert. Aber was? LED = Light Emitting Diode.
Ilma Rakusa schreibt auf der vorletzten Seite von "Mehr Meer" (Schweizer Buchpreis 2009): "... im Grunde muss er einsilbig sein, der Wind, wie der Schnee, nicht wie die Wolke, die Formen annimmt ...". Aber das glaube ich nicht. Bei uns, an meinem Meer, am Wattenmeer muss der Wind wie das Meer mindestens zweisilbig sein, wenn nicht mehrsilbig. Hier ist der Wind zweistimmig, mehrstimmig. Hier ist der Wind zweidimensional, mehrdimensional. Auch der Schnee nimmt schließlich Formen an. Und wie! Es ist der Wind, der den Schnee oder das Meer aufbäumt. Vor ihr letztes Kapitel, das den Titel "Wind" trägt, setzt Ilma Rakusa ein Zitat von Yoko Tawada: "Das Gesicht des Windes ist das, was er in Bewegung setzt."
Das sind Widersprüche. Jenny Holzers Buchstaben laufen ohne Wind. Aber mit Strom. Deshalb sind sie regelmäßig wie ein Herzschlag. Aber blutleer.

Freitag, 27. November 2009

Sturm und Regen

Endlich. Die Amseln vollführen ein Geschrei, als ich ihnen das alte Brot kleingeschnitten hinwerfe. Sie bedienen sich als erste. Dann kommen die Meisen und Spatzen. Vorsichtig. Es wird bald dunkel. Ich habe vielleicht zu lange geschlafen. Das Haus konnte ich eh nicht verlassen.

Donnerstag, 26. November 2009

Am Wattenmeer

Zu Hause, kaum zu glauben. Wir fahren nach Hamburg. W. fliegt nach Nürnberg. Ich komme um Mitternacht wieder. Sein altes rotes Fahrrad hatte er gestern am Bahnhof stehen gelassen. Heute ist es vorne und hinten platt. Ich schiebe es nach Hause. Es ist dunkel. Um 23 Uhr wird die Straßenbeleuchtung ausgeschaltet. Das Ventil am Hinterrad ist ganz herausgedreht. Geklaut. Das Ventil am Vorderrad ist aufgedreht. Oder der Reifen zerstochen. Ich weiß es nicht. Ich bin zu müde, es zu überprüfen.

Mittwoch, 25. November 2009

Jenny Holzer

Ich fahre nach Hause über Riehen. Ich schaue mir in der Fondation Beyeler Jenny Holzers LED-Installationen an. Nicht alles gefällt mir. Wo hört der Text auf, ein Text zu sein und wo fängt ein visueller Effekt an, ein visueller Effekt zu sein? Freigegebene US-Regierungsdokumente zum Irak-Krieg, Autopsieberichte, Korrespondenz zu Verhörmethoden, allesamt an sensiblen Stellen geschwärzt - wo kommt das unter in einer Endlos-LED-Schleife? Die XXXXX - das verstehe ich bald - bedeuten Zensur. Aber kein Mensch sieht sich diese Texte an, um sie zu lesen. Kein Auge hält es aus, stundenlang diese laufenden, leuchtenden, pumpenden, springenden elektronischen Buchstaben zu verfolgen. Kein Hirn bringt es fertig, diese stunden-, tage-, wochenlang, ja endlos lang laufenden Buchstaben fortwährend zu Wörtern und Sätzen und Inhalt zu verknüpfen. So what? Wer zehn Minuten stehenbleibt und oft genug die Buchstaben "GWBUSH" oder "TOP SECRET" gesehen hat, weiß alles.
Anderes ist nett. Die frühen Truisms (von "true" = wahr, etwa zweihundertfünfzig Statements, die Allgemeinplätze versammeln, Maximen, Klischees), die Benches (Bänke aus Bethel White Granit), die Inflammatory Essays (Sammlung von Texten mit jeweils 100 Wörtern), sogar die Plaques (Bronzetafeln), die so unscheinbar sind, dass sie in den LED-Farb-Gewittern fast verschwinden.

