Heute wäre Schwiegervater 80 Jahre alt geworden. Es ist kaum anzunehmen, dass er diesen Tag erlebt hätte, wenn er eines natürlichen Todes hätte sterben dürfen. Trotzdem oder gerade deshalb sind wir traurig.
Heute Mittag zeigte sich zum ersten Mal ein Grünspecht in unserem Garten. Sein Nacken und der Oberkopf leuchteten feuerrot aus dem Gras. Er hüpfte und pickte unter meiner verwaisten Wäscheleine herum, als ob es ausgerechnet dort etwas ganz besonders Leckeres aus dem Boden zu ziehen gäbe. Der Rasen unter der Wäscheleine ist merklich anders beschaffen als der Rasen im Rest des Gartens. Das fiel mir kürzlich auf, als etwas Schnee gefallen und ein paar Tage liegen geblieben war. Unter der Wäscheleine, dh auf dem Streifen, auf dem ich auf- und abtigere, hin- und herlaufe, wenn ich Wäsche aufhänge oder abnehme, war der Schnee deutlich schneller verschwunden als rundherum. Vielleicht sind die Würmer durch meine Schritte aktiver geworden. Vielleicht haben die Schattenwürfe unserer T-Shirts den Boden geistig angeregt. Vielleicht gibt es dort unter Tag verzweigte Ameisengänge. Wie auch immer. Der Boden unter der Wäscheleine scheint wärmer zu sein. Besser durchblutet oder besser durchlüftet, wer weiß. Dem Grünspecht gefiel es dort eine Weile. Ich beobachtete ihn vom Wohnzimmer aus, bis er aufflog und durch Nachbars Garten verschwand. Ich werde versuchen, ihn wieder herzulocken. Ich möchte ihn nicht bloß als flüchtigen, bunten Geburtstagsgruß verstanden haben. Wenn er erst einmal da ist, bilde ich mir ein, kann ich ihn beschwatzen, zu bleiben. Für immer. Und ewig. Bei uns wohnen so viele Wurm- und Wegameisenarten! Der Grünspecht soll, wie ich lese, gar nicht an Bäume klopfen wie andere Spechtarten. Sondern er liebt das Bodenständige. Er hat eine zehn Zentimeter lange Zunge mit verhorntem Ende in Form eines Widerhakens. Damit sucht er in der kalten Jahreszeit in den Spalten von Hauswänden und Dächern nach überwinternden Gliederfüßern wie Fliegen, Mücken oder Spinnen. Davon haben wir ausreichend! Neben faulenden Äpfeln auf dem Kompost haben wir auch noch Beeren anzubieten, vertrocknete Vogelbeeren und Samenmäntel der Eibe. Auch besteht unser Garten eigentlich nur aus lockerem Oberboden und Störstellen, in denen der Grünspecht mit seinem langen Schnabel bohren kann, soviel er will.
Letzte Woche kam das Fernsehen wieder auf uns zu. Man will uns noch einmal als Angehörige eines Opfers befragen. Vor laufender Kamera und als schmückendes Beiwerk für ein ehrgeiziges Projekt. Neben der besonderen Beschaffenheit des Bodens unter meiner Wäscheleine ist mir noch aufgefallen, wie einsam wir geworden sind durch ein Erlebnis, das wir mit niemandem teilen. Heute wäre Schwiegervater 80 Jahre alt geworden. Natürlich sind wir todtraurig.
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