Montag, 14. April 2008

Die Küstennebelfelder

Aus dem Radio kommt am Morgen das Wort „Küstennebelfelder“. Eine Warnung? Ich schaue aus dem Fenster. Auf dem Garagendach des Nachbarn glitzert eine hauchdünne Eisschicht. Seit W. in China ist, sind meine Nächte kalt und durchsichtig.

Seit einigen Tagen ist das Licht am Abend und am Morgen so, wie ich es bereits kenne. Das heißt, ich bin an diesem Ort alt geworden. Ich habe hier eine Geschichte und eine Vergangenheit. Der Himmel sah schon vor einem Jahr so aus. Damals wohnten wir am anderen Ende der Stadt, näher am Sonnenuntergang. Aber die Stimmung in der Luft nach einem klaren Tag und vor einer klaren Nacht war die gleiche. Damals – ich wiederhole mich, aber Wiederholungen gehören zum Alter, zur Geschichte und zur Vergangenheit – erklärte mir unsere Vermieterin, die Luft am Wattenmeer sei wie Champagner.

Aber es geht mir nicht um Aphrodisiaka, nicht um die Abwesenheit von W., sondern allein um das Licht. Um die Welt über den normalen Ziegeldächern. Champagner prickelt auf der Zunge. Seit einigen Tagen prickelt das Licht in meinen Augen. Ich kann schon ab den frühen Nachmittagsstunden an meinem Schreibtisch nicht mehr schreiben. Ich sehe die Buchstaben auf der Tastatur nicht mehr und auf dem Bildschirm lösen sich Wörter, Sätze und ganze Kapitelüberschriften einfach auf und verschwinden ungefragt im Nichts. Daran sind nicht die Küstennebelfelder schuld. Auch nicht die Schwarzen Löcher. Und schon gar nicht ein Chinareisender. Sondern die unbeschreibliche Helligkeit vor dem Fenster.

Gestern ist John Wheeler im Alter von 96 Jahren in seinem Haus in Hightstown an einer Lungenentzündung gestorben. Ihm verdankt das Weltraumphänomen der Schwarzen Löcher seinen Namen.

Ich sehe nur, was ich kenne. Ich weiß nicht, ob die Physiker die Schwarzen Löcher wirklich sehen. Sie beschreiben sie und machen sie kenntlich. Aber ob sie sie wirklich sehen können? Weil auch ich am Nachmittag meine eigenen Wörter nicht mehr sehen kann, fahre ich an die Küste und suche die Nebelfelder aus dem Radio. Auf den Salzwiesen hinter dem Deich beineln die Sauglämmer ihren Mutterschafen nach. In diesem Jahr sind die Osterlämmer erst nach Ostern geworfen worden. Der Gregorianische Kalender rettet ihnen also das Leben. Man sagt, ihr Fleisch sei zart und vom Gräsen der Mütter bereits bei der Geburt gesalzen. Der Lauf des Mondes bewahrt sie in diesem Jahr vor dem Kochtopf. Von Küstennebelfeldern weit und breit keine Spur.

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