Ich fliege nach Hause von Basel. Ich nehme meine Schlaflosigkeit wieder mit. Jenny Holzers Buchstaben tanzen in meinem Kopf. Ohne Sinn und Verstand. Keine Handschrift. Keine Druckschrift. Nur Impuls. Puls. Pulsieren. Signal. Warnlampenleuchtend rot oder gelb.

Dienstag, 24. November 2009

Das Schuhmachergedenken

Ich bin immer noch bei den wahren Fölmlis. Als Rosa Fölmli 1961 im Alter von 81 Jahren starb, ging der Witwer, der Schuhmacher Anton Fölmli, zum Menznauer Pfarrer, bestellte und bezahlte die sogenannte Jahrzeitmesse, die Seelenmesse für seine verstorbene Frau Rosa, für die nächsten 50 Jahre. Als Anton Fölmli 1969 im Alter von 83 Jahren starb, ging sein Sohn, der Schuhmacher Anton Fölmli zum Menznauer Pfarrer und erledigte das Nötige, damit sein Vater in die Jahrzeitmesse seiner Mutter mitaufgenommen wird.

Heute findet in Menznau das Jahrzeit für Rosa und Anton Fölmli statt. Der Cäcilienchor singt während der feierlichen Messe. Man sagt, hinter dem jährlich wiederholten Totengedenken stehe die Vorstellung, dass unsere Gebete für die Seelen der Verstorbenen deren Leidenszeit im Fegefeuer verkürzen würden und sie also schneller in den Himmel gelangen könnten.

In meiner Vorstellung, nicht nur in meiner literarischen Verarbeitung, sind Rosa und Anton längst im Himmel angekommen. Ich danke ihnen für das, was sie mir auf Erden hinterlassen haben.

Montag, 23. November 2009

Der Schuhmacherdraht

Auch Gottfried Keller verehrte und verewigte die Schuhmacher - wer es nicht glaubt, lese untenstehendes Zitat aus dem Sinngedicht. Keller nennt darin den Schuhmacher "Schuh- und Hochzeitsmacher". Für die Protagonistin Lucie stellt dieser Macher "Wald- und Feldschuhe" her. Wie er Pechdraht anfertigt, und welche besonderen Konsequenzen das Anfertigen dieses besonderen Schuhmacherdrahtes haben kann, beschreibt Keller folgendermassen:

»Der junge Meister, der noch allein arbeitete, war eben im Anfertigen eines neuen Vorrates von Pechdraht begriffen. An einem Haken über dem jenseitigen Fenster hatte er die langen Fäden von Hanfgarn aufgehängt, welche durch die ganze Stube reichten, und schritt nun, die eine Hand mit einem Stücke Pech, die andere mit einem Stücke Leder bewehrt, rück- und wieder vorwärts Garn und Stube entlang, strich das Garn und drehte oder zwirnte es auf dem einen Knie in kühner Stellung kräftig zum haltbaren Drahte und sang dazu ein Lied. Es war nichts Minderes, als Goethes bekanntes Jugendliedchen »Mit einem gemalten Bande«, welches zu jener Zeit noch in ältern, auf Löschpapier gedruckten Liederbüchlein für Handwerksburschen statt der jetzt üblichen Arbeitermarseillaisen und dergleichen zu finden war und das er auf der Wanderschaft gelernt hatte. Er sang es nach einer sehr gefühlvollen altväterischen Melodie mit volksmäßigen Verzierungen, die sich aber natürlich rhythmisch seinem Vor- und Rückwärtsschreiten anschmiegen mußten und von den Bewegungen der Arbeit vielfach gehemmt oder übereilt wurden. Dazu sang er in einem verdorbenen Dialekte, was die Leistung noch drolliger machte. Allein die unverwüstliche Seele des Liedes und die frische Stimme, die Stille des Nachmittages und das verliebte Gemüt des einsam arbeitenden Meisters bewirkten das Gegenteil eines lächerlichen Eindruckes.
Wenn er mit leichten Schritten begann:

Kleine Blumen, kleine Blätter – ja Blätter
Streien wir mit leichter Hand,
Gude junge Frihlings-Gädder – ja Gädder
Tändeln auf ein luftig Band,

bei dem luftigen Bande aber durch einen Knoten im Garn aufgehalten wurde und dasselbe daher um eine ganze Note verlängern und zuletzt doch wiederholen mußte, so war die unbekümmerte und unbewußte Treuherzigkeit, womit es geschah, mehr rührend als komisch. Die Strophe:

Zephir, nimm's auf deine Flügel,
Schling's um meiner Liebsten Kleid;
Und so tritt sie vor den Spiegel
All in ihrer Munterkeit,

gelang ohne Anstoß, ebenso die folgende:

Sieht mit Rosen sich umgeben,
Selbst wie eine Rose jung,
Einen Blick, geliebtes Leben!
Und ich bin belohnt genung.

Nur schien ihm das »genung« nicht in der Ordnung zu sein, und er sang daher verbessernd:

Einen Blick, geliebtes Leben!
Und ich bin belohnt genuch.

Reinhart und Lucie blickten sich unwillkürlich an. Der Sänger im kleinen Hause schien für sie mitzusingen, trotz jenes abscheulichen Idioms. Welch ein Frieden und welch herzliche Zuversicht oder Lebenshoffnung pulsierten in diesen Sangeswellen! Am jenseitigen Fenster stand ein mit Grün behangener Vogelkäfig. Nun kam aber die letzte Strophe. Fihle, sang er,

Fihle, was dies Herz empfindet – ja pfindet,
Reiche frei mir deine Hand,
Und das Band, das uns verbindet – ja bindet,
Sei kein schwaches Rosenband!

Weil der Draht noch nicht ganz fertig war, sang er diese Strophe mehrmals durch, immer heller und schöner, mit dem Rücken gegen die Lauscher draußen gewendet; im Bewußtsein der nahen Glückserfüllung wiederholte er das

Reiche frei mir deine Hand

besonders kraftvoll und ließ dann im höchsten Gefühle die geschleiften Noten steigen:

Und das Band, das uns verbindet,
Sei kein schwaches Rosenband!

Da ein paar Kanarienvögel mit ihrem schmetternden Gesange immer lauter dreinlärmten, war eine Art von Tumult in der Stube, von welchem hingerissen Lucie und Reinhart sich küßten. ...«

aus: Gottfried Kellers Werke, 6. Band, Das Sinngedicht, S. 311 ff

Sonntag, 22. November 2009

Die wahren Fölmlis

10:30 Stadtmühle Willisau: „Die Fölmlis. Eine Schuhmacherfamilie“ - Lesung und Erzählcafé

Die wahren Fölmlis versammelten sich heute vormittag in Willisau in der Stadtmühle. Dazu noch etwa 150 Gäste. Die Stadtmühle besitzt 108 Stühle. Wer nicht frühzeitig kam, musste leider stehen. Trotzdem lauschten alle artig den Ausführungen von Vater Anton, Sohn Antoine und Tochter Frieda. Sowie meiner literarischen Umsetzung.
Die wahren Fölmlis veranstalteten, nachdem sich der Saal nach dem letzten Applaus wieder geleert hatte, ein Fotoshooting. Die wahren Fölmlis rückten Stühle und Menschen zurecht. Sie stellten Kinderfotos, Familienfotos nach. Der Jüngste, der jetzt der Größte ist und damals als Kleinster zwischen seinen Schwestern auf einem Stapel Telefonbüchern stand, geht in die Knie. Der Älteste, der erfolgreichste Schuhverkäufer der Schweiz, geht in den vorzeitigen Ruhestand. Die Eltern sitzen auf zwei normalen Stühlen. Im Fotostudio gab es damals ein Sofa mit gedrechselten Beinen und geschwungenen Armlehnen. Heute in der Stadtmühle stehen, wie gesagt, 108 stapelbare Konferenzstühle zur Verfügung. Die Schwestern sind nicht mehr gleich angezogen. Auch das lässt sich nicht mehr nachstellen. Irgendwann holt die Schuhmacherin ihre Schriftstellerin dazu. Nun sind drei Töchter auf dem Bild. Und vier Söhne. So wird Geschichte gemacht. Und Literatur.

