Samstag, 27. Oktober 2018

Abschied 1


Der Blaukoch
Blau ist die Lieblingsfarbe von Herrn Schwarz. Vielleicht ist es auch Bläu oder Blei, so genau wissen wir es nicht, da wir uns mit Farben nicht auskennen. Wir kennen nur Töne, Tonarten, Tonschritte und Tonleitern. Die besteigen wir zu Beginn jeder Chorprobe mehrmals, von immer anderen Grundtönen aus, die uns Herr Schwarz auf den weißen Tasten des schwarzen Steinway anschlägt. Um Farbe in den Probenraum zu bekommen, legt er uns bunte Silben in den Mund: „Blaublaublau...“, „bläubläubläu...“, „bleibleibleib...“. Blei ist vielleicht keine Farbe, sondern ein Befehl? Bleib!
Aber er bleibt nicht. Er dirigiert noch die „Carmina Burana“ an Allerseelen und zieht dann mit seiner Familie weg.
Eigentlich wollte Herr Schwarz Koch werden, Blaukoch eben, und sich auf das Pochieren von Süßwasserfischen spezialisieren, Forellen, Karpfen, Saiblinge. Stattdessen hat es ihn an die Kleuker Orgel von St. Jürgen verschlagen, an den Rand des größten unbebauten Marktplatz Deutschlands, in die Nähe eines Meeres, das den halben Tag verbummelt, so dass Muscheln und Krebse sich in den Wattboden verkriechen, um zu überleben. Hier bringt er uns Singen und Hören bei. Noch bis zum letzten Tag trainiert er mit uns die richtige Lippenspannung, die richtige Position der Zungenspitze für die Zahndammlaute, und schickt uns unermüdlich, mit Steigeisen an den Füßen oder ohne, über Moll- und Durakkorde, heißt uns beim kleinsten Fehltritt innehalten und verdeutlicht, ohne je die Geduld zu verlieren, den Unterschied von einem unsauberen Halbtonschritt zu einem sauberen: „Blaublaublau...“, „bläubläubläu...“, „bleibleibleib...“. Bleib!
Nein, er bleibt nicht, sondern zieht Anfang November an einen Fluss, der immer Wasser führt. Dort hat er bis zum 3. Advent Zeit, mit dem Chor der Trinitatiskirche das Weihnachtsoratorium einzustudieren. An den wenigen freien Tagen wird er helles Wurzelgemüse putzen, Dillstängel abzupfen, den Sud mit einem Schuss Essig sprudelnd auf kochen und den Topf sofort vom Herd nehmen. Erst dann lässt er die jungen Elbhechte sorgfältig hineingleiten und zehn Minuten garziehen. Der Blaukoch kocht den Fisch nie!
Herr Schwarz wird uns fehlen. Weder Blaubeersorbet noch Rotkohl mit Rehrücken können uns über den Verlust seiner Klangfarbenlehre, seiner Blautonvorlieben, der perfekt arrangierten Subdominanten und Obertonreihen hinwegtrösten. „Blaublaublau...“, „bläubläubläu...“, „bleibleiblei...“ Blei ist natürlich eine Farbe und kein Befehl!

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen