Wir haben unsere Trampelpfade. Und stolpern, wenn überhaupt, dann höchstens noch über unerwartet im Weg stehende großformatige Werbeflächen. Wenn wir nach Hamburg fahren, füllen wir meist in Altona ein Gepäckschließfach. Entweder weil wir eingekauft haben, oder weil einer von uns gerade auf Durch-, Weiter- oder Heimreise ist und deshalb saubere oder schmutzige Wäsche sowie eine überdurchschnittliche Menge an Lesestoff bei sich hat.
Heute Mittag stolperte ich im Bahnhof Altona über einen winzigen grasgrünen Kleber neben dem Metallgriff an der Glastür der Bahnhofsapotheke. Die Apotheke liegt auf unserem donnerstäglichen Trampelpfad vom Bahnsteig zum Schließfach. Oder vom Schließfach zum Bahnsteig. Zwischen die Füße sprangen mir heute die weißen Lettern auf grünem Grund: "orthomolekulare Apotheke". Ich frage W., was das heißen soll. Er, der eigentlich alles weiß, weiß es nicht. Er sagt, er kenne "ortho" nur in Orthographie. Und was heißt Orthographie? Rechtschreibung. Also hat diese Apotheke etwas mit Recht oder Richtigkeit zu tun? Mit aufrechtem Gang oder mit Aufrichtigkeit? Ich kenne, sage ich, "ortho" in Orthopäde oder Orthese. Damit befinde ich mich sachlich näher an der Apotheke als du. Wir stehen nebeneinander vor der durchsichtigen Apotheke. Sie hat nicht nur eine Glastür, sondern auch Glaswände, in denen sich die Umrisse unserer Körper spiegeln. Das bringt uns alles nicht weiter, sagt W. und Recht hat er. Also drehen wir uns um und fahren mit der Rolltreppe zum S-Bahnsteig hinunter.
Am Abend trennten sich unsere Wege. Er nahm den Nachtzug und ich kaufte mir gebratene Nudeln und stieg, wie gewohnt, in die NOB. Zu Hause wälze ich Wörterbücher und lerne, dass orthomolekular aus dem Griechischen kommt: orthos = richtig, Molekül = kleine chemische Verbindung, molekular = die Moleküle betreffend. Orthomolekular wird auch als "Baustein" erklärt. Die orthomolekulare Medizin, heißt es, gehöre zu den komplementärmedizinischen Methoden und setze Substanzen wie Vitamine, Mineralstoffe, Spurenelemente, Aminosäuren oder Fettsäuren ein, um die Gesundheit zu erhalten oder Erkrankungen zu lindern. So weit, so gut. Was aber, wundere ich mich weiterhin, tut die orthomolekulare Apotheke in Altona? Obwohl es schon spät ist, schalte ich den Computer ein. Einer Internetanzeige entnehme ich Folgendes: "Sie erfahren bei uns, mit welchen orthomolekularen Mitteln Sie Krankheiten heilen oder deren Entstehung verhindern können. Als Produkte verwenden wir Burgerstein oder Hepart. Gerne nehmen wir uns Zeit, um für Sie die geeigneten Substanzen herauszusuchen." Heißt das nun, dass die orthomolekulare Apotheke sich vor allem dadurch auszeichnet, dass sie Zeit hat, respektive sich Zeit nimmt? Woher auch immer. Wem auch immer. Gerade am Bahnhof ist der Zeitfaktor nicht zu unterschätzen, denke ich und führe Selbstgespräche in die Nacht ein. Ein wahres Mysterium, dieser Bahnhof!
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