Meldorf ist
eine lebenswerte Stadt, weil …
… es hier einen
Bahnhof gibt! Jeder Mensch will irgendwann ankommen, aus dem fahrenden Zug
aussteigen, seinen Fuß auf festen Boden setzen und zu Hause sein. Untypischerweise
kam ich von Norden an. Am Ostersamstag 2007 hievte ich mein bepacktes Fahrrad
auf den damals noch einzigen Bahnsteig in Meldorf, wo mich W. erwartete und in
die Arme schloss.
Eine gute
halbe Stunde zuvor war ich von Süden durch den Meldorfer Bahnhof durchgebraust.
In einem IC, in dem ich seit Berlin in Fahrtrichtung am Fenster saß. Aus
Rücksicht auf das Fahrrad wollte ich nicht öfter als nötig umsteigen. Und so
kam es, dass ich um die Mittagszeit durch einen fast verlassenen Bahnhof
rauschte. Nur ein einziger Mensch stand dort, unter der Bahnhofsuhr und
vollführte riesige kreisende Bewegungen mit beiden Armen. Falls ihn jemand –
außer mir – gesehen hatte, musste er gedacht haben, da stehe ein Besessener. Es
war W., der mich in Meldorf willkommen hieß, bevor ich angekommen war. Auf
meiner ersten rasanten Durchfahrt. In Heide verließ ich den Schnellzug,
wechselte den Bahnsteig und fuhr mit dem nächsten Triebwagen der NOB sieben
Minuten lang zurück.
W. arbeitete
seit Semesterbeginn an der FHW und bewohnte tage-, wochenweise eine
Ferienwohnung nach der anderen. Er zog immer weitere Kreise um seinen
Arbeitsplatz, bis er Anfang April in Meldorf über einer Zahnarztpraxis landete.
Eine Mitarbeiterin der Tourismusinformation hatte ihn dorthin geschickt, weil
das doch gut passe, wie sie sagte. Eine Schriftstellerin und eine Malerin. Damit
meinte sie mich und die Zahnarztfrau.
An den Weg
vom Bahnhof an die Hafenchaussee kann ich mich nicht erinnern. Wir müssen,
beide auf den Fahrrädern, irgendwie über den Domhügel gekommen sein. Wahrscheinlich
fuhren wir trotz des Fahrverbots durch die Gehstraße. Ich keuchend hinter W.
her, die Geschäfte waren sicherlich bereits geschlossen, das Pflaster noch
nicht erneuert. Am Dom vorbei. Ostern stand vor der Tür. Hatte ich ihn auch nur
eines Blickes gewürdigt? Ich weiß es nicht mehr. Wahrscheinlich brummte mir der
Schädel von der mehrstündigen Fahrt am Fenster und rüttelte mich erst das
Kopfsteinpflaster vor der Polizeiwache etwas auf.
Wir fuhren
noch monatelang hin und her. Ich schrieb über der Zahnarztpraxis das schlimmste
Kapitel meines Lebens auf. Die Tourismusinformation hatte sich nicht geirrt. Es
passte gut. Ich arbeitete am frühen Morgen, noch bevor der Zahnarzt zu bohren
anfing, so lange, bis es nicht mehr ging. Dann fuhr ich zum Deich. Meldorf ist
eine lebenswerte Stadt, weil sie an der Zielgeraden zur Nordsee liegt!
Mittlerweile
gibt es einen zweiten Bahnsteig und wir wohnen auf der anderen Seite der
Bahnlinie. Mein Weg ans Wattenmeer ist länger geworden. Am Bahnhof komme ich jetzt
entweder auf der richtigen oder auf der falschen Seite an. Ich muss aus
beruflichen Gründen immer wieder wegfahren. Manchmal für längere Zeit. Nach
Osten, über die Landesgrenze, nach Warschau oder Kwiatonowice, in den
hintersten Zipfel Europas. Oder nach Süden, in die Schweiz – ein Land, in dem
es vor lauter Bergen keinen Wind mehr gibt. Nicht nur deshalb atme ich immer
erleichtert auf, wenn ich am neuen Bahnsteig ankomme. Meldorf ist eine
lebenswerte Stadt, weil es hier keine Berge gibt und nichts dem Wind im Wege
steht.
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