Samstag, 15. November 2008

Die Seitenleiste

Mein Leben ist um eine Dimension erweitert worden: um die Seitenleiste. Was ich lange Zeit nicht wahrnehmen wollte, dringt nun immer mehr in mein Bewusstsein. Wenn ich Mails empfange, tauchen in der Seitenleiste (= die Leiste an der rechten Seite neben dem Fenster, in dem der Text der Mail zu lesen ist) "nützliche Anzeigen, Links und Inhalte" auf, die - wie mir weis gemacht wird, meinen "speziellen Interessen entsprechen". Dies sei, heißt es beruhigend weiter, ein "technologiebasiertes Programm" und die Links würden "mithilfe eines vollautomatischen Prozesses geschaltet". Und: "Niemand liest den Inhalt Ihrer E-Mails, um solche Links zu erzeugen, und es handelt sich dabei keinesfalls um Sponsoren-Links von Werbekunden." Natürlich nicht.

Wenn ich den neuesten Newsletter eines polnischen Verlags öffne (und ihm entnehme, dass mein Meister SCHREIBT!), verweisen in der Seitenleiste Links auf preiswerte polnische Bücher oder Onlinebuchhandlungen. Aber ich werde auch auf die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Karriere ohne Habilitation aufmerksam gemacht, sowie auf die Entwicklung der Bauzinsen. Wenn mir mein Mann mails von seiner Dienstadresse schickt, werden mir IMMER Antike Buddhas und Billigflüge nach China angeboten, manchmal gaukelt mir ein Link sogar etwas vor von der "einzigartigen" Natur der "Heidelandschaft". Schreibt er mir jedoch von seiner privaten Adresse, bekomme ich Tipps zu "Motorcoach charter" oder günstigen Ferienresorts. Hängt mir jemand eine excel-Liste (welchen Inhalts auch immer) an, bekomme ich prompt Unterstützung durch eine "Webbasierte, intuitive & schnelle Projektzeiterfassung" oder mit "Nanotechnik für Auto und Haushalt" und mir schwirrt der Kopf. Schickt mir jemand ein Foto aus der schneeverwehten Heimat, dann wird mir sofort nahegelegt, "kostenlose Gusskarten" (sic!) zu versenden, mit einer Begleitperson eine Nacht im "Himmelbett" zu verbringen oder Massivholzdielen ("Akazie bis Walnuß") zu verlegen.

Die Leiste ist etwas anderes als der Leisten und etwas ganz anderes als die Leistung.
Das Verb "leisten" kommt vom maskulinen Leisten. Der Leisten bezeichnet einen aus Holz oder Metall nachgebildeten Fuß für die Schuhmacherarbeit. Ursprünglich bedeutet der Name des Schuhmachergeräts Fußabdruck, Spur, Weg (den einer zurückgelegt hat). Das Verb "leisten" ist davon abgeleitet und besagt eigentlich dieser Spur nachgehen, nachspüren. Der Duden meint, dass auch die List zu dieser Wortgruppe gehöre und sich auf die Techniken der Jagdausübung und des Kampfes beziehe.
Die Leiste hingegen ist verwandt mit der Liste und meint eine Übergangsstelle. Im menschlichen Körper zum Beispiel die Übergangsstelle zwischen Rumpf und Oberschenkel. Am Wintermantel die verdeckte oder nicht verdeckte Knopfleiste. Bei jedem Stoff die Webkante.

Und die Seitenleiste? Meint sie den Übergang zur Seite? Oder den seitlichen Übergang? Die rechtsseitige oder linksseitige Übergangsstelle? Das einseitige Abdriften? Das Gespalten-, Zerhauenwerden? Abgesehen von ungeahnten Genüssen, die das Sprachzentrum im Hirn verzeichnen kann ("Sparen Sie bis zu 82% bei Beileid", "Zugstangensysteme", "Windverstrebungen", "Die Formel F für Ihren Umzug" usw), führt sie den gesunden Menschenverstand nur in den Wahnsinn. Und zwar absichtlich. Eine reife Leistung - von wem auch immer.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen