Samstag, 12. Juli 2014

Anbaden

Vollmond, Hochwasser, Sonne, ein ungewöhnlich sanfter Wind. Mein erster Sprung ins Wattenmeer in diesem Jahr. Kürzlich bezeichnete jemand die Meldorfer Bucht despektierlich als "Pfütze". Der hat hier noch nie gebadet!
Ich schwimme eine halbe Stunde. Dann liege ich zwei Stunden auf dem grünen Strand und lese in dem Geschenk, das mir der Briefträger gestern über den Gartenzaun gereicht hat. Wojteks Buch über den Eisenbahnrealismus in der Literatur. Ich lese das "Schweizer" Kapitel. Tunnelvisionen. Und staune und staune, lese, fasziniert, sprachlos, überwältigt, vergesse, dass ich mit nacktem Hintern am fkk-Strand liege und fasse es nicht ... Polen kennt keine "Tunnelliteratur", hat keine "Tunneltradition", die berühmtesten "Tunneltexte" der Weltliteratur, The Signalman von Charles Dickens (1866) sowie Der Tunnel von Friedrich Dürrenmatt sind bis heute nicht ins Polnische übersetzt. In der polnischen Literatur gibt es eine einzige Eisenbahntunnel-Erzählung, Przypowieść o kręcie tunelowym von Stefan Grabiński (1926), vergessen, verschmäht, verdrängt. Der Autor, mein Freund Wojtek spricht von "beharrlicher translatorischer Diskriminierung" - und erklärt diese mit dem Tunnel, der nie Eingang in die polnische Kultur, in die symbolischen Raumvorstellungen der Polen Eingang gefunden habe. Unter der Erde befinden sich in Polen die Kumpels der Kohlebergwerke - und die geschlagenen Partisanen des Warschauer Aufstands. Nicht aber, niemals Reisende. Höchstinteressant!

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