Außer Ansichtskarten sammle ich auch Kotztüten. Nach dem morgendlichen Besuch beim Orthopädietechniker, der meinem rechten Daumensattelgelenk eine Orthese anpasste, die fast bis zum Ellbogen reicht, empfinde ich ein unüberwindliches Bedürfnis nach taktiler Betätigung. Ich teste die Fingerfertigkeit beider Hände und sortiere meine Kotztüten. Vornehmer ausgedrückt sind das Spuckbeutel. Auf den Außenseiten dieser wasserdichten, innen beschichteten Papierbeutel finde ich globalisierte Bezeichnungen wie "airsickness bag", "Wastebag", "disposal bag", "clean bag" und so weiter.
Ich sortiere ohne Sinn und Verstand. Erstmals nach noch existierenden Fluggesellschaften und nach nicht mehr existierenden Fluggesellschaften. Die Kotztüten der Letzteren müssten eigentlich an Wert gewinnen - gäbe es eine Kotztütensammler- und tauschbörse. Die gibt es aber meines Wissens nicht. Also sortiere und bewerte ich die zumeist von W. nach Hause mitgebrachten Exemplare nach meinen ganz persönlichen Vorlieben. Besonderes Augenmerk verdient folgende Aufschrift: "Your bag for Waste, Abfall, Déchet, Spazzatura". Wer um Himmels Willen soll verstehen, was in diese Tüte gehört?
Nun sortiere ich mit Sinn und Verstand. Nach Kommunikationsgehalt. Nach transportiertem Verständnis. Nach einer transparenten Botschaft. Manche sind sprachlich schlicht wie „Spuckbeutel“, „Beg Mabuk Udara“, „Bolsa de mareo“, „sac pur mal de l’air“, "koyakkan di sini", „desperidicios“ oder „Prullenzakje“ und so weiter. Andere geben klare Handlungsanweisungen: TEAR OFF TO OPEN“, „Please fold over“, „Use clip to close firmly“, „After use fold toward you“ oder - der Gipfel an kategorischem Imperativ: „Nach Gebrauch schließen und auf den Boden stellen“. Wieder andere klären die Welt des Kotzens und sondern sie ab von der Welt anderer Verschmutzungen: „No Cigarettes“, „Solid Litter only“.
Elegisch gebärden sich nur deutschsprachige Kotztütenaufdrucke: „Bei Benutzung im Falle von Luftkrankheit den Beutel bitte dem Kabinenpersonal zur Beseitigung übergeben“. Englischsprachige bemühen sich dagegen, wenn sie schon Wörter aufhäufen, um kühle Distanziertheit: „for your convenience you may use this bag as your waste bag“.
Moderne Billigfluganbieter nehmen die Sache mit Humor: „Vielen Dank für Ihre Kritik“, „Take it with a smile“, „War doch nur ein Luftloch“. Auch in diesem Wirtschaftszweig ufern deutsche Texte(r) schulmeisterlich aus: "Zur Erinnerung an alle Sammler: Tüte nur leer ins Album kleben".
Auf einem „disposal bag“ der China Northern Airlines finde ich handschriftliche „remarks“. Es handelt sich eindeutig um den blauen Kugelschreiber von W. 8 Punkte „to remember“, säuberlich untereinander gestellt. Eindeutig das Handwerk des Professors. Wahrscheinlich seine ersten Gedanken auf dem Weg zur Promotion.
Die allerschönsten Exemplare von Kotztüten, ich mag sie gar nicht mehr aus den Händen legen, sind aber blütenweiß. Ich besitze zwei davon. Sie verraten weder Sinn noch Unsinn, weder Bestimmung noch Nationalität, weder Gebot noch Gebet, weder Name noch Logo. Einfach Nichts. Da sie in der Größe nicht identisch sind, muss ich annehmen, dass sie von zwei verschiedenen Fluggesellschaften stammen und kann sie also beide behalten. Doubletten werden nämlich, um einer Kotztütenschwemme vorzubeugen, unerbittlich aussortiert.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen