In der kommenden Nacht wird der Mond voll. Dann lösen sich vielerlei Spannungen in mir und um mich herum von selbst wieder auf.
Chronobiologen, Weltraummediziner, Stress- und Schlafforscher sind überzeugt, dass der Mond einen größeren Einfluss auf unser Wohlbefinden hat, als wir bisher wissen. Sie entdecken bei ihren Forschungen seltsamerweise immer mehr Gesetzmäßigkeiten in alten Volksweisheiten. Die Biorhythmik leitet aus dem Mondzyklus einen Rhythmus der Gefühle, der Sensibilität sowie der Nerventätigkeit ab. Dieser Rhythmus wird vor allem Künstlern, der Weiblichkeit, der Kreativität und der rechten Gehirnhälfte zugeordnet. Auch Allgemeinmediziner erkennen, dass viele Patienten Symptome zeigen, die immer wieder bei Voll-, in geringerem Maße auch bei Neumond auftreten. So dauern Blutungen nach Wundbehandlungen länger als sonst, die Schmerzempfindlichkeit ist erhöht, die Abneigung gegen Spritzen nimmt zu, Akupunkturnadeln fallen häufiger ab, usw.
Es gibt Fakten, die mittlerweile wissenschaftlich nicht mehr bestritten werden. So ändert sich an den Tagen um den Vollmond herum die Farbempfindlichkeit der Augen; wir Menschen sind dann für Rot empfänglicher als für Blau. Einen Sinn konnte aber dahinter bislang niemand erkennen.
In der kommenden Nacht wird der Mond um 4 Uhr 30 voll. Er wird aber nicht zu sehen sein. Aus zwei Gründen: Erstens sagen die Meteorologen für die ganze Nacht für fast ganz Nordeuropa einen bedeckten Himmel voraus. Zweitens tritt der Mond ab 2 Uhr 42 zuerst in den Halbschatten, dann in den Kernschatten der Erde ein; Punkt 4 Uhr ist er vollständig verdunkelt und bleibt es für die nächsten 51 Minuten; gegen 6 Uhr 09 endet die totale Finsternis mit dem Austritt aus dem Erdschatten am rechten Mondrand.
Also werden wir selig schlafen, W. und ich. Wir werden, trotz unserer momentan erhöhten Rotempfänglichkeit weder stundenlang im Garten stehen und in den Himmel starren, noch dem wandernden weißen Licht auf dem Kopfkissen ausweichen müssen.
Wenn der Mond den Kernschatten der Erde berührt, verdunkeln sich die ersten Gebiete der Mondoberfläche. Sobald der Mond vollständig in den Kernschatten eingetaucht ist, beginnt die totale Mondfinsternis. Das langwellige Licht, das von der Erdatmosphäre gebrochen und in den Schattenbereich gelenkt wird, färbt den Mond während der Finsternis rotbraun. Die Mondoberfläche leuchtet kupferrot, zur Mitte des Kernschattens hin lässt das Licht nach und wird dunkelrot bis braungrau.
In Schlaflabors konnte kein Zusammenhang zwischen Vollmond und Schlafstörungen nachgewiesen werden. Wenn den Versuchspersonen – entgegen der tatsächlichen Mondphase – gesagt wurde, es sei Vollmond, traten Schlafstörungen auf. Die Schlafforscher vermuten, dass eine Erwartungshaltung bestätigt werde und nennen es „Einbildung“. Wir werden heute nacht selig schlafen, W. und ich.
Die Kreuzberger Hexen hingegen wachen und betrachten den Kosmos pragmatisch. Eine totale Mondfinsternis sei „ziemlich praktisch“ erklärt die Hohe Priesterin vor der Presse. Das besondere daran sei, „dass alle drei Mondphasen sehr schnell ablaufen.“ Rituale, die für gewöhnlich mehrere Sitzungen benötigen, könnten so in einer Nacht vollzogen werden. Und: Eine Mondfinsternis eigne sich besonders, um „Dinge hinter sich zu bringen“. Während alle anderen Mondbeobachter sich Sorgen um das Wetter machen, stören die Hexen die Wolken bei ihrer Arbeit nicht im Geringsten.
Ich werde selig schlafen und meine Rotüberempfindlichkeit morgen wieder ablegen und zur Vernunft zurückkehren: Ohne den Mond gibt es kein Leben auf der Erde. Ohne den Mond müsste die Erdachse von Null bis 85 Grad kippen, dann würde der Globus im Weltall taumeln. Der Mond dämpft die Schwankungen der schräg stehenden Erdachse. Der Mond entscheidet über die Verteilung der Sonnenenergie auf der Erde. Der Mond ruft Ebbe und Flut hervor und bewegt alle 12 Stunden und 25 Minuten Milliarden Liter Meereswasser, die in Form zweier „Wasserberge“ um die Erde wandern. Heute Nacht wird er endlich voll. Und für die nächsten Tage wird es wieder Sturmflutwarnungen geben.
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