Mein 144 Wörter-Urtext zum längsten Tag des Jahres:
Wer nie das Watt knistern hörte, nie zähflüssigen Schlick zwischen den Zehen spürte, nie bei Seichtwassertide Löffler pendeln sah, der hat etwas verpasst in seinem Leben. Über die Strömungsrippeln auf dem trockengefallenen Meeresboden können wir in der Meldorfer Bucht so weit hinauslaufen, bis die Erdkrümmung hervorkommt, das Hinterland jenseits des grünen Deichs Kopf steht und die Weidenbüsche im Kronenloch vergeblich dem ablandigen Wind widerstehen. Statt Sand lieben wir am Wattenmeer Schafe. Sie halten die Grasnarbe kurz und bewahren unsere Häuser auf dem Geestsporn vor Überflutungen. Wir bewundern die Raspelzunge der Wattschnecken, den Orientierungssinn lichtscheuer Sandlückenbewohner und Seelavendel, der die kompliziertesten Salzdrüsen der ganzen Schöpfung besitzt! Wer nie über Treibsandteppiche floh, nie die Ekstase ruffreudiger Austernfischer bei der Jagd auf Herzmuscheln am Wassersaum erlebte, nie in einer Vollmondnacht bei Springhochwasser nackt in der thermisch geschichteten Nordsee badete, der hat noch etwas vor in seinem Leben.
© Judith Arlt 2014
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