Freitag, 27. Juni 2008

Vogelschutzhallig

Seit einigen Jahren besitze ich zwei Lieblingsbücher. Es ist nie ein drittes dazu gekommen, kein viertes hat sie übertroffen, kein fünftes, kein sechstes … Nichts.
Meine Lieblingsbücher sind, und das zeichnet vielleicht ihr Wesen aus, nicht in die allgemeine Systematik unserer Bücherregale einzuordnen. Manche Bücher lassen sich einfach alphabetisch sortieren (z.B. deutsch- oder fremdsprachige Belletristik, Künstlermonographien von Caravaggio über Hopper bis Lee Ufan, usw.), andere lassen sich gut thematisch sortieren (z.B. Gartenbaukunstbücher, Fachwörterbücher des Jagd- oder Bauingenieurswesens, Reisebücher, Chaostheoriebücher, Flugpionierbücher, Stadtpläne, usw.), wieder andere lassen sich hervorragend monothematisch sortieren (z.B. „Winnie-the-Pooh“ in allen Sprachen der Welt, Konwickis „Apokalypse“ in allen Sprachen der Welt, Macchiavellis „Il Principe“ in allen Sprachen der Welt, die Bibel in allen Sprachen der Welt usw. – und last but no least, unsere eigenen Veröffentlichungen, ein halbes Regal eintöniges „A“ wie Autor).

Meine beiden Lieblingsbücher stehen abseits. Ich verrate nicht, wo. Einmal, vor Jahren, lieh ich eines aus, einer kranken Freundin, um ihr, wie ich meinte, Mut zu machen. Ich verrate, welches: Ulla-Lena Landberg, Sibirien: Selbstporträt mit Flügeln. Sie gab es mir nach wenigen Tagen zurück. Jeder Kranke hat unendlich viel Zeit. Im Bett sind alle Bücher zu kurz. Sie sei enttäuscht, sagte sie mir. Alle Kranken sind wie Kinder unausstehlich aufrichtig. Sie habe, gestand sie mir, in dem Text nur die Antwort auf die Frage gesucht, weshalb dies mein Lieblingsbuch sei. Und nicht gefunden. Deshalb sei sie enttäuscht. Aber darum ging es doch gar nicht, protestierte ich. Sie zuckte bedauernd mit den Schultern.

Heute, Jahre später, fand ich unverhofft die Landschaft zu diesem, meinem einen wichtigen Lieblingsbuch. Weit draußen im nordfriesischen Wattenmeer auf der Vogelhallig Norderoog vor Hooge. Dort, wo nur noch Schwarzkopfmöwen, Alpenstrandläufer, Dreizehenmöwen, Flussseeschwalben, Eiderenten, Basstölpel, Schmarotzerraubmöwen, Küstenseeschwalben, Brandgänse, Trottellumme und vielleicht die Trauerente Melanitta nigra brüten. Obwohl ich nie im Traum daran gedacht hatte, die Landschaft zu irgendeinem Buch, geschweige denn ausgerechnet zu diesem finden oder suchen zu müssen. Bücher sind, wie ich meinte, zu Hause zu Hause. Oder in Sibirien. Unter einem Dach. Im Trockenen. Nach über drei Stunden Wanderung auf bloßen Füßen durchs Watt fand ich heute das, wovon ich gar nicht ahnte, dass ich es gesucht haben könnte. Die Sehnsucht nach einem Text. Das Heimweh einer Reisebeschreibung. Die Rückverwandlung eines Wortes in die Wirklichkeit.

Ich werde mich als Vogelwartin beim Verein Jordsand bewerben. Ich werde den Rest meines Lebens auf Habel zubringen wollen. Ich werde in eine Hütte auf einer Pfahlkonstruktion ziehen mit Hunderttausenden ekstatisch lärmenden Vögeln. Ich werde Statistiken führen. Ich werde das Verschwinden der Silbermöwen auflisten, die Abgänge der Mantelmöwen. Ich werde die Bestandsveränderungen fischfressender Seevögel festhalten. Ich werde die Auswirkungen der Windkraftanlagen auf die Sterntaucher protokollieren. Ich werde regelmäßig die Halligkanten befestigen, zwei Reihen mannshoher Pfähle bis auf 80 cm vor der Hallig in den Wattboden rammen, Faschinen dazwischen pressen und dieses Reisiggeflecht mit Spanndraht befestigten. Die kleinen Flutwellen werden sich an diesen Lahnungen beruhigen und die Halligkante nicht mehr abbrechen. Ich werde alles in Abstimmung mit den Fachleuten vom Marschbauamt tun. Ich werde nur das von ihnen zur Verfügung gestellte Material verwenden. Ich werde auch neuere Lahnungsbauvarianten ausprobieren. Ich werde eine Brandseeschwalbenkolonie erhalten. Und ich werde Empfehlungen aussprechen. Die Lebensraumverluste und Kollisionsrisiken in der Nähe von Offshore-Windparks können für Flugvögel erheblich verringert werden, wenn in Nächten mit vorhersehbar starkem Vogelzug die Turbinen abgeschaltet werden. Radarbeobachtungen und Wärmebildkameras machen längst deutlich, dass sich der Vogelzug wetterbedingt auf sehr wenige, besonders geeignete Nächte konzentriert. Dann fliegen zwei Drittel der Vögel in Höhe der Windkraftanlagen über die See. Nach zwei starken Zugnächten wurden letztes Jahre auf einem Messturm vor Japsand mehr als 200 tote Vögel gefunden. Fachleute behaupten, dass schon eine um mehr als 0,3 Prozent erhöhte Todesrate die Population langlebiger Arten nachhaltig verringern könne.

Luftaufnahmen von Halligen siehe hier:
http://www.kuestenforum.de/forum2/showthread.php?t=3478

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