Sonntag, 25. November 2007

Die Springtide


Gestern sah ich von der Fußgängerbrücke über dem Eidersperrwerk auf eine wahrhaftige Springtide herab. Alle fünf Sieltore standen offen und das auflaufende Wasser drückte den Fluss mit aller Macht zurück ins Land. Die Eider floss bereits Stunden vor dem besonders hoch zu erwartenden Höchstwasserstand rückwärts.

Der Morgen war klar und kalt. Der Mond stand kugelrund und riesengroß am Horizont, als wir in Meldorf losfuhren. Er ging unter, als die Sonne aufging. Siehst du, sagte W. So ist das bei Vollmond. Ja, ich sehe es. Die absolute Abwesenheit von Bergen begünstigt das Beobachten der Bewegungen am Himmel.

Die gezeitenerregenden Kräfte werden bei Neumond und Vollmond verstärkt, bei zu- oder abnehmendem Mond heben sie sich hingegen teilweise auf. „Mond und Sonne ziehen die Gewässer nach sich“, wusste schon der erste Nordseefahrer Pytheas von Massilia im 4. vorchristlichen Jahrhundert. Erst in der Neuzeit konnten Astronomen, Physiker, Ozeanographen und Hydrographen das komplizierte Gezeitenphänomen exakt beschreiben. Sie entwickelten Vorhersagetabellen und Gezeitenrechenmaschinen nach den Flutstundenlinien sowie anhand der Fortpflanzung des Flutscheitels der Gezeitenwelle. Diese wälzt sich, wie die Fachleute herausfanden, innerhalb von dreieinhalb Stunden von der nördlichen Nordsee an die englische Ostküste und weiter nach Süden, vor Holland dreht sie in östliche Richtung ab und läuft von Borkum über Büsum wieder nach Sylt zurück.

Die Springtide tobte unter unseren Füssen. Der Wind zerzauste unser Haar. Wir zitterten alle vor Kälte. Vor allem die aus Mexiko, Südafrika und Südchina angereisten Gäste. Springtiden am Eidersperrwerk drücken etwa zehn Prozent mehr Wasser in die Eider als der normale Tidenhub. Man spreche auch von einer Nadirflut bei Vollmond, erklärte ein Mitarbeiter des Nationalparks. Und von einer Zenitflut bei Neumond. Denn Erde und Sonne kreisten um einen gemeinsamen, innerhalb der Erde liegenden Schwerpunkt, dadurch entstünden auch Fliehkräfte. Ich verstand kein Wort. Aber ich sah die Springtide. So ist das bei Vollmond. Die absolute Abwesenheit von Bergen begünstigt das Beobachten der Bewegungen am Boden.

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