In Meldorf stellt der Optiker Modelleisenbahnen ins Schaufenster, der Schreibwarenhändler verkauft Damenober- und -unterbekleidung und im gläsernen Gewächshaus der Gärtnerei gibt es freitags Jazz.
Das erste Konzert war angekündigt für den letzten Freitag im Juni. Da sind wir, W. und ich, uns ganz sicher. Wir hatten Besuch, waren unterwegs und bedauerten. Wie erfreut waren wir deshalb, als wir Anfang Juli ein neues Plakat bei der Fußgänger- und Fahrradampel an der Oesterstrasse vor dem für Zweiräder gesperrten Sprung über die Bahn entdeckten. Jazz in der Gärtnerei am letzten Freitagabend im Juli – also heute.
Heute sind wir nicht verhindert und verstehen. Wir verstehen, warum es in Meldorf Jazz in der Gärtnerei gibt. Warum Miniaturlokomotiven geschickt ihre Wege an Brillenetuis, bunten Kinder- oder zusammenfaltbaren Lesebrillen sowie Kontaktlinsenreinigungslösungen vorbei durch ein Schaufenster ziehen. Warum luftige Sommerkleider an einem Ständer neben Beileidskarten und Kopierpapier hängen. Der Gärtner ist ein begeisterter Musiker! Der Optiker wahrscheinlich ein begeisterter Modelleisenbahnbauer! Und der Schreibwarenhändler in Wirklichkeit ein begeisterter Frauenausstatter!
Und wir verstehen nicht. Nein, sagt der Gitarrist. Wir machen das nur einmal im Sommer. Wir spielen nur eine Freitagnacht im Gewächshaus. W. und ich schweigen. Wir leben schon über ein Jahr in Meldorf. Warum also sollen sich nicht auch in unseren Köpfen Parallelwelten aufgetan haben, wenn sie in jeder Auslage in der Fußgängerzone Platz finden?
Früher habe er, erzählt uns der Gärtner in der ersten Konzertpause und zieht an einer Zigarette, Schlager gespielt. Mit zunehmendem Alter beschäftige er sich aber mit ernsthafterer Musik. Mich interessiert der Rauch. Mehr als das E oder das U in der Musik. Mein Name ist Schall und Rauch. Und mein Bewusstsein ist gerade erweitert worden. Durch einen einfachen Satz eines Gärtner verteilt sich ab sofort meine Wahrnehmung auf zwei Wirklichkeiten. Ich lebe nun in einer Welt, in der einmal jährlich an einem Freitagabend Jazz in der Gärtnerei gespielt wird. Und ich lebe gleichzeitig in einer Welt, in der mehrmals jährlich, vielleicht einmal monatlich, mag sein sogar täglich die Gärtnerei für Jazz am Abend offen ist. Die Gärtnerei ist keine Kneipe, das ist klar. In keiner der beiden parallelen Welten ist die Gärtnerei eine Kneipe. Also gibt es nirgends im Universum ein Rauchverbot in Gärtnereien. Die Meldorfer Gärtnerei, der Verkaufsraum und die gläsernen Gewächshäuser sind zu dieser Jahreszeit nach allen Seiten hin offen. So wie die Damensommerkostüme von der Stange im Schreibwarenladen oder beim Frauenausstatter (ein Beruf, der in der einen Welt existiert und in der anderen nicht). Und wir, die Zuhörer von „Jazz in der Gärtnerei“ bilden innerhalb dieses gut durchlüfteten Raums eine geschlossene Gesellschaft. Dennoch interessiert mich der Rauch. Ob der Nikotinrauch seinen Pflanzen nicht schade, frage ich den Gärtner. Der Jazzgitarrist lacht. Dabei spreche ich die dringlicheren Fragen gar nicht aus, sondern behalte sie für mich bzw. spare sie auf für eine andere Welt. Etwa, ob Pflanzen Musik lieben. Oder ob Pflanzen Hände haben. Ob Pflanzen Augen haben. Ob Pflanzen lichtempfindlich sind. Ob Pflanzen lärmempfindlich sind. Ob Pflanzen auch mal Fäuste oder Ellbogen brauchen. Ob Pflanzen mit Geräuschschützern aus der Apotheke, die bestimmt auch Knallfrösche im Angebot hat, ausgestattet werden. Oder ob Pflanzen Brillen für dreidimensionales Sehen aufsetzten. Ob der Modelleisenbahnoptiker der Pflanzen Sehschärfe regelmäßig überprüft. Und so weiter. Ganz zu schweigen vom Zahnarzt. Nein, ich frage nicht, ob im Gewächshaus auf Mundhygiene geachtet wird. Ich frage nicht, ob Pflanzen an Schlafstörungen leiden. Ob Pflanzen nach einer durchwachten Nacht auch mal schlecht gelaunt und leicht reizbar sind. Und so fort. Diese Fragen werde ich einem Parallelgärtner stellen. Den Jazzgärtner frage ich nur nach den Auswirkungen des Zigaretten- oder Zigarrenrauchs. Und dieser Gärtner bricht in dieser Welt einfach in ein fröhliches Lachen aus. Nein, bisher habe er nie etwas Nachteiliges an seinen Schützlingen bemerkt, erklärt er. Aber, fügt er hinzu, als Gitarrist hätte er den denkbar ungünstigsten Beruf. Als Gärtner sei es relativ egal, welchem Hobby man nachgehe. Aber als Gitarrist brauche er robuste Haut gerade an den Fingerkuppen. Im Idealfall dicke Hornhaut. Gärtnerhände seien hingegen ständig Feuchtigkeit ausgesetzt. Die Pflanzen, die Blumen, die Sträucher, alles was lebe und wachse, brauche Flüssigkeit, Nahrung, Wasser. An den Berührungspunkten zwischen Setzlingen und Mensch, an den Fingerspitzen des Gärtners, könne es zu Beeinträchtigungen kommen. Die Haut des Gärtners würde zuerst an den Fingerspitzen weich werden und aufquellen. Die Grenzen seines Körpers, sagt der Gärtner und drückt die Zigarette in einem extra dafür vorgesehenen, mit Sand gefüllten Blumentopf aus, würden sich ausgerechnet dort, wo der Gitarrist maximale Festigkeit braucht, als erstes auflösen.
Sein Kollege, der weißhaarige Trompeter, verkündet das Ende der Pause. Und weiter geht das Programm bis zu einem frühen Morgen.
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