In Bologna findet seit Jahrzehnten im Frühling eine Kinderbuchmesse statt. Davon wusste ich bis eben gar nichts. Im Rahmen dieser Messe versammeln sich – logisch eigentlich, wenn man einmal anfängt, sich darüber Gedanken zu machen – auch Kinderbuchillustratoren. Es gibt Ausschreibungen, Wettbewerbe, Auswahlverfahren, Ausstellungen, Auszeichnungen und so weiter, und so fort.
Da die Nachrichten in den letzten Tagen immer mit einer Unwetterwarnung enden, Sturmböen über Dithmarschen, heißt es da, mit Angabe von Windstärken, dass einem Hören und Sehen vergeht, verlasse ich momentan das Haus nicht. Da aber gleichzeitig das Jahr unerbittlich voranschreitet und ab und an das Telefon klingelt, merke ich plötzlich, dass ich noch keinen Kalender für das neue Jahr besitze. Ich mache mir Notizen auf fliegenden Zetteln. Das ist gefährlich im Winter an der Nordsee.
Ich berichte W. von meinen Nöten und er lacht mich aus. In der zweiten Schublade von oben, links unter seinem Schreibtisch läge ein Kalender für mich. Er hat aufgeräumt zwischen den Tagen und schenkt mir ein „appointment diary“. Herausgegeben vom taiwanischen Regierungsinformationsamt. Illustriert mit Zeichnungen taiwanischer Künstler, die in den letzten zwanzig Jahren an der Kinderbuchmesse in Bologna gezeigt wurden.
„Eine Zeichnung“, lese ich im Grußwort – der erste Kalender meines Lebens mit einem Grußwort! – „ist eine Welt für sich“. Das Erzählen in Bildern spricht andere Reize an als das Erzählen mit Wörtern. „Die Daumentante“ heißt die Zeichnung des erst 23-jährigen Inca Pan aus Taichung, welche die erste Hälfte des Monats April in meinem neuen Jahr illustriert. Mir gefällt das Wort, weil es ein ungewöhnliches Kompositum ist. Aber ich verstehe seinen Sinn nicht. Auch nicht, wenn ich die Zeichnung betrachte. Ich sehe keine Tante, keine Daumen. Die chinesischen Zeichen helfen mir nicht weiter. Der halbe Kalender, das halbe Jahr, die halbe Zeit ist unverständlich beschrieben und beziffert. Da die Taiwanesen aber wie alle Asiaten fleißig sind, gibt es auch englische und französische Übersetzungen: „Thumbelina“. Die Daumentante. Im Grußwort finde ich einen Hinweis darauf, dass Inca Pan die „Daumentante“ 2005 zum Wettbewerb anlässlich des 200. Geburtstages von Hans Christian Andersen eingereicht hatte. Der Wettbewerb stand unter dem Motto „Des Kaisers neue Zeichnungen“. Mein neuer Kalender steht unter dem Motto „wir alle werden älter“ – aus dem Däumelinchen ist die Daumentante geworden.
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