Samstag, 21. November 2009

drunter und drüber

Manchmal geht es bei meiner Schuhfrau drunter und drüber. Auf Weihnachten bereitet sie ihre Kundinnen und Kunden mit einer "advent-ausstellung" der besonderen Art vor. Da kullern Perlen aus dem Kandaharstiefel. Über Vabeene Dunja, Arche Anabus oder Hartjes Geneva liegt ein Spitzenslip oder Spitzen-BH. Ton in Ton. Schals und Stulpen. Zeitungspapierrosetten und Swarovskikristalle. Raffinierte Dessous. Kostbare Leder. Exklusive Accessoires. Unverwechselbarer Stil. Das Darunter mit der entscheidenden Wirkung auf das Darüber. Oder Umgekehrt.
Nach Sonnenuntergang werden in der Werkstatt bei Kerzenlicht Liebesgedichte gelesen. Gestern und heute. Bis 22 Uhr!

Freitag, 20. November 2009

Der Liestaler Crispin

Ohne allzuviel geschlafen zu haben, bin ich schon wieder unterwegs. Die orkanartigen Winde haben sich gelegt, das Flugzeug landete trotzdem mit Verspätung, die Temperaturen sind nach wie vor überdurchschnittlich hoch. Am Mittag stehe ich mit Koffer und im Wintermantel in Liestal an der Mühlegasse und betrachte verwundert den roten Sandsteincrispin an der Hausfassade. Er hält hier seinen Stiefel bestimmt schon länger in beiden Händen, als ich lebe.

Ich habe ihn nie gesehen. Nie erkannt. Nie beachtet. In all den Jahren nie, in denen ich in Liestal lebte, laufen lernte, lesen lernte, schreiben lernte, gucken lernte, denken lernte, fragen lernte. Nie in all den Jahren, in denen ich hier herumlief, mit Schuhen an den Füßen, Flausen im Kopf und Tränen im Haar, fragte ich, wer ist denn das und warum sieht er so römisch aus mit seinem Gewand und den langen Locken. Nie in all den Jahren sah ich ihn oder fragte mich, wozu der einen dritten Stiefel in seinen Händen hält, wo er doch an jedem Fuß bereits einen trägt.

Donnerstag, 19. November 2009

Kontributionen

Folgender Aufruf erreicht mich, gerade als ich den Strom ausschalten will. Ich leite ihn als Text weiter, bevor ich das Haus verlasse.
Der Originalaufruf ist hier abzurufen: http://www.design2context.ch/data/file/Apell_Layout%201.pdf

"Wer gestaltet heute die schweizer rassistische Propaganda ?

Aufruf zur politischen visuellen Kommunikation!
Die rassistische Rhetorik der öffentlichen Sprach- und Bildpropaganda in der Schweiz untergräbt alle politische und gesellschaftliche Solidarität.

Ausgehend von einer öffentlichen Debatte am 19. 11. 2009 beim Institut Design2context der Zürcher Hochschule der Künste ergreifen wir als Designer, Architekten, Künstler, Graphiker mit Freunden und Partnern die Initiative:
- laßt uns miteinander alle Aufklärung über die faschistischen, rassistischen und diskriminierenden Vorläufer, Quellen, Vorgeschichten dieser politischen Propaganda aufdecken!
- laßt uns selbst unsere politischen Mittel der visuellen Kommunikation dagegensetzen und damit den Raum der öffentlichen Angelegenheiten zurückgewinnen!

Wir erwarten dringend Eure recherchierenden und Eure entwerfenden Kontributionen:
an das Institut Design2context, ZHdK, Hafnerstrasse 39, (Ch) 8005 Zürich,
mail: info.design2context@zhdk.ch, Tel.: +41 43 446 6202.

Legitimiert das Recht auf freie Meinungsäusserung
Diskriminierung und Hass-Aktionen ?
Woher kommt die faschistische Ästhetik ?

Design2context (ZHdK)"

Mittwoch, 18. November 2009

Nordseesturm

Tagsüber tobte der Nordseesturm. Sturmflutwarnungen kamen seit dem frühen Morgen aus dem Radio und vor meinem Fenster riss der Wind meinen Brombeerzaun auseinander, hob den Deckel von der Regentonne, schleuderte die Papiertonne um die Hausecken, knickte das Rosenspalier um, rüttelte am Baumhaus - einzig es widerstand.

Nachts kann ich nicht schlafen. Ich starre mit offenen Augen an die Decke, höre das Wasser ruhig vom Dach herunterlaufen, als hätte es Beine. Als wäre es ein Tausendfüßler. Oder als wimmele es, das stille Wasser, von tausend Tausendfüßlern. Als wäre gar nichts gewesen. Ich bin in einer Mühle, einmal mehr, drehe an einem Mühlrad oder an einem Mahlstein der Geschichte oder meines Traumes, einmal mehr, obwohl ich hellwach in meinem Bett am Wattenmeer liege.

Samstag, 14. November 2009

Föhnsturm

In den Schweizer Alpentälern tobte in der Nacht ein Föhnsturm, teilt der Wetterdienst mit. Zugleich stiegen die Temperaturen auf fast sommerliche Werte. Die höchsten Werte wurden in Glarus mit 19,3 Grad, in Altdorf mit 18,9 Grad gemessen. Bei Flüelen am Urnersee kletterte das Thermometer auf 17,8 Grad Celsius, im Wallis auf 17,7 Grad, im sankt-gallischen Rheintal auf 17,1 Grad und in Genf auf 14,9 Grad. So hohe Temperaturen seien keine Seltenheit, beruhigen die Wetterfrösche. Sie würden im November im Schnitt alle zwei Jahre erreicht.

Der warme Kopfwehwind kühlte vor dem Mittelland wieder ab und begab sich zur verdienten Ruhe. Dort sanken die Temperaturen in der Nacht bis auf den Gefrierpunkt und alle Menschen schliefen gut und traumlos.

In Appenzell und Glarus erreichten die Windgeschwindigkeiten hingegen 93 Kilometer in der Stunde, im Urner Reusstal bis zu 87 Kilometer. Auch im Berner Oberland und im Wallis stürmte es: Dort gab es Windspitzen von bis zu 80 Kilometern in der Stunde. Im Jura machte sich der Südwestwind bemerkbar, über den Chasseral sauste er mit 102,6 Kilometern pro Stunde.

Der November bleibe weiterhin mild, auch wenn der Föhn bis zum Nachmittag abklinge, sagen die Meteorologen: «Ein Wintereinbruch ist nicht in Sicht».

Dienstag, 10. November 2009

Der Urknallsimulator

Ein feuchtes Stück Brot, von einem "unachtsamen Vogel", wie es in einer Pressemeldung heißt, fallengelassen, sorgt für einen Kurzschluss. Nicht bei mir zu Hause. Sondern ausgerechnet im Europäischen Kernforschungszentrum (Cern) in Genf. Ausgerechnet in einer "außenliegenden elektrischen Anlage". Ausgerechnet während eines Tests mit dem LHC-Beschleuniger. Angeblich war es, es lebe die Francophonie, ein Stück Pariser Baguette.

Dieser Kurzschluss beeinträchtigte das Kühlsystem. Die Tiefsttemperatur von minus 273 Grad Celsius stieg auf minus 268 Grad Celsius an. Die Anlage schaltete sich aus. Der Test musste abgebrochen werden.

Stromschienen in einer Außenanlage könnten nicht hinreichend gegen Verunreinigungen geschützt werden, stellt ein Spezialist fest. Vogelkot oder andere Feuchtabfälle würden Ähnliches bewirken. Zu jeder Zeit. Und der Spezialist fragt sich selbst, wie es um die Sicherheit des LHC bestellt ist, wenn erst einmal nach dem Hochfahren der Urknall-Maschine die beschleunigten Teilchen aufeinanderprallen.

Was sagt der Laie dazu? Kratzt sich am Kopf und hofft, dass es keine Läuse sind.

Montag, 9. November 2009

Ein tränenloser Tag

Früher, als wir noch in Berlin lebten und noch einen Fernseher besaßen, weinten wir oft, wenn zum Jahrestag die Bilder von allen Seiten auf uns einstürzten. Die Bilder der Maueröffnung. Heute ist mein im Westen Berlins geborener Mann in Peking und ich in Meldorf. Zwischen früher und heute liegen unter anderem unsere ernüchternden Jahre an der Ostsee in Stralsund. Ich gucke in die Zukunft und räume meinen Schreibtisch am Wattenmeer leer. Es lässt mich kalt, was Frau Merkel oder Herr Wałęsa gerade tun. Oder sagen. Angeblich hat der Polnische Papst die Berliner Mauer umgestoßen. Zu 50%, wie der ehemalige Elektriker ausrechnet. Von den verbleibenden 50% habe 30% er selbst sowie die von ihm gegründete Solidarność zu verantworten, und ganze 20% der ganze Rest der Welt.

Ich war beim Zahnarzt, er bot mir an, Quitten aus dem Garten mitzunehmen. Ich kam gutgelaunt nach Hause. Sortierte Papiere, Schuhe und Sohlen. Legte Seiten um Seiten um. Und ab. Warf vieles weg. Speicherte mein letztes Buch auf einer CD-Rom sowie auf meiner externen Festplatte, ehe ich das Verzeichnis löschte.

Ich öffne das Fenster. Dem rauen Nordseewind und einem bilderlosen Winter.

Sonntag, 8. November 2009

Der erste Winterstrandtag

Ich brauche unendlich lange, um zu begreifen, wo ich bin. W. ist heute von Shanghai nach Peking geflogen und trägt wieder brav Schal, Handschuhe und Wintermantel. Ich habe immer noch das Gefühl, von Tschlin die Serpentinen hinunter ins Tal zu fahren. In ein unendlich weit entferntes Tal, unendlich kurvenreich. Den lieben langen Tag. Und nachts sucht mich mein neuester Alptraum heim. Gestern Abend vertiefte ich mich in ein Stück hervorragender Literatur meiner polnischen Freundin Maria. Sie rechnet mit ihrem Heimatland ab, ich mit meinem. Ich auf meine Art, sie auf ihre Art - ich kugelte mich vor Lachen. Und trotzdem träumte ich von meiner neuen Alp.

Am Mittag schwinge ich mich mutig auf mein gutes (neues) Fahrrad. Ich besitze für jede Lebenslage ein eigenes Fahrrad. Im Winter gehört der Strand den Schafen. Alle Zäune sind offen und die Schafe können sich auf jedem Strandabschnitt frei bewegen. Ich setze mich auf eine Bank auf dem Deich, die jemand vor mir gesäubert haben muss. Ich weiß, dass die Schafe im Winter gerne auf die Bänke steigen, auf den Bänken sitzen, auf die Bänke scheißen. Ich kaue ein Käsebrot und schaue auf das Watt. Das Wasser kommt nur zögerlich zurück. Von wo auch immer. Es ist fast windstill. Wo auch immer. Ich fahre durch die abgeernteten Kohlfelder nach Hause. Auch hier weiden nun Schafe. Den Schafen gehört die ganze Welt.

Meine Schuhsohlen sind voller Schafskot. Gutes Profil, gut gefüllt. Die Reifen an meinem Fahrrad sind voller Schafskot. Gutes Profil, gut gefüllt. Die Kette, die Pedale, der Rahmen, alles schafskotverspritzt. Ich lasse die Schuhe neben dem Fahrrad stehen. Im Fahrradschuppen riecht es wie in einem Schafstall.

Freitag, 6. November 2009

e-voting

Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben meine Stimme elektronisch abgegeben. Die elektronische Urne des Kantons Basel-Stadt öffnete heute um 12 Uhr MEZ. Meine Stimme ging um 19.44 Uhr ein. Zusammen mit den im Kanton Genf gemeldeten Auslandschweizerinnen und Auslandschweizern gehöre ich zu den ersten privilegierten Bürgern meines Landes. Wir stehen außerhalb - und dürfen schnell denken, unseren eigenen Verstand einschalten, uns blitzartig entscheiden und agieren, lange bevor die Parteistrategen ihr demokratisches Geld für ihr demokratisches Beeinflussen des demokratischen Volkswillens ausgegeben haben.

Donnerstag, 5. November 2009

Schwebebahnen

Während ich am Wattenmeer den ganzen Tag versuche, zu mir zu finden, fährt W. in Shanghai 7 Minuten mit der Magnetschwebebahn vom Flughafen in die Innenstadt.
Während ich am Wattenmeer versuche, die helvetische Langsamkeit aus dem Kopf und aus dem Bauch zu vertreiben, freut W. sich über das "Ruckeln" in Asien. "430 km/h", schreibt er. "Schnell, aber die Sitze usw. schon chinesisch angeranzt."
Während ich am Wattenmeer in den Novemberregen starre, zieht W. im Regenwaldhotel Sommersachen an. "Um die 20 Grad", schreibt er, "aber heftiger Smog, vom Fernsehturm und den Hochhäusern in Pudong kaum etwas zu sehen."

Dienstag, 3. November 2009

Sonne

Um 11.29 überquere ich in der NOB den Nordostseekanal. Und endlich gibt es wieder einen Himmel. Die Sonne durchbricht die Küstennebelfelder mit aller Gewalt. Der Rest der Welt versinkt.

Ich treffe an meinem Schreibtisch am Wattenmeer ein mit einer Verspätung von 40 Minuten. So lange stand das Flugzeug in Basel am Boden. Wegen traffic über Frankfurt. Ich verstand die Zusammenhänge nicht und las Paulo Lins in Polnisch. Neben mir brüllte ein Kind aus Leibeskräften. Es verstand die Zusammenhänge auch nicht und konnte weder lesen noch schreiben. Deshalb schrie es.

Ich streife durch den Garten. Das Laub liegt kniehoch vor dem Haus. Es ist keiner da.
Ich packe meinen Koffer aus.
Dann packe ich W.'s Koffer ein.

Montag, 2. November 2009

Regen

Wir fahren den ganzen Tag im Auto durch Regen. Die Schweiz ist ausgetrocknet. Jetzt wird sie eingeregnet. Am Abend wird der Regen in Schnee übergehen, sagen die Wetterpropheten. Dann wird die Schweiz eingeschneit. Mir ist schwindlig. Ich habe Kopfschmerzen. Mir wird schlecht. Irrungen und Wirrungen von Tschlin auf 1550 Metern bis hinunter an den Rhein in Basel. Am Samstag auf der Hinfahrt haben wir das Glarnerland rechts liegen gelassen. Heute auf der Rückfahrt lassen wir es links liegen. Es ist nichts zu sehen. Nur Regenwände. Und doch ist alles in mir, in meinem Körper. Ich weiß nicht mehr, wo er sich gerade befindet.

Sonntag, 1. November 2009

Tschlin

11 Uhr, Sala Polivalenta.
Ich lese umgeben von Schuhen und Frauen das Kapitel, das unsere Reise beschreibt.

Zum Angucken hier (benötigt wird die neueste Version des RealPlayer SP, der link funktioniert etwa 2 Wochen lang, danach verschwindet das Video im Archiv des Rätoromanischen Fernsehens):
http://www.rtr.ch/rtr/index.html?siteSect=19995&url=http://real.xobix.ch/ramgen/rtr/tg/2009/tg_11022009-450k.rm?start=00:08:07.872&end=00:11:16.154&ne_id=11438982&progid=46&type=tv&speed=450