Montag, 24. November 2008

Grünkohl und Haferflocken

Heute lag oben auf der Gemüsekiste, über den Saftflaschen von der Streuobstwiese und dem Tofu Natur, dem Feldsalat mit Postelein, den Bundmöhren, Butterrübchen und der Roten Beete und einem Laib Joldibrot wie ein weiches dickes Kopfkissen ein riesiger Sack mit Grünkohl.

Mein Hauskoch ist mit solch bodenständigem Gemüse meist aus rein zeitlichen Gründen überfordert, also begebe ich mich klaglos in die Küche. Auf meinem Schreibtisch liegt nämlich zur Zeit ein ziemlich kompliziertes Problem. Und unsere Naturkostlieferanten legen zur Aufmunterung immer zur Rechnung ein persönliches Schreiben mit Rezeptvorschlägen. Also lese ich, steige mit dem Blatt in der einen Hand auf die rote Rutsche und durchsuche mit der anderen unsere Gewürzvorräte. Ich bin immer bereit, das zu kochen, was man mir am Montag vor die Füße legt. Ich habe noch nie im Leben selbst Grünkohl zubereitet. Das einzige, was mir von den empfohlenen Zutaten fehlt, sind Haferflocken. Da ich auf sie nicht verzichten will, verlasse ich die Küche schnell wieder, ziehe mich warm an und steige aufs Fahrrad.

Danach bin ich eine geschlagene Stunde damit beschäftigt, die krausen Blätter von den dicken Blattrippen zu zupfen. Natürlich fällt das Kopfkissenvolumen schnell in sich zusammen. Ich lösche mit Dithmarscher Pilsener ab, gebe Haferflocken, Senfkörner, Pfeffer, mittelscharfen Senf, Honig und Sahne sowie, entgegen der Angaben auf dem Beipackzettel, eine höllischscharfe Chilischote (getrocknet, eigene Ernte) dazu und lasse das Ganze nur noch kurz aufkochen. Bissfest ist nämlich auch ein Genuss. Dazu gibt es Kartoffel-Gemüserösti.

Mein Hauskoch kommt nach Hause. Aus seinem Rucksack zieht er zwei Flaschen Coronas. Statt Blumen, sagt er. Beim Essen erkläre ich ihm, dass der Grünkohl bekömmlicher werde, wenn er mit Senf gewürzt sei, die Senföle regten die Verdauung an. Bei anderen Kohlarten nehme man aus dem selben Grund Kümmel, zum Grünkohl schmecke der aber nicht.

Mittwoch, 19. November 2008

Mein versteinerter Ostseedaumen

W. fuhr heute früh zu einer Tagung an den Timmendorfer Strand. In der Mittagspause ging er an der Ostsee spazieren. Am Abend kam er ans Wattenmeer zurück, umarmte mich und überreichte mir ein Geschenk. Einen Stein, den er im Sand gefunden habe, sagte er bescheiden. Einen grauen, etwas länglichen, feingeschliffenen, flachgedrückten Stein mit seltsamen Höhen und Tiefen.

Ich nehme den Stein in die Hand und befühle ihn von allen Seiten, betrachte und beschnuppere ihn. Dann sehe ich, dass es ein Finger ist. Der Stein ist mit einem Fingernagel ausgestattet, einem Nagelbett und einem Nagelmöndchen, einer Nageltasche und einer Nagelwurzel. Nur Finger brauchen solche Dinge. Nichts sonst auf Erden. Weil mein rechter Daumen immer noch nicht ganz gesund ist, presse ich den Steinfinger mit dem Mittelfinger an die Daumenunterseite. Ich merke, dass er da hinpasst, ja hingehört. Ich merke, dass auch die Einbuchtung für das Fingerglied meines Mittelfingers vorhanden, ja nur dafür vorgesehen ist. Der Stein ist nicht nur ein Finger, er ist mein Finger. Mein Daumen. Mein rechter Daumen. Ein etwas zerquetschter Abdruck meines ganzen rechten Daumens mitsamt eines Anflugs von Daumenballen und kurzer Daumenmuskulatur. Der Zeigefinger kann sich locker über die beiden Fingernägel legen, über den meines Körperdaumens und den meines Steindaumens. Das Geschenk - der Stein, mein Finger, mein Daumen - ist wie gemacht für meine rechte Hand und das schmerzende Daumensattelgelenk. Der Steindaumen hat, ich spüre es sofort, etwas Beruhigendes an sich. Die Wellen der Ostsee, die ihn zurechtgeschliffen haben, kühlen und entspannen den Körperdaumen. Die ganze Hand ruht. Wie auf einem Bett. Einem Steinbett. Einem Wasserbett. Einem Meeresbodenbett. Oder wundert sich. Denkt nach. Was auch immer. Nur der Zeigefinger mag sich noch bewegen, tippt leicht die Fingerkuppen an, die Spitzen des Steindaumens und des Auadaumens. Alle anderen Finger sind beschäftigt mit dem Zusammenhalt der Hand. Damit sie nicht auseinander stiebt. Damit kein Finger sich plötzlich verselbständigt oder verflüchtigt. Ringfinger und kleiner Finger legen sich anstandslos auf die Knie, als Verstärkung hinter den Mittelfinger in den Handteller. Mein Steindaumen hat den Nachteil, dass er nicht verbunden ist, weder mit der Hand noch mit dem Daumen noch mit dem Kopf. Dass ihm Muskeln, Knochen, Sehnen, Gelenke und Nerven fehlen. Er hat aber den Vorteil, dass ihn nichts verletzen kann. Kein Riss, kein Bruch, keine Entzündung, keine Schwellung, kein Verschleiß. Und er hat das Problem, dass er, falls niemand aufpasst, wieder in den Dreck fällt. Oder in den Schnee, der bald kommen wird, in den Strassengraben, in die Kanalisation. In der Meldorfer Bucht ins Watt. Dass er, falls wirklich keiner acht gibt, bei Ebbe im schwarzen Nordseeboden verschlickt.
Ein Finger allein kann ihn weder festhalten noch aufheben. Wir können fast gar nichts tun mit nur einem Finger. Ein vereinzelter Finger ist ziemlich verloren.

Wie oder wann mir mein rechter Daumen abhanden gekommen ist, wann er in die Ostsee oder in ein anderes Meer gefallen ist, weiß ich nicht. Am Timmendorfer Strand war ich in meinem ganzen Leben noch nie. Vielleicht wurde er angespült. Vielleicht verlor ich meinen Daumen schon vor Jahren. Vielleicht am Strand vor dem Hotel Emperor in Rajin-Sonbong. Oder vor Lahaina. Oder damals in Skagen, als ich im flachen Wasser stand und nur Augen hatte für das seltsame Zusammenspiel der Wellen. Als ich nicht verstehen wollte, obwohl ich es sah, wie sich die Nordsee an die Ostsee lehnt. Oder umgekehrt. Rücken an Rücken. Wie sich die Ostsee an die Nordsee lehnt.

Und es wird für immer ein Rätsel (oder ein Wunder) bleiben, wie oder weshalb es W. gelungen ist, sich ausgerechnet heute, an einem kalten Mittwoch im November am Timmendorfer Strand nach meinem verlorenen Daumen zu bücken.

Samstag, 15. November 2008

Die Seitenleiste

Mein Leben ist um eine Dimension erweitert worden: um die Seitenleiste. Was ich lange Zeit nicht wahrnehmen wollte, dringt nun immer mehr in mein Bewusstsein. Wenn ich Mails empfange, tauchen in der Seitenleiste (= die Leiste an der rechten Seite neben dem Fenster, in dem der Text der Mail zu lesen ist) "nützliche Anzeigen, Links und Inhalte" auf, die - wie mir weis gemacht wird, meinen "speziellen Interessen entsprechen". Dies sei, heißt es beruhigend weiter, ein "technologiebasiertes Programm" und die Links würden "mithilfe eines vollautomatischen Prozesses geschaltet". Und: "Niemand liest den Inhalt Ihrer E-Mails, um solche Links zu erzeugen, und es handelt sich dabei keinesfalls um Sponsoren-Links von Werbekunden." Natürlich nicht.

Wenn ich den neuesten Newsletter eines polnischen Verlags öffne (und ihm entnehme, dass mein Meister SCHREIBT!), verweisen in der Seitenleiste Links auf preiswerte polnische Bücher oder Onlinebuchhandlungen. Aber ich werde auch auf die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Karriere ohne Habilitation aufmerksam gemacht, sowie auf die Entwicklung der Bauzinsen. Wenn mir mein Mann mails von seiner Dienstadresse schickt, werden mir IMMER Antike Buddhas und Billigflüge nach China angeboten, manchmal gaukelt mir ein Link sogar etwas vor von der "einzigartigen" Natur der "Heidelandschaft". Schreibt er mir jedoch von seiner privaten Adresse, bekomme ich Tipps zu "Motorcoach charter" oder günstigen Ferienresorts. Hängt mir jemand eine excel-Liste (welchen Inhalts auch immer) an, bekomme ich prompt Unterstützung durch eine "Webbasierte, intuitive & schnelle Projektzeiterfassung" oder mit "Nanotechnik für Auto und Haushalt" und mir schwirrt der Kopf. Schickt mir jemand ein Foto aus der schneeverwehten Heimat, dann wird mir sofort nahegelegt, "kostenlose Gusskarten" (sic!) zu versenden, mit einer Begleitperson eine Nacht im "Himmelbett" zu verbringen oder Massivholzdielen ("Akazie bis Walnuß") zu verlegen.

Die Leiste ist etwas anderes als der Leisten und etwas ganz anderes als die Leistung.
Das Verb "leisten" kommt vom maskulinen Leisten. Der Leisten bezeichnet einen aus Holz oder Metall nachgebildeten Fuß für die Schuhmacherarbeit. Ursprünglich bedeutet der Name des Schuhmachergeräts Fußabdruck, Spur, Weg (den einer zurückgelegt hat). Das Verb "leisten" ist davon abgeleitet und besagt eigentlich dieser Spur nachgehen, nachspüren. Der Duden meint, dass auch die List zu dieser Wortgruppe gehöre und sich auf die Techniken der Jagdausübung und des Kampfes beziehe.
Die Leiste hingegen ist verwandt mit der Liste und meint eine Übergangsstelle. Im menschlichen Körper zum Beispiel die Übergangsstelle zwischen Rumpf und Oberschenkel. Am Wintermantel die verdeckte oder nicht verdeckte Knopfleiste. Bei jedem Stoff die Webkante.

Und die Seitenleiste? Meint sie den Übergang zur Seite? Oder den seitlichen Übergang? Die rechtsseitige oder linksseitige Übergangsstelle? Das einseitige Abdriften? Das Gespalten-, Zerhauenwerden? Abgesehen von ungeahnten Genüssen, die das Sprachzentrum im Hirn verzeichnen kann ("Sparen Sie bis zu 82% bei Beileid", "Zugstangensysteme", "Windverstrebungen", "Die Formel F für Ihren Umzug" usw), führt sie den gesunden Menschenverstand nur in den Wahnsinn. Und zwar absichtlich. Eine reife Leistung - von wem auch immer.

Freitag, 14. November 2008

Der Teetropfenrücksauger

Im Sommer kauften wir auf einer unser Eintagesradtouren durch Nordfriesland eine Teekanne. Eine schlichte weiße Teekanne mit Sieb und vier henkellosen Teebechern. Doppelwandig, versprach der Verkäufer im Teeladen, Sie verbrennen sich die Finger garantiert nicht!

Ich verbrannte mir die Finger, W. trinkt keinen Tee. Aber zurückbringen konnten wir die Teebecher nicht, es war schwierig genug gewesen, das Porzellan unzerbrochen an einem Samstagabend in einer von Sylt kommenden, völlig überfüllten NOB auf dem Fahrrad nach Hause zu transportieren.

Außerdem tropft die Teekanne gnadenlos. Und ich ärgere mich jedes Mal grün und blau, wenn ich Tee trinke.

Heute nun glaubte ich die Lösung für das zweite Problem gefunden zu haben. Das erste löse ich, indem ich abwarte, ohne Tee zu trinken. Ich kaufte im Fachgeschäft einen Tropfenrücksauger und ließ mir genau erklären, wie er funktioniert. Das "pfiffige" Metallteil, wie sich der Juniorchef ausdrückte, sorgt auf mechanische Weise dafür, dass der letzte Tropfen beim Ausgießen nicht auf die Tischdecke (das ist nicht mein Problem, wir führen keine Tischdecken in unserem Haushalt) fällt. Der Teetropfenfänger nutzt die waltenden physikalischen Kräfte: Die Schwerkraft zieht den letzten an der Teekannentülle hängenden Teetropfen zu Boden bzw. bei uns zu Hause auf den Glastisch. Der Schwerkraft wirkt die Adhäsionskraft entgegen, erklärt der Fachverkäufer, das heißt die geringe Masse und die verhältnismäßig große Oberfläche des Wassertropfens - Tee ist auch Wasser! - sowie sein anhaltender, allmählich aber erschlaffender Widerstand gegen das früher oder später eintretende Fallen Müssen. Der Tropfenrücksauger wendet das Kapillarprinzip an, und damit ist die Adhäsionskraft stärker als die Schwerkraft. Der Teetropfen wird beim Wiederaufrichten der Teekanne zurückgesaugt in den warmen und dunklen Teekannenbauch.

Passend soll der Teetropfenrücksauger für jede Teekanne sein, unentbehrlich und unzerstörbar, gemacht für die Ewigkeit. Es gibt ihn in zwei Größen. Ich lasse mir den größeren aufschwatzen. Den kann ich zu Hause nicht in den Ausgießer meiner schlichten nordfriesischen Designerteekanne stecken, er ist zu breit, also tausche ich ihn um gegen den kleineren. Der fällt beim Ausgießen mitsamt aller Tropfen in meinen einwandigen Teebecher. Schade! Die Physik hörte sich so überzeugend an aus dem Mund eines Dithmarscher Haushaltwarenfachverkäufers.

Montag, 3. November 2008

Der Schopfkarakara

W. ist zurückgekommen aus Mexiko mit lauter bunten Tieren im Koffer. Gebrannten, geschnitzten, gemalten, gestickten. Lackierten, glasierten, aufmerksam guckenden, lachenden, stehenden, schwebenden, schwimmenden, schweigenden. Wir brauchen den ganzen Abend, um sie aus schmutzigen Hemden und Strümpfen zu bergen. Ich werde eine ganze Woche oder länger brauchen, um sie artgerecht in den beiden Häusern unterzubringen. Manche brauchen Schutz vor der Erdanziehung (= einen festen Haken an der Wand), andere ein bisschen Zugluft, wieder andere ausreichend Unterwasserfreiraum, und eine Horde grell gefiederter Greifvögel kommt mir, ihr Protestkreischen hin oder her, zuerst unter das heiße Bügeleisen.
Das Wappentier von Mexiko ist der Schopfkarakara, ein Geierfalke. Er ist, wen wundert's, daheim geblieben. Dienst verpflichtet. Aber hier ist er zu sehen und zu hören:
http://de.encarta.msn.com/media_461514772/Schopfkarakara.html

Samstag, 1. November 2008