Ich bin Auslandschweizerin und habe mit der Politik meines Heimatlandes wenig am Hut. Dennoch übe ich seit Jahren aus der Ferne postalisch träge mindestens vier mal im Jahr mein Stimmrecht im Halbkanton Basel-Stadt aus – bis vor kurzem, im Oktober 2007. Zum ersten Mal, seit ich stimmmündig bin, zerriss ich die Wahlunterlagen. Die Fetzen übergab ich unserer neuen himmelblauen, umweltgerechten Papiermülltonne. Und fühlte mich erleichtert. Ich hatte den Zirkus um Christoph Blocher und die SVP satt. Ich wollte mit einem Land, in dem schwarze Schafe gezüchtet und auf Wahlplakaten entlang der Autobahnen an den Pranger gestellt werden, nichts mehr zu tun haben. Was geht mich das noch an, sagte ich mir, schwang mich auf mein Fahrrad und fuhr an die Wattenmeerküste. Dort grasen jahraus jahrein friedliche Schafherden auf dem grünen Deich. Ohne diese Schafe würde das Gras auf dem Deich nicht nachwachsen. Ohne dieses Gras würde der Deich nicht halten. Ohne diesen Deich würde die nächste Sturmflut uns wegspülen.
Mein Heimatland wurde gestern nicht von einer Sturmflut weggespült, dazu fehlt ihm die Nähe zum offenen Meer. Nein, das Alpenland wurde von einem politischen Erdbeben erschüttert. Seltsamerweise schlugen die seismischen Wellen bis nach Meldorf aus. "Blocher nicht wiedergewählt, Regierungskrise in der Schweiz", hörte ich am Nachmittag im norddeutschen Inforadio. Diese Meldung elektrisierte mich auf der Stelle, ja sie paralysierte mich für einen halben Tag und eine ganze Nacht. Zur Beruhigung bohrte ich drei Schienen für Kochlöffel uä in der Küche an. Kochte für meinen Mann. Telefonierte mit Schwiegermutter. Baute einen Schrank zusammen. Räumte das Schlafzimmer auf. Sortierte Wäsche. Und so weiter. Und so fort. Und schlief trotzdem schlecht. Mein Ausnahmezustand dauerte bis vor wenigen Minuten an. Bis ich vorhin Frau Widmer-Schlumpf im Internet rätoromanisch reden hörte. Endlich eine dritte Frau im Bundesrat. Endlich die vierte Landessprache im Bundeshaus. Endlich ein klares Ja.
Herr Blocher wird ab dem 1.1.2008 Alt-Bundesrat sein. Er drohte bereits heute damit, danach „Dreck“ aufzudecken. Und schnaufte vor Erregung. Die beiden gewählten SVP-Bundesräte, Herr Samuel Schmid und Frau Eveline Widmer-Schlumpf, würden von der Fraktion nicht getragen, beeilte sich der Fraktionschef der SVP vor der Vereinigten Bundesversammlung zu erklären. Die Schweiz hätte nun eine Mitte-Links-Regierung. Der Wählerwille sei missachtet worden. Die Partei, die im Oktober die Wahlen gewonnen habe, sei aus der Regierung ausgegrenzt worden.
In der Schweiz weiß niemand, ob der Wählerwille dem Volkswillen entspricht. Seit 1979 stieg die Wahlbeteiligung bei National- und Ständeratswahlen nie mehr über die 50%-Marke. Die SVP ging aus den Wahlen vom 21. Oktober 2007 mit 29% Stimmenanteil tatsächlich als stärkste Partei hervor. Die Wahlbeteiligung lag diesmal im schweizerischen Durchschnitt bei 48,3%. Im kantonalen Vergleich gab es enorme Unterschiede, so befanden sich der Kanton Uri mit 24,1% sowie der Halbkanton Appenzell Innerrhoden mit 21,1% am untersten Ende der Skala, die Kantone Schaffhausen (65%) und Wallis (59,8) hingegen am obersten (genaue Zahlen siehe http://www.politik-stat.ch/nrw2007CHwb_de.html).
Unter dem Strich heißt dies: die Mehrheit der stimmberechtigten Schweizerinnen und Schweizer übt ihr Wahlrecht seit über einem Vierteljahrhundert nicht mehr aus. So auch am 21. Oktober 2007. 51,7%, zu denen auch ich mich zähle, wählten weder Herrn Blocher noch die SVP noch eine andere Partei oder einen ihrer Vertreter.
Ein gedemütigter Blocher ist wie ein verwundetes Tier. Gefährlich. Aber das war er eigentlich immer schon. Und eine dritte Frau ist eine dritte Frau. Und die vierte Sprache ist die vierte Sprache.
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